hochstämmige Waldungen, in welchen es aber nicht gänzlich an Unterholz fehlt, bevorzugt er allen übrigen Oertlichkeiten: hier kann er zuweilen gemein sein. Er scheut die Nähe des Menschen nicht und findet sich vor den Thoren der Städte oder in den belaubten Spaziergängen derselben ebenso zahlreich, wie im einsamen Walde. Jm Sommer treibt er sich in einem sehr kleinen Gebiet umher: eine einzige Eiche kann ihn stundenlang fesseln und ihm volle Beschäftigung geben. Jm Herbst ergreift auch ihn der Reisedrang, und er dehnt dann seine Streifereien etwas weiter aus. Unter allen Umständen hält er sich an die Bäume, und nur im äußersten Nothfall entschließt er sich, eine baum- leere Strecke zu überfliegen.
Am Kleiber muß Jedermann sein Wohlgefallen haben. Er zeichnet sich durch seine Regsamkeit und Anspruchslosigkeit vor vielen andern Vögeln aus. Keinen Augenblick ist er ruhig. "Bald hüpft er an einem Baume hinauf", sagt mein Vater, "bald an ihm herab, bald um ihn herum, bald läuft er
[Abbildung]
Der Kleiber oder Blauspecht(Sitta caesia).
auf den Aesten vor oder hängt sich an sie an, bald spaltet er ein Stückchen Rinde ab, bald hackt er, bald fliegt er: Dies geht ununterbrochen in Einem fort, sodaß er nur, um seine Stimme hören zu lassen, zuweilen etwas ausruht. Seine Stellung ist gedrückt, er zieht fast immer den Hals ein, die Füße an und trägt die weichen und langen Federn, locker auf einander liegend, wodurch er ein plumpes und ungeschicktes Ansehen erhält. Daß er diesem Ansehen nicht entspricht, haben wir oben gesehen. Sein Flug ist leicht, doch nicht sehr schnell, mit stark ausgebreiteten Schwingen und starker Flügel- bewegung, nicht selten flatternd. Er fliegt gewöhnlich nicht weit in einem Zuge; daran ist aber nicht Unvermögen, sondern der Umstand schuld, daß er, um von einem Baume zum andern zu kommen, selten eine große Strecke in der Luft auszuführen braucht. Daß ihm der Flug nicht sauer wird, sieht man deutlich daran, daß er sehr oft um die Wipfel der Bäume und ohne erkennbare Ursache zuweilen von einem Berge zum andern fliegt. Auf dem Striche legt er oft eine Strecke von einer Viertelstunde Wegs, ohne sich niederzusetzen, zurück... Zuweilen klettert er lange Zeit hoch auf den Bäumen
Die Späher. Klettervögel. Spechtmeiſen.
hochſtämmige Waldungen, in welchen es aber nicht gänzlich an Unterholz fehlt, bevorzugt er allen übrigen Oertlichkeiten: hier kann er zuweilen gemein ſein. Er ſcheut die Nähe des Menſchen nicht und findet ſich vor den Thoren der Städte oder in den belaubten Spaziergängen derſelben ebenſo zahlreich, wie im einſamen Walde. Jm Sommer treibt er ſich in einem ſehr kleinen Gebiet umher: eine einzige Eiche kann ihn ſtundenlang feſſeln und ihm volle Beſchäftigung geben. Jm Herbſt ergreift auch ihn der Reiſedrang, und er dehnt dann ſeine Streifereien etwas weiter aus. Unter allen Umſtänden hält er ſich an die Bäume, und nur im äußerſten Nothfall entſchließt er ſich, eine baum- leere Strecke zu überfliegen.
Am Kleiber muß Jedermann ſein Wohlgefallen haben. Er zeichnet ſich durch ſeine Regſamkeit und Anſpruchsloſigkeit vor vielen andern Vögeln aus. Keinen Augenblick iſt er ruhig. „Bald hüpft er an einem Baume hinauf“, ſagt mein Vater, „bald an ihm herab, bald um ihn herum, bald läuft er
[Abbildung]
Der Kleiber oder Blauſpecht(Sitta caesia).
auf den Aeſten vor oder hängt ſich an ſie an, bald ſpaltet er ein Stückchen Rinde ab, bald hackt er, bald fliegt er: Dies geht ununterbrochen in Einem fort, ſodaß er nur, um ſeine Stimme hören zu laſſen, zuweilen etwas ausruht. Seine Stellung iſt gedrückt, er zieht faſt immer den Hals ein, die Füße an und trägt die weichen und langen Federn, locker auf einander liegend, wodurch er ein plumpes und ungeſchicktes Anſehen erhält. Daß er dieſem Anſehen nicht entſpricht, haben wir oben geſehen. Sein Flug iſt leicht, doch nicht ſehr ſchnell, mit ſtark ausgebreiteten Schwingen und ſtarker Flügel- bewegung, nicht ſelten flatternd. Er fliegt gewöhnlich nicht weit in einem Zuge; daran iſt aber nicht Unvermögen, ſondern der Umſtand ſchuld, daß er, um von einem Baume zum andern zu kommen, ſelten eine große Strecke in der Luft auszuführen braucht. Daß ihm der Flug nicht ſauer wird, ſieht man deutlich daran, daß er ſehr oft um die Wipfel der Bäume und ohne erkennbare Urſache zuweilen von einem Berge zum andern fliegt. Auf dem Striche legt er oft eine Strecke von einer Viertelſtunde Wegs, ohne ſich niederzuſetzen, zurück... Zuweilen klettert er lange Zeit hoch auf den Bäumen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0050"n="38"/><fwplace="top"type="header">Die Späher. Klettervögel. Spechtmeiſen.</fw><lb/>
hochſtämmige Waldungen, in welchen es aber nicht gänzlich an Unterholz fehlt, bevorzugt er allen<lb/>
übrigen Oertlichkeiten: hier kann er zuweilen gemein ſein. Er ſcheut die Nähe des Menſchen nicht<lb/>
und findet ſich vor den Thoren der Städte oder in den belaubten Spaziergängen derſelben ebenſo<lb/>
zahlreich, wie im einſamen Walde. Jm Sommer treibt er ſich in einem ſehr kleinen Gebiet umher:<lb/>
eine einzige Eiche kann ihn ſtundenlang feſſeln und ihm volle Beſchäftigung geben. Jm Herbſt<lb/>
ergreift auch ihn der Reiſedrang, und er dehnt dann ſeine Streifereien etwas weiter aus. Unter allen<lb/>
Umſtänden hält er ſich an die Bäume, und nur im äußerſten Nothfall entſchließt er ſich, eine baum-<lb/>
leere Strecke zu überfliegen.</p><lb/><p>Am Kleiber muß Jedermann ſein Wohlgefallen haben. Er zeichnet ſich durch ſeine Regſamkeit<lb/>
und Anſpruchsloſigkeit vor vielen andern Vögeln aus. Keinen Augenblick iſt er ruhig. „Bald hüpft<lb/>
er an einem Baume hinauf“, ſagt mein Vater, „bald an ihm herab, bald um ihn herum, bald läuft er<lb/><figure><head><hirendition="#c"><hirendition="#g">Der Kleiber oder Blauſpecht</hi><hirendition="#aq">(Sitta caesia).</hi></hi></head></figure><lb/>
auf den Aeſten vor oder hängt ſich an ſie an, bald ſpaltet er ein Stückchen Rinde ab, bald hackt er,<lb/>
bald fliegt er: Dies geht ununterbrochen in Einem fort, ſodaß er nur, um ſeine Stimme hören zu<lb/>
laſſen, zuweilen etwas ausruht. Seine Stellung iſt gedrückt, er zieht faſt immer den Hals ein, die<lb/>
Füße an und trägt die weichen und langen Federn, locker auf einander liegend, wodurch er ein plumpes<lb/>
und ungeſchicktes Anſehen erhält. Daß er dieſem Anſehen nicht entſpricht, haben wir oben geſehen.<lb/>
Sein Flug iſt leicht, doch nicht ſehr ſchnell, mit ſtark ausgebreiteten Schwingen und ſtarker Flügel-<lb/>
bewegung, nicht ſelten flatternd. Er fliegt gewöhnlich nicht weit in einem Zuge; daran iſt aber nicht<lb/>
Unvermögen, ſondern der Umſtand ſchuld, daß er, um von einem Baume zum andern zu kommen,<lb/>ſelten eine große Strecke in der Luft auszuführen braucht. Daß ihm der Flug nicht ſauer wird, ſieht<lb/>
man deutlich daran, daß er ſehr oft um die Wipfel der Bäume und ohne erkennbare Urſache zuweilen<lb/>
von einem Berge zum andern fliegt. Auf dem Striche legt er oft eine Strecke von einer Viertelſtunde<lb/>
Wegs, ohne ſich niederzuſetzen, zurück... Zuweilen klettert er lange Zeit hoch auf den Bäumen<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[38/0050]
Die Späher. Klettervögel. Spechtmeiſen.
hochſtämmige Waldungen, in welchen es aber nicht gänzlich an Unterholz fehlt, bevorzugt er allen
übrigen Oertlichkeiten: hier kann er zuweilen gemein ſein. Er ſcheut die Nähe des Menſchen nicht
und findet ſich vor den Thoren der Städte oder in den belaubten Spaziergängen derſelben ebenſo
zahlreich, wie im einſamen Walde. Jm Sommer treibt er ſich in einem ſehr kleinen Gebiet umher:
eine einzige Eiche kann ihn ſtundenlang feſſeln und ihm volle Beſchäftigung geben. Jm Herbſt
ergreift auch ihn der Reiſedrang, und er dehnt dann ſeine Streifereien etwas weiter aus. Unter allen
Umſtänden hält er ſich an die Bäume, und nur im äußerſten Nothfall entſchließt er ſich, eine baum-
leere Strecke zu überfliegen.
Am Kleiber muß Jedermann ſein Wohlgefallen haben. Er zeichnet ſich durch ſeine Regſamkeit
und Anſpruchsloſigkeit vor vielen andern Vögeln aus. Keinen Augenblick iſt er ruhig. „Bald hüpft
er an einem Baume hinauf“, ſagt mein Vater, „bald an ihm herab, bald um ihn herum, bald läuft er
[Abbildung Der Kleiber oder Blauſpecht (Sitta caesia).]
auf den Aeſten vor oder hängt ſich an ſie an, bald ſpaltet er ein Stückchen Rinde ab, bald hackt er,
bald fliegt er: Dies geht ununterbrochen in Einem fort, ſodaß er nur, um ſeine Stimme hören zu
laſſen, zuweilen etwas ausruht. Seine Stellung iſt gedrückt, er zieht faſt immer den Hals ein, die
Füße an und trägt die weichen und langen Federn, locker auf einander liegend, wodurch er ein plumpes
und ungeſchicktes Anſehen erhält. Daß er dieſem Anſehen nicht entſpricht, haben wir oben geſehen.
Sein Flug iſt leicht, doch nicht ſehr ſchnell, mit ſtark ausgebreiteten Schwingen und ſtarker Flügel-
bewegung, nicht ſelten flatternd. Er fliegt gewöhnlich nicht weit in einem Zuge; daran iſt aber nicht
Unvermögen, ſondern der Umſtand ſchuld, daß er, um von einem Baume zum andern zu kommen,
ſelten eine große Strecke in der Luft auszuführen braucht. Daß ihm der Flug nicht ſauer wird, ſieht
man deutlich daran, daß er ſehr oft um die Wipfel der Bäume und ohne erkennbare Urſache zuweilen
von einem Berge zum andern fliegt. Auf dem Striche legt er oft eine Strecke von einer Viertelſtunde
Wegs, ohne ſich niederzuſetzen, zurück... Zuweilen klettert er lange Zeit hoch auf den Bäumen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 4. Hildburghausen, 1867, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben04_1867/50>, abgerufen am 03.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.