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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 5. Hildburghausen, 1869.

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Allgemeines.
Schuppen. Das Klettern ist eben auch nur ein Kriechen an senkrechten Flächen. Ein Baum-
stamm, welcher der Schlange gestattet, ihn zu umwinden, verursacht ihr, falls seine Rinde nicht sehr
glatt ist, durchaus keine Schwierigkeit: sie gleitet an ihm in schraubenförmigen Windungen, selbst-
verständlich unter fortwährend schlängelnder Bewegung, sehr rasch empor, da sie sich gegen das
Herabrutschen durch die scharfen Hinterränder der Bauchschilder genügend sichern kann. Auf den
Aesten selbst schlängelt sie sich beinah mit derselben Sicherheit und Eilfertigkeit fort als auf ebenem
Boden, insbesondere dann, wenn das Gezweige dicht ist. Genau dieselbe Bewegung führt sie auch
beim Schwimmen aus, obgleich sich nicht beurtheilen läßt, in wieweit ihr hierbei die Rippen Dienste
leisten. Alle Arten der Ordnung sind fähig zu schwimmen, aber diejenigen, welche für gewöhnlich
nicht das Wasser aufsuchen oder in ihm leben, scheinen durch die Bewegung in ihm sehr bald ermüdet
zu werden. Bei den eigentlichen Seeschlangen, deren Schwanz seitlich abgeplattet und durch Haut-
säume noch verbreitert ist, gleicht die Schwimmbewegung mehr der eines Aales als der anderer
Ordnungsverwandten.

"Wenige Thiere", versichert Lacepede, "sind so schnell wie die Schlangen. Wenn sie sich auf
ihre Beute stürzen oder vor einem Feinde fliehen, gleichen sie dem Pfeile, welchen ein kräftiger Arm
vorwärts schleudert; jeder einzelne Theil wirkt dann wie eine Stahlfeder, welche gewaltig losschnellt.
Sie scheinen unaufhörlich von Allem, was sie berühren, zurückgestoßen zu werden, durch die Luft zu
fliegen und die Erde nur zu streifen. Bis zu den höchsten Spitzen der Bäume empor gelangen sie
schneller als ein Vogel: sie ringeln sich mit solcher Geschwindigkeit an Stämmen und Aesten hinauf
und herab, daß das Auge ihnen kaum folgen kann." Diese Auslassung erinnert noch sehr an die
übertriebenen Schilderungen der Alten; denn keine einzige Schlange bewegt sich wirklich so, wie der
Franzose es glauben machen will. "Da die schlängelnde Bewegung", berichtigt Lenz, "dem Auge
ein unsicheres Bild darbietet und wenige Menschen sich die Mühe geben, ihre Schnelligkeit näher zu
beobachten, so ist man allgemein überzeugt, daß letztere sehr groß sei; keine Schlange aber läuft
so schnell, daß man nicht, ohne zu laufen, nur mit starken Schritten nebenher gehen könnte. Ver-
hältnißmäßig sind sie langsamer als Eidechsen, Frösche, Mäuse und dergleichen. Auf Mos und
kurzer Haide laufen sie am schnellsten, weil hier die Elasticität der Unterlage mithilft, weniger schnell
auf dem Erdboden. Legt man sie auf eine Glasscheibe, so wird es ihnen sehr schwer, vorwärts zu
kommen. An steilen Bergwänden schießen sie gleichsam wie im Fluge hinab -- zuweilen so schnell,
daß man nicht einmal erkennen kann, von welcher Art und wie groß sie sind."

Wenige Schlangen sind im Stande, das vordere Dritttheil ihres Leibes aufzurichten; Abbil-
dungen, welche das Gegentheil vorstellen wollen, dürfen also ohne Bedenken als falsch bezeichnet
werden. Die meisten Schlangen erheben ihren Kopf kaum mehr als einen halben Fuß über den
Boden. Wenige, beispielsweise die Brillenschlange, machen hiervon eine Ausnahme; viele sind nicht
einmal im Stande, sich, wenn man sie am Schwanze packt und frei hängen läßt, so zu krümmen, daß
sie mit dem Kopfe die Hand oder den Arm erreichen. Ueberhaupt gibt es in der ganzen Ordnung
nur wenige Mitglieder, welche wirklich als schnelle, behende und gewandte Thiere bezeichnet werden
dürfen; denn weitaus die meisten sind langsam, träge und bis zu einem gewissen Grade schwerfällig.
Die Eigenthümlichkeit der Bewegung, das Schlängeln, täuscht auch den sorgfältigen Beobachter.

Wenden wir uns zur Beobachtung der Wirksamkeit der Organe, so erfahren wir, daß sich diese
Trägheit ebenfalls bemerklich macht. Ueber die Thätigkeit der Athmungswerkzeuge braucht nach dem
bereits Angegebenen Nichts mehr gesagt zu werden, und die Wirksamkeit der Verdauungswerkzeuge wird
später zu besprechen sein; wir dürfen also zunächst die Sinne ins Auge fassen. Auch für ihre Thätigkeit
gilt das eben Gesagte. Mit Ausnahme des Gefühls sind alle Sinne stumpf und schwach, und das
Gefühl selbst ist eben auch nur als Tastsinn entwickelt. Wir stimmen ebenfalls ein in die allgemeine
Würdigung der Schlangenzunge, obgleich wir sehr wohl wissen, daß ihre Bedeutung eine ganz andere
und in der That weit wichtigere ist, als die Alten wähnten. Allerdings können sich Schlangen
auch ohne Zunge behelfen, schwerlich jedoch so leicht ihre üblichen Verrichtungen ausführen, als

Brehm, Thierleben. V. 12

Allgemeines.
Schuppen. Das Klettern iſt eben auch nur ein Kriechen an ſenkrechten Flächen. Ein Baum-
ſtamm, welcher der Schlange geſtattet, ihn zu umwinden, verurſacht ihr, falls ſeine Rinde nicht ſehr
glatt iſt, durchaus keine Schwierigkeit: ſie gleitet an ihm in ſchraubenförmigen Windungen, ſelbſt-
verſtändlich unter fortwährend ſchlängelnder Bewegung, ſehr raſch empor, da ſie ſich gegen das
Herabrutſchen durch die ſcharfen Hinterränder der Bauchſchilder genügend ſichern kann. Auf den
Aeſten ſelbſt ſchlängelt ſie ſich beinah mit derſelben Sicherheit und Eilfertigkeit fort als auf ebenem
Boden, insbeſondere dann, wenn das Gezweige dicht iſt. Genau dieſelbe Bewegung führt ſie auch
beim Schwimmen aus, obgleich ſich nicht beurtheilen läßt, in wieweit ihr hierbei die Rippen Dienſte
leiſten. Alle Arten der Ordnung ſind fähig zu ſchwimmen, aber diejenigen, welche für gewöhnlich
nicht das Waſſer aufſuchen oder in ihm leben, ſcheinen durch die Bewegung in ihm ſehr bald ermüdet
zu werden. Bei den eigentlichen Seeſchlangen, deren Schwanz ſeitlich abgeplattet und durch Haut-
ſäume noch verbreitert iſt, gleicht die Schwimmbewegung mehr der eines Aales als der anderer
Ordnungsverwandten.

„Wenige Thiere“, verſichert Lacepede, „ſind ſo ſchnell wie die Schlangen. Wenn ſie ſich auf
ihre Beute ſtürzen oder vor einem Feinde fliehen, gleichen ſie dem Pfeile, welchen ein kräftiger Arm
vorwärts ſchleudert; jeder einzelne Theil wirkt dann wie eine Stahlfeder, welche gewaltig losſchnellt.
Sie ſcheinen unaufhörlich von Allem, was ſie berühren, zurückgeſtoßen zu werden, durch die Luft zu
fliegen und die Erde nur zu ſtreifen. Bis zu den höchſten Spitzen der Bäume empor gelangen ſie
ſchneller als ein Vogel: ſie ringeln ſich mit ſolcher Geſchwindigkeit an Stämmen und Aeſten hinauf
und herab, daß das Auge ihnen kaum folgen kann.“ Dieſe Auslaſſung erinnert noch ſehr an die
übertriebenen Schilderungen der Alten; denn keine einzige Schlange bewegt ſich wirklich ſo, wie der
Franzoſe es glauben machen will. „Da die ſchlängelnde Bewegung“, berichtigt Lenz, „dem Auge
ein unſicheres Bild darbietet und wenige Menſchen ſich die Mühe geben, ihre Schnelligkeit näher zu
beobachten, ſo iſt man allgemein überzeugt, daß letztere ſehr groß ſei; keine Schlange aber läuft
ſo ſchnell, daß man nicht, ohne zu laufen, nur mit ſtarken Schritten nebenher gehen könnte. Ver-
hältnißmäßig ſind ſie langſamer als Eidechſen, Fröſche, Mäuſe und dergleichen. Auf Mos und
kurzer Haide laufen ſie am ſchnellſten, weil hier die Elaſticität der Unterlage mithilft, weniger ſchnell
auf dem Erdboden. Legt man ſie auf eine Glasſcheibe, ſo wird es ihnen ſehr ſchwer, vorwärts zu
kommen. An ſteilen Bergwänden ſchießen ſie gleichſam wie im Fluge hinab — zuweilen ſo ſchnell,
daß man nicht einmal erkennen kann, von welcher Art und wie groß ſie ſind.“

Wenige Schlangen ſind im Stande, das vordere Dritttheil ihres Leibes aufzurichten; Abbil-
dungen, welche das Gegentheil vorſtellen wollen, dürfen alſo ohne Bedenken als falſch bezeichnet
werden. Die meiſten Schlangen erheben ihren Kopf kaum mehr als einen halben Fuß über den
Boden. Wenige, beiſpielsweiſe die Brillenſchlange, machen hiervon eine Ausnahme; viele ſind nicht
einmal im Stande, ſich, wenn man ſie am Schwanze packt und frei hängen läßt, ſo zu krümmen, daß
ſie mit dem Kopfe die Hand oder den Arm erreichen. Ueberhaupt gibt es in der ganzen Ordnung
nur wenige Mitglieder, welche wirklich als ſchnelle, behende und gewandte Thiere bezeichnet werden
dürfen; denn weitaus die meiſten ſind langſam, träge und bis zu einem gewiſſen Grade ſchwerfällig.
Die Eigenthümlichkeit der Bewegung, das Schlängeln, täuſcht auch den ſorgfältigen Beobachter.

Wenden wir uns zur Beobachtung der Wirkſamkeit der Organe, ſo erfahren wir, daß ſich dieſe
Trägheit ebenfalls bemerklich macht. Ueber die Thätigkeit der Athmungswerkzeuge braucht nach dem
bereits Angegebenen Nichts mehr geſagt zu werden, und die Wirkſamkeit der Verdauungswerkzeuge wird
ſpäter zu beſprechen ſein; wir dürfen alſo zunächſt die Sinne ins Auge faſſen. Auch für ihre Thätigkeit
gilt das eben Geſagte. Mit Ausnahme des Gefühls ſind alle Sinne ſtumpf und ſchwach, und das
Gefühl ſelbſt iſt eben auch nur als Taſtſinn entwickelt. Wir ſtimmen ebenfalls ein in die allgemeine
Würdigung der Schlangenzunge, obgleich wir ſehr wohl wiſſen, daß ihre Bedeutung eine ganz andere
und in der That weit wichtigere iſt, als die Alten wähnten. Allerdings können ſich Schlangen
auch ohne Zunge behelfen, ſchwerlich jedoch ſo leicht ihre üblichen Verrichtungen ausführen, als

Brehm, Thierleben. V. 12
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[177/0197] Allgemeines. Schuppen. Das Klettern iſt eben auch nur ein Kriechen an ſenkrechten Flächen. Ein Baum- ſtamm, welcher der Schlange geſtattet, ihn zu umwinden, verurſacht ihr, falls ſeine Rinde nicht ſehr glatt iſt, durchaus keine Schwierigkeit: ſie gleitet an ihm in ſchraubenförmigen Windungen, ſelbſt- verſtändlich unter fortwährend ſchlängelnder Bewegung, ſehr raſch empor, da ſie ſich gegen das Herabrutſchen durch die ſcharfen Hinterränder der Bauchſchilder genügend ſichern kann. Auf den Aeſten ſelbſt ſchlängelt ſie ſich beinah mit derſelben Sicherheit und Eilfertigkeit fort als auf ebenem Boden, insbeſondere dann, wenn das Gezweige dicht iſt. Genau dieſelbe Bewegung führt ſie auch beim Schwimmen aus, obgleich ſich nicht beurtheilen läßt, in wieweit ihr hierbei die Rippen Dienſte leiſten. Alle Arten der Ordnung ſind fähig zu ſchwimmen, aber diejenigen, welche für gewöhnlich nicht das Waſſer aufſuchen oder in ihm leben, ſcheinen durch die Bewegung in ihm ſehr bald ermüdet zu werden. Bei den eigentlichen Seeſchlangen, deren Schwanz ſeitlich abgeplattet und durch Haut- ſäume noch verbreitert iſt, gleicht die Schwimmbewegung mehr der eines Aales als der anderer Ordnungsverwandten. „Wenige Thiere“, verſichert Lacepede, „ſind ſo ſchnell wie die Schlangen. Wenn ſie ſich auf ihre Beute ſtürzen oder vor einem Feinde fliehen, gleichen ſie dem Pfeile, welchen ein kräftiger Arm vorwärts ſchleudert; jeder einzelne Theil wirkt dann wie eine Stahlfeder, welche gewaltig losſchnellt. Sie ſcheinen unaufhörlich von Allem, was ſie berühren, zurückgeſtoßen zu werden, durch die Luft zu fliegen und die Erde nur zu ſtreifen. Bis zu den höchſten Spitzen der Bäume empor gelangen ſie ſchneller als ein Vogel: ſie ringeln ſich mit ſolcher Geſchwindigkeit an Stämmen und Aeſten hinauf und herab, daß das Auge ihnen kaum folgen kann.“ Dieſe Auslaſſung erinnert noch ſehr an die übertriebenen Schilderungen der Alten; denn keine einzige Schlange bewegt ſich wirklich ſo, wie der Franzoſe es glauben machen will. „Da die ſchlängelnde Bewegung“, berichtigt Lenz, „dem Auge ein unſicheres Bild darbietet und wenige Menſchen ſich die Mühe geben, ihre Schnelligkeit näher zu beobachten, ſo iſt man allgemein überzeugt, daß letztere ſehr groß ſei; keine Schlange aber läuft ſo ſchnell, daß man nicht, ohne zu laufen, nur mit ſtarken Schritten nebenher gehen könnte. Ver- hältnißmäßig ſind ſie langſamer als Eidechſen, Fröſche, Mäuſe und dergleichen. Auf Mos und kurzer Haide laufen ſie am ſchnellſten, weil hier die Elaſticität der Unterlage mithilft, weniger ſchnell auf dem Erdboden. Legt man ſie auf eine Glasſcheibe, ſo wird es ihnen ſehr ſchwer, vorwärts zu kommen. An ſteilen Bergwänden ſchießen ſie gleichſam wie im Fluge hinab — zuweilen ſo ſchnell, daß man nicht einmal erkennen kann, von welcher Art und wie groß ſie ſind.“ Wenige Schlangen ſind im Stande, das vordere Dritttheil ihres Leibes aufzurichten; Abbil- dungen, welche das Gegentheil vorſtellen wollen, dürfen alſo ohne Bedenken als falſch bezeichnet werden. Die meiſten Schlangen erheben ihren Kopf kaum mehr als einen halben Fuß über den Boden. Wenige, beiſpielsweiſe die Brillenſchlange, machen hiervon eine Ausnahme; viele ſind nicht einmal im Stande, ſich, wenn man ſie am Schwanze packt und frei hängen läßt, ſo zu krümmen, daß ſie mit dem Kopfe die Hand oder den Arm erreichen. Ueberhaupt gibt es in der ganzen Ordnung nur wenige Mitglieder, welche wirklich als ſchnelle, behende und gewandte Thiere bezeichnet werden dürfen; denn weitaus die meiſten ſind langſam, träge und bis zu einem gewiſſen Grade ſchwerfällig. Die Eigenthümlichkeit der Bewegung, das Schlängeln, täuſcht auch den ſorgfältigen Beobachter. Wenden wir uns zur Beobachtung der Wirkſamkeit der Organe, ſo erfahren wir, daß ſich dieſe Trägheit ebenfalls bemerklich macht. Ueber die Thätigkeit der Athmungswerkzeuge braucht nach dem bereits Angegebenen Nichts mehr geſagt zu werden, und die Wirkſamkeit der Verdauungswerkzeuge wird ſpäter zu beſprechen ſein; wir dürfen alſo zunächſt die Sinne ins Auge faſſen. Auch für ihre Thätigkeit gilt das eben Geſagte. Mit Ausnahme des Gefühls ſind alle Sinne ſtumpf und ſchwach, und das Gefühl ſelbſt iſt eben auch nur als Taſtſinn entwickelt. Wir ſtimmen ebenfalls ein in die allgemeine Würdigung der Schlangenzunge, obgleich wir ſehr wohl wiſſen, daß ihre Bedeutung eine ganz andere und in der That weit wichtigere iſt, als die Alten wähnten. Allerdings können ſich Schlangen auch ohne Zunge behelfen, ſchwerlich jedoch ſo leicht ihre üblichen Verrichtungen ausführen, als Brehm, Thierleben. V. 12

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 5. Hildburghausen, 1869, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben05_1869/197>, abgerufen am 22.12.2024.