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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 5. Hildburghausen, 1869.

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Ein Blick auf das Leben der Gesammtheit.
der eigenen Kraft bei wenigen. Zur List, die noch durchaus nicht als Hochgeistigkeit gelten darf,
erhebt sich keines Kriechthieres Geist; von Anhänglichkeit zu irgend welchem anderen Thiere, von Liebe
zum anderen Geschlecht und zur Nachkommenschaft hat man mehr Rühmens gemacht, als man auf
Grund vorurtheilsfreier Beobachtungen zu machen berechtigt war." Wenn man absieht von dem Auf-
scharren der Löcher zur Aufnahme der Eier oder dem Zusammentragen von etwas Laub zu gleichem
Zwecke, bemerkt man bei ihnen keine Art von Kunsttrieb, wie sie höheren Thieren eigen ist. Sie lernen
es, sich an einem Orte passend einzurichten, indem sie sich geeignete Stellen zu ihrem Wohn- oder Ruhe-
sitze erwählen, beispielsweise sich in Löchern, Ritzen und Höhlungen überhaupt ansiedeln; sie gewöhnen
sich an eine solche Oertlichkeit und suchen sie nach ihren Raubzügen wieder auf: mit dem bewußten Bau-
graben und dem Hängen an solchen Wohnungen, wie wir Dies bei den Säugethieren beobachteten, mit
dem Nestbaue der Vögel kann Dies aber kaum verglichen werden, und ebenso wenig darf man die Für-
sorge, welche die Kriechthiere für ihre Nachkommenschaft zeigen, als gleichartig mit dem Fortpflanzungs-
geschäfte der Säugethiere und Vögel ansehen. Bei den höher stehenden Wirbelthieren werden die
Wohnsitze mit entschiedener Ueberlegung ausgewählt: das Kriechthier folgt einfach dem jeweiligen
Bedürfnisse und macht zwischen besseren und schlechteren Wohnplätzen kaum einen Unterschied. Scheu
und ängstlich wird es da, wo es Nachstellungen erfährt, mit der Zeit allerdings auch; aber selten
oder vielleicht nie lernt es zwischen wirklichen und eingebildeten Gefahren unterscheiden. Ein
Mensch, welcher sich vollkommen ruhig verhält, erregt selbst bei den höher stehenden Arten kaum
Beachtung, erscheint diesen vielmehr erst dann als Feind, wenn er sich bewegt oder ein Geräusch
verursacht. Die Krokodile im Nile haben eine dunkle Vorstellung von der Gefährlichkeit des Menschen
gewonnen, unterscheiden aber den ihnen ungefährlichen Schwarzen durchaus nicht von dem Weißen,
welcher keine Gelegenheit vorübergehen läßt, ihnen eine Kugel zuzusenden, während Säugethiere und
Vögel gerade in einer genauen Unterscheidung dieser beiden ihre geistige Begabung bekunden.
Die höheren Thiere ändern ihr Wesen nach den Umständen, lassen sich durch äußere Einwirkungen
erregen und zu verschiedenen Handlungen und geistigen Aeußerungen bestimmen, sind fröhlich, heiter,
lustig, zu Scherz und Spiel aufgelegt oder traurig, verdrießlich, mürrisch, je nach Umständen: bei den
Kriechthieren ist dies Alles nicht mehr der Fall. Keines von ihnen vergnügt und ergötzt sich durch
eigene, innere Geistesthätigkeit: es labt sich höchstens an Etwas, sei es an reichlichem Futter, sei es an
der wohlthätigen Wärme. Einzelne Schlangen sollen an Tönen Wohlbehagen finden, und ich selbst
habe gesehen, daß die egyptischen Schlangenbeschwörer bei den Klängen einer Pfeife solche sich auf-
richten und gewissermaßen tanzen ließen: inwieweit aber dieses Gebahren mit den Tönen zusammen-
hängt, oder ob überhaupt ein Zusammenhang vorhanden ist, Das wage ich nicht zu bestimmen. Von
jenem Entzücken und von jener Befriedigung, die gewisse Säugethiere beim Hören von Musik und
Gesang in unverkennbarer Weise an den Tag legen, dürfte bei den Kriechthieren schwerlich gesprochen
werden können, obwohl sich andererseits herauszustellen scheint, daß Sinnesreize noch mächtig genug
auf das wenige Hirn wirken. So hat man beobachtet, daß sie während der Begattung die Außen-
welt vollständig vergessen, daß sie taub und blind zu sein scheinen, die augenfälligsten Gefahren, welche
sie sonst meiden, nicht mehr beachten, kurz, ihr sonst übliches Benehmen gänzlich umändern. Hieraus
würde also hervorgehen, daß ein lebhafter Sinneseindruck zeitweilig die volle Hirnthätigkeit für sich
beansprucht, und eine solche Annahme scheint durchaus nicht ungerechtfertigt zu sein. Von einem
geistigen Leben ist kaum zu reden, von einem sinnlichen noch eher; doch läßt sich, wie bemerkt, ein
gewisses Ansammeln von Erfahrungen und ebenso eine geeignete Verwerthung derselben nicht in
Abrede stellen. Die Giftschlange ist sich ihrer tödtlichen Wasse wohl bewußt und wartet ruhig den
Erfolg der Wirkung ihres Giftes ab; die giftlose Schlange, die Schildkröte, das Krokodil, die Eidechse
schleicht sich an die Beute heran, verfolgt sie oder lauert von einem Hinterhalte auf dieselbe, schnellt
sich dann plötzlich hervor und versucht sie zu fassen; jedes Kriechthier endlich läßt sich in einem gewissen
Grade zähmen, d. h. nach und nach an den Menschen, welcher ihm Nahrung reicht, gewöhnen: es
unterscheidet aber nie zwischen dem Pfleger und einem anderen, sondern sieht in der ihm bekannt

Ein Blick auf das Leben der Geſammtheit.
der eigenen Kraft bei wenigen. Zur Liſt, die noch durchaus nicht als Hochgeiſtigkeit gelten darf,
erhebt ſich keines Kriechthieres Geiſt; von Anhänglichkeit zu irgend welchem anderen Thiere, von Liebe
zum anderen Geſchlecht und zur Nachkommenſchaft hat man mehr Rühmens gemacht, als man auf
Grund vorurtheilsfreier Beobachtungen zu machen berechtigt war.“ Wenn man abſieht von dem Auf-
ſcharren der Löcher zur Aufnahme der Eier oder dem Zuſammentragen von etwas Laub zu gleichem
Zwecke, bemerkt man bei ihnen keine Art von Kunſttrieb, wie ſie höheren Thieren eigen iſt. Sie lernen
es, ſich an einem Orte paſſend einzurichten, indem ſie ſich geeignete Stellen zu ihrem Wohn- oder Ruhe-
ſitze erwählen, beiſpielsweiſe ſich in Löchern, Ritzen und Höhlungen überhaupt anſiedeln; ſie gewöhnen
ſich an eine ſolche Oertlichkeit und ſuchen ſie nach ihren Raubzügen wieder auf: mit dem bewußten Bau-
graben und dem Hängen an ſolchen Wohnungen, wie wir Dies bei den Säugethieren beobachteten, mit
dem Neſtbaue der Vögel kann Dies aber kaum verglichen werden, und ebenſo wenig darf man die Für-
ſorge, welche die Kriechthiere für ihre Nachkommenſchaft zeigen, als gleichartig mit dem Fortpflanzungs-
geſchäfte der Säugethiere und Vögel anſehen. Bei den höher ſtehenden Wirbelthieren werden die
Wohnſitze mit entſchiedener Ueberlegung ausgewählt: das Kriechthier folgt einfach dem jeweiligen
Bedürfniſſe und macht zwiſchen beſſeren und ſchlechteren Wohnplätzen kaum einen Unterſchied. Scheu
und ängſtlich wird es da, wo es Nachſtellungen erfährt, mit der Zeit allerdings auch; aber ſelten
oder vielleicht nie lernt es zwiſchen wirklichen und eingebildeten Gefahren unterſcheiden. Ein
Menſch, welcher ſich vollkommen ruhig verhält, erregt ſelbſt bei den höher ſtehenden Arten kaum
Beachtung, erſcheint dieſen vielmehr erſt dann als Feind, wenn er ſich bewegt oder ein Geräuſch
verurſacht. Die Krokodile im Nile haben eine dunkle Vorſtellung von der Gefährlichkeit des Menſchen
gewonnen, unterſcheiden aber den ihnen ungefährlichen Schwarzen durchaus nicht von dem Weißen,
welcher keine Gelegenheit vorübergehen läßt, ihnen eine Kugel zuzuſenden, während Säugethiere und
Vögel gerade in einer genauen Unterſcheidung dieſer beiden ihre geiſtige Begabung bekunden.
Die höheren Thiere ändern ihr Weſen nach den Umſtänden, laſſen ſich durch äußere Einwirkungen
erregen und zu verſchiedenen Handlungen und geiſtigen Aeußerungen beſtimmen, ſind fröhlich, heiter,
luſtig, zu Scherz und Spiel aufgelegt oder traurig, verdrießlich, mürriſch, je nach Umſtänden: bei den
Kriechthieren iſt dies Alles nicht mehr der Fall. Keines von ihnen vergnügt und ergötzt ſich durch
eigene, innere Geiſtesthätigkeit: es labt ſich höchſtens an Etwas, ſei es an reichlichem Futter, ſei es an
der wohlthätigen Wärme. Einzelne Schlangen ſollen an Tönen Wohlbehagen finden, und ich ſelbſt
habe geſehen, daß die egyptiſchen Schlangenbeſchwörer bei den Klängen einer Pfeife ſolche ſich auf-
richten und gewiſſermaßen tanzen ließen: inwieweit aber dieſes Gebahren mit den Tönen zuſammen-
hängt, oder ob überhaupt ein Zuſammenhang vorhanden iſt, Das wage ich nicht zu beſtimmen. Von
jenem Entzücken und von jener Befriedigung, die gewiſſe Säugethiere beim Hören von Muſik und
Geſang in unverkennbarer Weiſe an den Tag legen, dürfte bei den Kriechthieren ſchwerlich geſprochen
werden können, obwohl ſich andererſeits herauszuſtellen ſcheint, daß Sinnesreize noch mächtig genug
auf das wenige Hirn wirken. So hat man beobachtet, daß ſie während der Begattung die Außen-
welt vollſtändig vergeſſen, daß ſie taub und blind zu ſein ſcheinen, die augenfälligſten Gefahren, welche
ſie ſonſt meiden, nicht mehr beachten, kurz, ihr ſonſt übliches Benehmen gänzlich umändern. Hieraus
würde alſo hervorgehen, daß ein lebhafter Sinneseindruck zeitweilig die volle Hirnthätigkeit für ſich
beanſprucht, und eine ſolche Annahme ſcheint durchaus nicht ungerechtfertigt zu ſein. Von einem
geiſtigen Leben iſt kaum zu reden, von einem ſinnlichen noch eher; doch läßt ſich, wie bemerkt, ein
gewiſſes Anſammeln von Erfahrungen und ebenſo eine geeignete Verwerthung derſelben nicht in
Abrede ſtellen. Die Giftſchlange iſt ſich ihrer tödtlichen Waſſe wohl bewußt und wartet ruhig den
Erfolg der Wirkung ihres Giftes ab; die giftloſe Schlange, die Schildkröte, das Krokodil, die Eidechſe
ſchleicht ſich an die Beute heran, verfolgt ſie oder lauert von einem Hinterhalte auf dieſelbe, ſchnellt
ſich dann plötzlich hervor und verſucht ſie zu faſſen; jedes Kriechthier endlich läßt ſich in einem gewiſſen
Grade zähmen, d. h. nach und nach an den Menſchen, welcher ihm Nahrung reicht, gewöhnen: es
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[10/0022] Ein Blick auf das Leben der Geſammtheit. der eigenen Kraft bei wenigen. Zur Liſt, die noch durchaus nicht als Hochgeiſtigkeit gelten darf, erhebt ſich keines Kriechthieres Geiſt; von Anhänglichkeit zu irgend welchem anderen Thiere, von Liebe zum anderen Geſchlecht und zur Nachkommenſchaft hat man mehr Rühmens gemacht, als man auf Grund vorurtheilsfreier Beobachtungen zu machen berechtigt war.“ Wenn man abſieht von dem Auf- ſcharren der Löcher zur Aufnahme der Eier oder dem Zuſammentragen von etwas Laub zu gleichem Zwecke, bemerkt man bei ihnen keine Art von Kunſttrieb, wie ſie höheren Thieren eigen iſt. Sie lernen es, ſich an einem Orte paſſend einzurichten, indem ſie ſich geeignete Stellen zu ihrem Wohn- oder Ruhe- ſitze erwählen, beiſpielsweiſe ſich in Löchern, Ritzen und Höhlungen überhaupt anſiedeln; ſie gewöhnen ſich an eine ſolche Oertlichkeit und ſuchen ſie nach ihren Raubzügen wieder auf: mit dem bewußten Bau- graben und dem Hängen an ſolchen Wohnungen, wie wir Dies bei den Säugethieren beobachteten, mit dem Neſtbaue der Vögel kann Dies aber kaum verglichen werden, und ebenſo wenig darf man die Für- ſorge, welche die Kriechthiere für ihre Nachkommenſchaft zeigen, als gleichartig mit dem Fortpflanzungs- geſchäfte der Säugethiere und Vögel anſehen. Bei den höher ſtehenden Wirbelthieren werden die Wohnſitze mit entſchiedener Ueberlegung ausgewählt: das Kriechthier folgt einfach dem jeweiligen Bedürfniſſe und macht zwiſchen beſſeren und ſchlechteren Wohnplätzen kaum einen Unterſchied. Scheu und ängſtlich wird es da, wo es Nachſtellungen erfährt, mit der Zeit allerdings auch; aber ſelten oder vielleicht nie lernt es zwiſchen wirklichen und eingebildeten Gefahren unterſcheiden. Ein Menſch, welcher ſich vollkommen ruhig verhält, erregt ſelbſt bei den höher ſtehenden Arten kaum Beachtung, erſcheint dieſen vielmehr erſt dann als Feind, wenn er ſich bewegt oder ein Geräuſch verurſacht. Die Krokodile im Nile haben eine dunkle Vorſtellung von der Gefährlichkeit des Menſchen gewonnen, unterſcheiden aber den ihnen ungefährlichen Schwarzen durchaus nicht von dem Weißen, welcher keine Gelegenheit vorübergehen läßt, ihnen eine Kugel zuzuſenden, während Säugethiere und Vögel gerade in einer genauen Unterſcheidung dieſer beiden ihre geiſtige Begabung bekunden. Die höheren Thiere ändern ihr Weſen nach den Umſtänden, laſſen ſich durch äußere Einwirkungen erregen und zu verſchiedenen Handlungen und geiſtigen Aeußerungen beſtimmen, ſind fröhlich, heiter, luſtig, zu Scherz und Spiel aufgelegt oder traurig, verdrießlich, mürriſch, je nach Umſtänden: bei den Kriechthieren iſt dies Alles nicht mehr der Fall. Keines von ihnen vergnügt und ergötzt ſich durch eigene, innere Geiſtesthätigkeit: es labt ſich höchſtens an Etwas, ſei es an reichlichem Futter, ſei es an der wohlthätigen Wärme. Einzelne Schlangen ſollen an Tönen Wohlbehagen finden, und ich ſelbſt habe geſehen, daß die egyptiſchen Schlangenbeſchwörer bei den Klängen einer Pfeife ſolche ſich auf- richten und gewiſſermaßen tanzen ließen: inwieweit aber dieſes Gebahren mit den Tönen zuſammen- hängt, oder ob überhaupt ein Zuſammenhang vorhanden iſt, Das wage ich nicht zu beſtimmen. Von jenem Entzücken und von jener Befriedigung, die gewiſſe Säugethiere beim Hören von Muſik und Geſang in unverkennbarer Weiſe an den Tag legen, dürfte bei den Kriechthieren ſchwerlich geſprochen werden können, obwohl ſich andererſeits herauszuſtellen ſcheint, daß Sinnesreize noch mächtig genug auf das wenige Hirn wirken. So hat man beobachtet, daß ſie während der Begattung die Außen- welt vollſtändig vergeſſen, daß ſie taub und blind zu ſein ſcheinen, die augenfälligſten Gefahren, welche ſie ſonſt meiden, nicht mehr beachten, kurz, ihr ſonſt übliches Benehmen gänzlich umändern. Hieraus würde alſo hervorgehen, daß ein lebhafter Sinneseindruck zeitweilig die volle Hirnthätigkeit für ſich beanſprucht, und eine ſolche Annahme ſcheint durchaus nicht ungerechtfertigt zu ſein. Von einem geiſtigen Leben iſt kaum zu reden, von einem ſinnlichen noch eher; doch läßt ſich, wie bemerkt, ein gewiſſes Anſammeln von Erfahrungen und ebenſo eine geeignete Verwerthung derſelben nicht in Abrede ſtellen. Die Giftſchlange iſt ſich ihrer tödtlichen Waſſe wohl bewußt und wartet ruhig den Erfolg der Wirkung ihres Giftes ab; die giftloſe Schlange, die Schildkröte, das Krokodil, die Eidechſe ſchleicht ſich an die Beute heran, verfolgt ſie oder lauert von einem Hinterhalte auf dieſelbe, ſchnellt ſich dann plötzlich hervor und verſucht ſie zu faſſen; jedes Kriechthier endlich läßt ſich in einem gewiſſen Grade zähmen, d. h. nach und nach an den Menſchen, welcher ihm Nahrung reicht, gewöhnen: es unterſcheidet aber nie zwiſchen dem Pfleger und einem anderen, ſondern ſieht in der ihm bekannt

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 5. Hildburghausen, 1869, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben05_1869/22>, abgerufen am 30.04.2024.