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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 5. Hildburghausen, 1869.

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Ein Blick auf das Leben der Gesammtheit.

"Nirgends wohl steht im Thierreiche der Nutzen und Schaden oder wenigstens der Nutzen so
auffallend und in so großen Massen neben einander, wie in der Klasse der Fische und Lurche. Dort
ist fast Alles eßbar und ganze Völkerschaften leben von den Fischen, auch gibt es wohl unter den vielen
Millionen Menschen keinen, der nicht Fisch äße, oder doch wenigstens essen könnte, wenn er wollte;
hier dagegen ist außer Fröschen und Schildkröten Nichts eßbar, oder wenigstens nur für einige Wilde.
Nimmt man noch das Schildkrott dazu, so hat man ziemlich Alles, was man von den Amphibien
brauchen kann."

"Wer sich daher einbildet, es sei Alles dem Menschen zu Liebe geschaffen, damit er daran seine
Grausamkeit üben, es verzehren, sich damit kleiden oder sonst die Zeit vertreiben könne, der darf wohl
fragen, wozu die Kriechthiere erschaffen worden.... Während die ganze Klasse der Fische der Gegen-
stand der Eßlust ist, erregt die ganze Klasse der Lurche allgemeinen Abscheu oder wenigstens Furcht und
eine widerliche Empfindung. Vergebens rühmt man die schönen Farben der Schlangen, das unschul-
dige Betragen der Eidechsen, die Nahrhaftigkeit der Schildkröten: der allgemeine Widerwille gegen die
Klasse ist vorhanden und läßt sich durch keine Vernunftgründe wegstreiten. Sie bilden nun einmal
die einzige Klasse, in welcher tödtliches Gift vorkommt; die einzigen, in welcher Alle lauern und
plötzlich auf den lebendigen Raub losschießen, die einzigen, welche einigermaßen wie Säugethiere aus-
sehen, ohne sich so gut zu betragen und welche durch ihre Racktheit denselben Ekel erregen, als nackte
Säugethiere hervorbringen würden.... Sie erregen das Gefühl von verdorbenen Säugethieren, mit
denen wir nicht gern umzugehen pflegen. Die Gestalt der Fische weicht zu sehr von der der höheren
Thiere und des Menschen ab, als daß sie die Jdee davon hervorrufen können. Sie haben überdies
etwas Schmuckes und suchen durch ihre raschen Bewegungen zu entfliehen, anstatt anzugreifen.
Uebrigens ist das Verhältniß beider Thierklassen zum Menschen ein sinnliches; die Fische befriedigen
den Geschmack und den Hunger, die Lurche wirken umgekehrt, indem sie zu Ekel und Erbrechen reizen:
man nähert sich jenen, um sie zu fangen, selbst mit den Händen; man entfernt sich von diesen, um
außer ihrer Berührung zu kommen. Die Vögel und Säugethiere treten in ein geistiges, nicht minder
merkwürdiges Verhältniß zum Menschen. Jene sind ein bloßer Gegenstand seines Vergnügens und
seiner Unterhaltung; man nimmt sie ins Haus, selbst in die Stube auf, nicht um Nutzen von ihnen
zu ziehen, sondern um sich die Zeit in ihrer Gesellschaft zu vertreiben. Die Nahrung, welche uns ihr
Fleisch und ihre Eier liefern, kommt dabei kaum in Betracht, und es sind überdies nur wenige, welche
wir deshalb in unseren Kreis ziehen. Die Säugethiere treten wirklich als unsere Gehilfen auf und
leisten Dienste wie Menschen. Sie arbeiten mit für uns, bestellen unser Feld.... Also zur
Nahrung, zur Warnung, zur Unterhaltung und zur Hilfe sind uns die vier oberen Thierklassen
bestimmt, und darum sind auch die Amphibien nicht vergeblich erschaffen."

So spricht sich Oken aus, um Diejenigen zu befriedigen, welche, wie es so oft geschieht, immer
und immer nach der Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit des Geschaffenen fragen. Jch sehe die Sache
anders an, weil ich nicht nach Dingen grüble, zu deren Erkenntniß alles Grübeln nichts helfen will,
sondern das wirklich Vorhandene einfach nehme, wie es ist. Auch ich gehöre nicht gerade zu den
Freunden der Kriechthiere und Lurche, behaupte aber, daß sie ebenso gut als alle übrigen Thiere
unsere Beachtung verdienen, gleichviel ob sie uns nützen oder nicht, schon weil es sich darum handelt,
seit Jahrtausenden bestehende Vorurtheile aller Art, begründete wie unbegründete, von uns abzustreifen.
"Wir befassen uns", so habe ich an einem anderen Orte gesagt, "nicht gern mit diesen eigenthümlichen
Geschöpfen: wir müssen den von unseren Vorfahren ererbten Haß, welchen die alte Sage kindlich
unbefangen uns erklären will, erst vergessen, das Gefühl der Rachsucht, welche einige wenige in uns
heraufbeschworen, erst unterdrücken, bevor wir Kriechthieren und Lurchen ihr Recht angedeihen lassen
können oder angedeihen lassen wollen. Die Naturwissenschaft hat sich seit Jahrhunderten vergeblich
bemüht, die Menschheit von dem Wahne zu heilen, welcher selbst klare Köpfe verdüstert, sobald es sich
um Kriechthiere oder Lurche handelt; es hat ihr aber noch nicht gelingen wollen, das Gefühl der
Unheimlichkeit zu verbannen, welches empfindsamen Seelen schon eine Blindschleiche, ein harmloser

Ein Blick auf das Leben der Geſammtheit.

„Nirgends wohl ſteht im Thierreiche der Nutzen und Schaden oder wenigſtens der Nutzen ſo
auffallend und in ſo großen Maſſen neben einander, wie in der Klaſſe der Fiſche und Lurche. Dort
iſt faſt Alles eßbar und ganze Völkerſchaften leben von den Fiſchen, auch gibt es wohl unter den vielen
Millionen Menſchen keinen, der nicht Fiſch äße, oder doch wenigſtens eſſen könnte, wenn er wollte;
hier dagegen iſt außer Fröſchen und Schildkröten Nichts eßbar, oder wenigſtens nur für einige Wilde.
Nimmt man noch das Schildkrott dazu, ſo hat man ziemlich Alles, was man von den Amphibien
brauchen kann.“

„Wer ſich daher einbildet, es ſei Alles dem Menſchen zu Liebe geſchaffen, damit er daran ſeine
Grauſamkeit üben, es verzehren, ſich damit kleiden oder ſonſt die Zeit vertreiben könne, der darf wohl
fragen, wozu die Kriechthiere erſchaffen worden.... Während die ganze Klaſſe der Fiſche der Gegen-
ſtand der Eßluſt iſt, erregt die ganze Klaſſe der Lurche allgemeinen Abſcheu oder wenigſtens Furcht und
eine widerliche Empfindung. Vergebens rühmt man die ſchönen Farben der Schlangen, das unſchul-
dige Betragen der Eidechſen, die Nahrhaftigkeit der Schildkröten: der allgemeine Widerwille gegen die
Klaſſe iſt vorhanden und läßt ſich durch keine Vernunftgründe wegſtreiten. Sie bilden nun einmal
die einzige Klaſſe, in welcher tödtliches Gift vorkommt; die einzigen, in welcher Alle lauern und
plötzlich auf den lebendigen Raub losſchießen, die einzigen, welche einigermaßen wie Säugethiere aus-
ſehen, ohne ſich ſo gut zu betragen und welche durch ihre Racktheit denſelben Ekel erregen, als nackte
Säugethiere hervorbringen würden.... Sie erregen das Gefühl von verdorbenen Säugethieren, mit
denen wir nicht gern umzugehen pflegen. Die Geſtalt der Fiſche weicht zu ſehr von der der höheren
Thiere und des Menſchen ab, als daß ſie die Jdee davon hervorrufen können. Sie haben überdies
etwas Schmuckes und ſuchen durch ihre raſchen Bewegungen zu entfliehen, anſtatt anzugreifen.
Uebrigens iſt das Verhältniß beider Thierklaſſen zum Menſchen ein ſinnliches; die Fiſche befriedigen
den Geſchmack und den Hunger, die Lurche wirken umgekehrt, indem ſie zu Ekel und Erbrechen reizen:
man nähert ſich jenen, um ſie zu fangen, ſelbſt mit den Händen; man entfernt ſich von dieſen, um
außer ihrer Berührung zu kommen. Die Vögel und Säugethiere treten in ein geiſtiges, nicht minder
merkwürdiges Verhältniß zum Menſchen. Jene ſind ein bloßer Gegenſtand ſeines Vergnügens und
ſeiner Unterhaltung; man nimmt ſie ins Haus, ſelbſt in die Stube auf, nicht um Nutzen von ihnen
zu ziehen, ſondern um ſich die Zeit in ihrer Geſellſchaft zu vertreiben. Die Nahrung, welche uns ihr
Fleiſch und ihre Eier liefern, kommt dabei kaum in Betracht, und es ſind überdies nur wenige, welche
wir deshalb in unſeren Kreis ziehen. Die Säugethiere treten wirklich als unſere Gehilfen auf und
leiſten Dienſte wie Menſchen. Sie arbeiten mit für uns, beſtellen unſer Feld.... Alſo zur
Nahrung, zur Warnung, zur Unterhaltung und zur Hilfe ſind uns die vier oberen Thierklaſſen
beſtimmt, und darum ſind auch die Amphibien nicht vergeblich erſchaffen.“

So ſpricht ſich Oken aus, um Diejenigen zu befriedigen, welche, wie es ſo oft geſchieht, immer
und immer nach der Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit des Geſchaffenen fragen. Jch ſehe die Sache
anders an, weil ich nicht nach Dingen grüble, zu deren Erkenntniß alles Grübeln nichts helfen will,
ſondern das wirklich Vorhandene einfach nehme, wie es iſt. Auch ich gehöre nicht gerade zu den
Freunden der Kriechthiere und Lurche, behaupte aber, daß ſie ebenſo gut als alle übrigen Thiere
unſere Beachtung verdienen, gleichviel ob ſie uns nützen oder nicht, ſchon weil es ſich darum handelt,
ſeit Jahrtauſenden beſtehende Vorurtheile aller Art, begründete wie unbegründete, von uns abzuſtreifen.
„Wir befaſſen uns“, ſo habe ich an einem anderen Orte geſagt, „nicht gern mit dieſen eigenthümlichen
Geſchöpfen: wir müſſen den von unſeren Vorfahren ererbten Haß, welchen die alte Sage kindlich
unbefangen uns erklären will, erſt vergeſſen, das Gefühl der Rachſucht, welche einige wenige in uns
heraufbeſchworen, erſt unterdrücken, bevor wir Kriechthieren und Lurchen ihr Recht angedeihen laſſen
können oder angedeihen laſſen wollen. Die Naturwiſſenſchaft hat ſich ſeit Jahrhunderten vergeblich
bemüht, die Menſchheit von dem Wahne zu heilen, welcher ſelbſt klare Köpfe verdüſtert, ſobald es ſich
um Kriechthiere oder Lurche handelt; es hat ihr aber noch nicht gelingen wollen, das Gefühl der
Unheimlichkeit zu verbannen, welches empfindſamen Seelen ſchon eine Blindſchleiche, ein harmloſer

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[14/0026] Ein Blick auf das Leben der Geſammtheit. „Nirgends wohl ſteht im Thierreiche der Nutzen und Schaden oder wenigſtens der Nutzen ſo auffallend und in ſo großen Maſſen neben einander, wie in der Klaſſe der Fiſche und Lurche. Dort iſt faſt Alles eßbar und ganze Völkerſchaften leben von den Fiſchen, auch gibt es wohl unter den vielen Millionen Menſchen keinen, der nicht Fiſch äße, oder doch wenigſtens eſſen könnte, wenn er wollte; hier dagegen iſt außer Fröſchen und Schildkröten Nichts eßbar, oder wenigſtens nur für einige Wilde. Nimmt man noch das Schildkrott dazu, ſo hat man ziemlich Alles, was man von den Amphibien brauchen kann.“ „Wer ſich daher einbildet, es ſei Alles dem Menſchen zu Liebe geſchaffen, damit er daran ſeine Grauſamkeit üben, es verzehren, ſich damit kleiden oder ſonſt die Zeit vertreiben könne, der darf wohl fragen, wozu die Kriechthiere erſchaffen worden.... Während die ganze Klaſſe der Fiſche der Gegen- ſtand der Eßluſt iſt, erregt die ganze Klaſſe der Lurche allgemeinen Abſcheu oder wenigſtens Furcht und eine widerliche Empfindung. Vergebens rühmt man die ſchönen Farben der Schlangen, das unſchul- dige Betragen der Eidechſen, die Nahrhaftigkeit der Schildkröten: der allgemeine Widerwille gegen die Klaſſe iſt vorhanden und läßt ſich durch keine Vernunftgründe wegſtreiten. Sie bilden nun einmal die einzige Klaſſe, in welcher tödtliches Gift vorkommt; die einzigen, in welcher Alle lauern und plötzlich auf den lebendigen Raub losſchießen, die einzigen, welche einigermaßen wie Säugethiere aus- ſehen, ohne ſich ſo gut zu betragen und welche durch ihre Racktheit denſelben Ekel erregen, als nackte Säugethiere hervorbringen würden.... Sie erregen das Gefühl von verdorbenen Säugethieren, mit denen wir nicht gern umzugehen pflegen. Die Geſtalt der Fiſche weicht zu ſehr von der der höheren Thiere und des Menſchen ab, als daß ſie die Jdee davon hervorrufen können. Sie haben überdies etwas Schmuckes und ſuchen durch ihre raſchen Bewegungen zu entfliehen, anſtatt anzugreifen. Uebrigens iſt das Verhältniß beider Thierklaſſen zum Menſchen ein ſinnliches; die Fiſche befriedigen den Geſchmack und den Hunger, die Lurche wirken umgekehrt, indem ſie zu Ekel und Erbrechen reizen: man nähert ſich jenen, um ſie zu fangen, ſelbſt mit den Händen; man entfernt ſich von dieſen, um außer ihrer Berührung zu kommen. Die Vögel und Säugethiere treten in ein geiſtiges, nicht minder merkwürdiges Verhältniß zum Menſchen. Jene ſind ein bloßer Gegenſtand ſeines Vergnügens und ſeiner Unterhaltung; man nimmt ſie ins Haus, ſelbſt in die Stube auf, nicht um Nutzen von ihnen zu ziehen, ſondern um ſich die Zeit in ihrer Geſellſchaft zu vertreiben. Die Nahrung, welche uns ihr Fleiſch und ihre Eier liefern, kommt dabei kaum in Betracht, und es ſind überdies nur wenige, welche wir deshalb in unſeren Kreis ziehen. Die Säugethiere treten wirklich als unſere Gehilfen auf und leiſten Dienſte wie Menſchen. Sie arbeiten mit für uns, beſtellen unſer Feld.... Alſo zur Nahrung, zur Warnung, zur Unterhaltung und zur Hilfe ſind uns die vier oberen Thierklaſſen beſtimmt, und darum ſind auch die Amphibien nicht vergeblich erſchaffen.“ So ſpricht ſich Oken aus, um Diejenigen zu befriedigen, welche, wie es ſo oft geſchieht, immer und immer nach der Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit des Geſchaffenen fragen. Jch ſehe die Sache anders an, weil ich nicht nach Dingen grüble, zu deren Erkenntniß alles Grübeln nichts helfen will, ſondern das wirklich Vorhandene einfach nehme, wie es iſt. Auch ich gehöre nicht gerade zu den Freunden der Kriechthiere und Lurche, behaupte aber, daß ſie ebenſo gut als alle übrigen Thiere unſere Beachtung verdienen, gleichviel ob ſie uns nützen oder nicht, ſchon weil es ſich darum handelt, ſeit Jahrtauſenden beſtehende Vorurtheile aller Art, begründete wie unbegründete, von uns abzuſtreifen. „Wir befaſſen uns“, ſo habe ich an einem anderen Orte geſagt, „nicht gern mit dieſen eigenthümlichen Geſchöpfen: wir müſſen den von unſeren Vorfahren ererbten Haß, welchen die alte Sage kindlich unbefangen uns erklären will, erſt vergeſſen, das Gefühl der Rachſucht, welche einige wenige in uns heraufbeſchworen, erſt unterdrücken, bevor wir Kriechthieren und Lurchen ihr Recht angedeihen laſſen können oder angedeihen laſſen wollen. Die Naturwiſſenſchaft hat ſich ſeit Jahrhunderten vergeblich bemüht, die Menſchheit von dem Wahne zu heilen, welcher ſelbſt klare Köpfe verdüſtert, ſobald es ſich um Kriechthiere oder Lurche handelt; es hat ihr aber noch nicht gelingen wollen, das Gefühl der Unheimlichkeit zu verbannen, welches empfindſamen Seelen ſchon eine Blindſchleiche, ein harmloſer

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 5. Hildburghausen, 1869, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben05_1869/26>, abgerufen am 30.04.2024.