unaufhörlicher Bewegung, sodaß man ihre Farbe nicht recht erkennen kann, und unaufhörlich zucken ihre Bisse, wie aus einer düstern Wetterwolke die Blitze, nach dem Ruhestörer hin. Nie aber habe ich gesehen, daß sie auch nur einen Fuß weit absichtlich vorgesprungen wäre; zuweilen nur, wenn man sie plötzlich in einer gestreckten Lage überrascht, wo sie sich nicht die Zeit nimmt, den ganzen Leib tellerförmig aufzurollen, sondern blos den Hals einzieht und dann mit schneller Bewegung ihn wieder auszieht und zubeißt, geschieht es, daß diese Bewegung auch ihren übrigen Körper etwas vorschnellt.
"Oft verräth sich die Kreuzotter in ihrer blinden Bosheit selbst, wenn sie, im Grase oder Gesträuche verborgen, von Vorübergehenden nicht bemerkt, anstatt sich ruhig zu verhalten, ein wildes Gezisch erhebt und nach ihm beißt, sodaß man sie oft nicht eher wahrnimmt, als bis man selbst oder doch der Stiefel und die Kleider den Biß schon weghaben. Zuweilen flieht sie gleich nach dem ersten oder zweiten Bisse; öfters schleicht sie sich auch schon, wenn sie Menschen in ihrer Nähe bemerkt, ohne Weiteres davon." Letzteres geschieht des Nachts, wenn sie wirklich vollständig munter ist, gewiß regelmäßig, und daher mag es kommen, daß um diese Zeit weit weniger Menschen von ihr gebissen werden, als man annehmen möchte, auch wenn man in Betracht zieht, daß nach Sonnenuntergang ihre Lieblingsorte nur wenig besucht werden.
Die Nahrung der Kreuzotter besteht vorzugsweise, jedoch nicht ausschließlich, in warmblütigen Thieren, insbesondere in Mäusen, welche sie jedem anderen Fraße vorzieht, Spitzmäusen und jungen Maulwürfen. Am meisten müssen, nach Lenz, die Erd- oder Ackermäuse (Bd. II, S. 158) her- halten, "weil sie unter unseren Mäusearten die langsamsten und gutmüthigsten sind, weit seltener die schnellen, schlauen Feldmäuse. Spitzmäuse werden auch nicht verschont. Maulwürfe habe ich zwar noch nie im Magen der Ottern gefunden, zweifle jedoch nicht im geringsten daran, daß sie sich weidlich an dem fetten Schmause laben werden, wenn sie zufällig ein Nestchen voller Jungen finden." Daß sie die Mäuse nicht blos über, sondern auch unter der Erde fangen, geht aus den Untersuchungen unseres Lenz hervor; denn er fand in dem Magen der von ihm zergliederten, wie er sagt, öfters junge, ganz nackte Mäuse oder Spitzmäuse, welche sie doch nur aus dem unterirdischen Neste geholt haben konnten. Junge Vögel, zumal die der Erdbrüter, mögen ihnen oft zum Opfer fallen, und es ist keineswegs unwahrscheinlich, daß sie viele Nester ausrauben. Darauf hin deutet auch das Betragen der alten Vögel, welche, wenn sie eine Otter erblicken, einen großen Lärm erheben, überhaupt lebhafte Unruhe an den Tag legen. Frösche verzehren sie wohl blos im Nothfall, Eidechsen nur, solange sie selbst noch jung sind. "Es ist merkwürdig", schildert Lenz, "zu beobachten, welche unüberwindliche Begierde nach Mäusemord ihnen angeboren ist. Selbst in der Gefangenschaft, wo sie sich freiwillig dem Hungertode weihen und nicht leicht ein anderes Thier, ohne gereizt zu sein, mit ihren Bissen verfolgen, selbst da, sage ich, beginnen ihre Blicke, sobald sie eine Maus erschauen, von wilder Mord- gier zu funkeln, ihre Bisse zucken nach dem harmlosen Thierchen, es wird in wilder Leidenschaft gemordet, aber nimmermehr verzehrt. Sobald es entseelt vor ihnen liegt, kehrt die süße Ruhe in ihre Seelen zurück, welche der heimtückische Bösewicht fühlt, der seinen langverhaltenen Rachedurst endlich im Blute des verhaßten Feindes gekühlt hat. Oft habe ich einem solchen Schauspiele zugesehen. Jn Kisten, worin sich zehn bis zwanzig Ottern nebst verschiedenen anderen Schlangen, Blindschleichen, Eidechsen, Fröschen etc. besanden, in denen der tiefste Friede und gegenseitiges Vertrauen herrschte, ließ ich plötzlich eine Maus springen. Furchtlos läuft sie herum; sie glaubt in guter Gesellschaft zu sein und scheut sich nicht, den Ottern auf Leib und Kopf zu hüpsen. Aber siehe, da ziehen die Argen Hals und Kopf zusammen, ihre Augen glühen, ihre Zunge tritt mit schnellen Schwingungen hervor; in allen Ecken hört man zischen, und bald trifft Biß auf Biß, nach ihr allein gerichtet, die Luft. Noch weiß sie nicht, wems gilt. Sie weicht den Bissen aus, springt hin und her; denn nirgends kann sie ruhen. Da trifft sie endlich die giftige Waffe; sie zuckt, schwillt auf, schwankt, fällt auf die Seite und stirbt. Noch sind die aufgeregten Gemüther nicht beruhigt; man hört hier und da noch einzelne zischen und sieht sie in die Luft beißen; aber bald kehrt mit dem Tode des Feindes Ruhe und Frieden zurück."
Die Schlangen. Vipern. Spießottern.
unaufhörlicher Bewegung, ſodaß man ihre Farbe nicht recht erkennen kann, und unaufhörlich zucken ihre Biſſe, wie aus einer düſtern Wetterwolke die Blitze, nach dem Ruheſtörer hin. Nie aber habe ich geſehen, daß ſie auch nur einen Fuß weit abſichtlich vorgeſprungen wäre; zuweilen nur, wenn man ſie plötzlich in einer geſtreckten Lage überraſcht, wo ſie ſich nicht die Zeit nimmt, den ganzen Leib tellerförmig aufzurollen, ſondern blos den Hals einzieht und dann mit ſchneller Bewegung ihn wieder auszieht und zubeißt, geſchieht es, daß dieſe Bewegung auch ihren übrigen Körper etwas vorſchnellt.
„Oft verräth ſich die Kreuzotter in ihrer blinden Bosheit ſelbſt, wenn ſie, im Graſe oder Geſträuche verborgen, von Vorübergehenden nicht bemerkt, anſtatt ſich ruhig zu verhalten, ein wildes Geziſch erhebt und nach ihm beißt, ſodaß man ſie oft nicht eher wahrnimmt, als bis man ſelbſt oder doch der Stiefel und die Kleider den Biß ſchon weghaben. Zuweilen flieht ſie gleich nach dem erſten oder zweiten Biſſe; öfters ſchleicht ſie ſich auch ſchon, wenn ſie Menſchen in ihrer Nähe bemerkt, ohne Weiteres davon.“ Letzteres geſchieht des Nachts, wenn ſie wirklich vollſtändig munter iſt, gewiß regelmäßig, und daher mag es kommen, daß um dieſe Zeit weit weniger Menſchen von ihr gebiſſen werden, als man annehmen möchte, auch wenn man in Betracht zieht, daß nach Sonnenuntergang ihre Lieblingsorte nur wenig beſucht werden.
Die Nahrung der Kreuzotter beſteht vorzugsweiſe, jedoch nicht ausſchließlich, in warmblütigen Thieren, insbeſondere in Mäuſen, welche ſie jedem anderen Fraße vorzieht, Spitzmäuſen und jungen Maulwürfen. Am meiſten müſſen, nach Lenz, die Erd- oder Ackermäuſe (Bd. II, S. 158) her- halten, „weil ſie unter unſeren Mäuſearten die langſamſten und gutmüthigſten ſind, weit ſeltener die ſchnellen, ſchlauen Feldmäuſe. Spitzmäuſe werden auch nicht verſchont. Maulwürfe habe ich zwar noch nie im Magen der Ottern gefunden, zweifle jedoch nicht im geringſten daran, daß ſie ſich weidlich an dem fetten Schmauſe laben werden, wenn ſie zufällig ein Neſtchen voller Jungen finden.“ Daß ſie die Mäuſe nicht blos über, ſondern auch unter der Erde fangen, geht aus den Unterſuchungen unſeres Lenz hervor; denn er fand in dem Magen der von ihm zergliederten, wie er ſagt, öfters junge, ganz nackte Mäuſe oder Spitzmäuſe, welche ſie doch nur aus dem unterirdiſchen Neſte geholt haben konnten. Junge Vögel, zumal die der Erdbrüter, mögen ihnen oft zum Opfer fallen, und es iſt keineswegs unwahrſcheinlich, daß ſie viele Neſter ausrauben. Darauf hin deutet auch das Betragen der alten Vögel, welche, wenn ſie eine Otter erblicken, einen großen Lärm erheben, überhaupt lebhafte Unruhe an den Tag legen. Fröſche verzehren ſie wohl blos im Nothfall, Eidechſen nur, ſolange ſie ſelbſt noch jung ſind. „Es iſt merkwürdig“, ſchildert Lenz, „zu beobachten, welche unüberwindliche Begierde nach Mäuſemord ihnen angeboren iſt. Selbſt in der Gefangenſchaft, wo ſie ſich freiwillig dem Hungertode weihen und nicht leicht ein anderes Thier, ohne gereizt zu ſein, mit ihren Biſſen verfolgen, ſelbſt da, ſage ich, beginnen ihre Blicke, ſobald ſie eine Maus erſchauen, von wilder Mord- gier zu funkeln, ihre Biſſe zucken nach dem harmloſen Thierchen, es wird in wilder Leidenſchaft gemordet, aber nimmermehr verzehrt. Sobald es entſeelt vor ihnen liegt, kehrt die ſüße Ruhe in ihre Seelen zurück, welche der heimtückiſche Böſewicht fühlt, der ſeinen langverhaltenen Rachedurſt endlich im Blute des verhaßten Feindes gekühlt hat. Oft habe ich einem ſolchen Schauſpiele zugeſehen. Jn Kiſten, worin ſich zehn bis zwanzig Ottern nebſt verſchiedenen anderen Schlangen, Blindſchleichen, Eidechſen, Fröſchen ꝛc. beſanden, in denen der tiefſte Friede und gegenſeitiges Vertrauen herrſchte, ließ ich plötzlich eine Maus ſpringen. Furchtlos läuft ſie herum; ſie glaubt in guter Geſellſchaft zu ſein und ſcheut ſich nicht, den Ottern auf Leib und Kopf zu hüpſen. Aber ſiehe, da ziehen die Argen Hals und Kopf zuſammen, ihre Augen glühen, ihre Zunge tritt mit ſchnellen Schwingungen hervor; in allen Ecken hört man ziſchen, und bald trifft Biß auf Biß, nach ihr allein gerichtet, die Luft. Noch weiß ſie nicht, wems gilt. Sie weicht den Biſſen aus, ſpringt hin und her; denn nirgends kann ſie ruhen. Da trifft ſie endlich die giftige Waffe; ſie zuckt, ſchwillt auf, ſchwankt, fällt auf die Seite und ſtirbt. Noch ſind die aufgeregten Gemüther nicht beruhigt; man hört hier und da noch einzelne ziſchen und ſieht ſie in die Luft beißen; aber bald kehrt mit dem Tode des Feindes Ruhe und Frieden zurück.“
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Die Schlangen. Vipern. Spießottern.
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ihre Biſſe, wie aus einer düſtern Wetterwolke die Blitze, nach dem Ruheſtörer hin. Nie aber habe
ich geſehen, daß ſie auch nur einen Fuß weit abſichtlich vorgeſprungen wäre; zuweilen nur, wenn man
ſie plötzlich in einer geſtreckten Lage überraſcht, wo ſie ſich nicht die Zeit nimmt, den ganzen Leib
tellerförmig aufzurollen, ſondern blos den Hals einzieht und dann mit ſchneller Bewegung ihn wieder
auszieht und zubeißt, geſchieht es, daß dieſe Bewegung auch ihren übrigen Körper etwas vorſchnellt.
„Oft verräth ſich die Kreuzotter in ihrer blinden Bosheit ſelbſt, wenn ſie, im Graſe oder
Geſträuche verborgen, von Vorübergehenden nicht bemerkt, anſtatt ſich ruhig zu verhalten, ein wildes
Geziſch erhebt und nach ihm beißt, ſodaß man ſie oft nicht eher wahrnimmt, als bis man ſelbſt oder
doch der Stiefel und die Kleider den Biß ſchon weghaben. Zuweilen flieht ſie gleich nach dem erſten
oder zweiten Biſſe; öfters ſchleicht ſie ſich auch ſchon, wenn ſie Menſchen in ihrer Nähe bemerkt, ohne
Weiteres davon.“ Letzteres geſchieht des Nachts, wenn ſie wirklich vollſtändig munter iſt, gewiß
regelmäßig, und daher mag es kommen, daß um dieſe Zeit weit weniger Menſchen von ihr gebiſſen
werden, als man annehmen möchte, auch wenn man in Betracht zieht, daß nach Sonnenuntergang
ihre Lieblingsorte nur wenig beſucht werden.
Die Nahrung der Kreuzotter beſteht vorzugsweiſe, jedoch nicht ausſchließlich, in warmblütigen
Thieren, insbeſondere in Mäuſen, welche ſie jedem anderen Fraße vorzieht, Spitzmäuſen und jungen
Maulwürfen. Am meiſten müſſen, nach Lenz, die Erd- oder Ackermäuſe (Bd. II, S. 158) her-
halten, „weil ſie unter unſeren Mäuſearten die langſamſten und gutmüthigſten ſind, weit ſeltener die
ſchnellen, ſchlauen Feldmäuſe. Spitzmäuſe werden auch nicht verſchont. Maulwürfe habe ich zwar
noch nie im Magen der Ottern gefunden, zweifle jedoch nicht im geringſten daran, daß ſie ſich weidlich
an dem fetten Schmauſe laben werden, wenn ſie zufällig ein Neſtchen voller Jungen finden.“ Daß ſie
die Mäuſe nicht blos über, ſondern auch unter der Erde fangen, geht aus den Unterſuchungen unſeres
Lenz hervor; denn er fand in dem Magen der von ihm zergliederten, wie er ſagt, öfters junge, ganz
nackte Mäuſe oder Spitzmäuſe, welche ſie doch nur aus dem unterirdiſchen Neſte geholt haben konnten.
Junge Vögel, zumal die der Erdbrüter, mögen ihnen oft zum Opfer fallen, und es iſt keineswegs
unwahrſcheinlich, daß ſie viele Neſter ausrauben. Darauf hin deutet auch das Betragen der alten
Vögel, welche, wenn ſie eine Otter erblicken, einen großen Lärm erheben, überhaupt lebhafte Unruhe
an den Tag legen. Fröſche verzehren ſie wohl blos im Nothfall, Eidechſen nur, ſolange ſie ſelbſt
noch jung ſind. „Es iſt merkwürdig“, ſchildert Lenz, „zu beobachten, welche unüberwindliche
Begierde nach Mäuſemord ihnen angeboren iſt. Selbſt in der Gefangenſchaft, wo ſie ſich freiwillig
dem Hungertode weihen und nicht leicht ein anderes Thier, ohne gereizt zu ſein, mit ihren Biſſen
verfolgen, ſelbſt da, ſage ich, beginnen ihre Blicke, ſobald ſie eine Maus erſchauen, von wilder Mord-
gier zu funkeln, ihre Biſſe zucken nach dem harmloſen Thierchen, es wird in wilder Leidenſchaft
gemordet, aber nimmermehr verzehrt. Sobald es entſeelt vor ihnen liegt, kehrt die ſüße Ruhe in
ihre Seelen zurück, welche der heimtückiſche Böſewicht fühlt, der ſeinen langverhaltenen Rachedurſt
endlich im Blute des verhaßten Feindes gekühlt hat. Oft habe ich einem ſolchen Schauſpiele zugeſehen.
Jn Kiſten, worin ſich zehn bis zwanzig Ottern nebſt verſchiedenen anderen Schlangen, Blindſchleichen,
Eidechſen, Fröſchen ꝛc. beſanden, in denen der tiefſte Friede und gegenſeitiges Vertrauen herrſchte, ließ
ich plötzlich eine Maus ſpringen. Furchtlos läuft ſie herum; ſie glaubt in guter Geſellſchaft zu ſein
und ſcheut ſich nicht, den Ottern auf Leib und Kopf zu hüpſen. Aber ſiehe, da ziehen die Argen
Hals und Kopf zuſammen, ihre Augen glühen, ihre Zunge tritt mit ſchnellen Schwingungen hervor;
in allen Ecken hört man ziſchen, und bald trifft Biß auf Biß, nach ihr allein gerichtet, die Luft.
Noch weiß ſie nicht, wems gilt. Sie weicht den Biſſen aus, ſpringt hin und her; denn nirgends
kann ſie ruhen. Da trifft ſie endlich die giftige Waffe; ſie zuckt, ſchwillt auf, ſchwankt, fällt auf die
Seite und ſtirbt. Noch ſind die aufgeregten Gemüther nicht beruhigt; man hört hier und da noch
einzelne ziſchen und ſieht ſie in die Luft beißen; aber bald kehrt mit dem Tode des Feindes Ruhe und
Frieden zurück.“
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 5. Hildburghausen, 1869, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben05_1869/320>, abgerufen am 22.12.2024.
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