Jn den meisten Werken über Thierkunde, wissenschaftlichen und populären, welche seit 1819 bis in die neuere Zeit erschienen, werden neben den großen Kreisen der Wirbel-, Glieder- und Weichthiere die übrig bleibenden als die sogenannten Strahlthiere zusammengefaßt. Abgesehen davon, daß man, wie Cuvier, der Schöpfer dieses Kreises, genöthigt war, ganze Scharen von Thieren hier unterzubringen, welche nichts weniger als "strahlig" oder sternförmig gebaut sind, mußte man sich doch auch sagen, daß alle die Thiere, die man mit Recht mit jenem Namen bezeichnen konnte, bei denen also wie in einem wohl allen Lesern bekannten Seestern die Körper- theile nicht nach einem sich natürlich darbietenden Rechts und Links, sondern rings um einen Mittelpunkt oder eine Polare geordnet sind, nicht einen Gegensatz zu den einzelnen drei anderen Kreisen, sondern zu ihrer Gesammtheit bilden, insofern nämlich jene einem nach rechts und links symmetrischen Grundplane des Baues folgen. Die Cuvier'schen Strahlthiere sind also eben so wenig an sich als natürliche Abtheilung zusammengehörig, als man dieß von einer die Wirbel-, Glieder- und Weichthiere in sich aufnehmenden Abtheilung sagen könnte. Die neuere wissen- schaftliche Thierkunde hat daher mit Recht fast allgemein von jener Benennung abgesehen, oder sie nur aus Rücksicht der bequemeren äußerlichen systematischen Handhabung beibehalten. Dem bloß ordnenden und sichtenden Auge und Verstande will es allerdings nicht recht einleuchten, daß die noch nicht auf 3000 fossile und lebende Arten sich belaufenden Stachelhäuter denselben Rang einnehmen sollen, wie die nach einigen Hunderttausend zählenden Gliederthiere oder die wenigstens nach Zehntausenden zählenden Weichthiere. Allein wir müssen immer unserer höchst lückenhaften Kenntnisse der Vorwelt eingedenk bleiben, und außerdem finden wir, daß innerhalb der 3000 Arten der Stachelhäuter solche Verschiedenheiten auftreten, welche die Gruppen nicht minder von einander entfernen, als innerhalb der Weichthiere etwa die Schnecken von den Muscheln, inner- halb der Gliederthiere die Spinnen von den Jnsekten abstehen.
Wenn wir die Unterabtheilungen der Stachelhäuter auf den folgenden Blättern gleich als Ordnungen aufführen, so geschieht es mit dem Vorbehalt, daß dieselben eigentlich den Rang von Klassen einzunehmen hätten. Es fehlt, so zu sagen, an hinreichendem Material, um das systematische Fächerwerk auszufüllen.
Die Binnenländer und süßen Gewässer geben gar keine Gelegenheit zur Bekanntschaft mit irgend welchen lebenden Stachelhäutern (Echinodermata). Um so reicher sind die Meeresgestade wenigstens an einzelnen frappanten Formen. An den sandigen Strecken der Nordsee braucht man nur die zurücktretende Ebbe zu verfolgen, um zahlreiche Exemplare der Seesterne aufzulesen, über deren Namengebung die Küstenbewohner aller Zonen einig gewesen sind. Allerlei Höcker und Hervorragungen der Hautbedeckungen geben ihnen ein rauhes, stacheliges Aussehen. Die wahrsten Stachelhäuter sind aber die Seeigel, welche seltener und dann gewöhnlich mit Verlust ihres Lebens
Der Kreis der Stachelhäuter.
Jn den meiſten Werken über Thierkunde, wiſſenſchaftlichen und populären, welche ſeit 1819 bis in die neuere Zeit erſchienen, werden neben den großen Kreiſen der Wirbel-, Glieder- und Weichthiere die übrig bleibenden als die ſogenannten Strahlthiere zuſammengefaßt. Abgeſehen davon, daß man, wie Cuvier, der Schöpfer dieſes Kreiſes, genöthigt war, ganze Scharen von Thieren hier unterzubringen, welche nichts weniger als „ſtrahlig“ oder ſternförmig gebaut ſind, mußte man ſich doch auch ſagen, daß alle die Thiere, die man mit Recht mit jenem Namen bezeichnen konnte, bei denen alſo wie in einem wohl allen Leſern bekannten Seeſtern die Körper- theile nicht nach einem ſich natürlich darbietenden Rechts und Links, ſondern rings um einen Mittelpunkt oder eine Polare geordnet ſind, nicht einen Gegenſatz zu den einzelnen drei anderen Kreiſen, ſondern zu ihrer Geſammtheit bilden, inſofern nämlich jene einem nach rechts und links ſymmetriſchen Grundplane des Baues folgen. Die Cuvier’ſchen Strahlthiere ſind alſo eben ſo wenig an ſich als natürliche Abtheilung zuſammengehörig, als man dieß von einer die Wirbel-, Glieder- und Weichthiere in ſich aufnehmenden Abtheilung ſagen könnte. Die neuere wiſſen- ſchaftliche Thierkunde hat daher mit Recht faſt allgemein von jener Benennung abgeſehen, oder ſie nur aus Rückſicht der bequemeren äußerlichen ſyſtematiſchen Handhabung beibehalten. Dem bloß ordnenden und ſichtenden Auge und Verſtande will es allerdings nicht recht einleuchten, daß die noch nicht auf 3000 foſſile und lebende Arten ſich belaufenden Stachelhäuter denſelben Rang einnehmen ſollen, wie die nach einigen Hunderttauſend zählenden Gliederthiere oder die wenigſtens nach Zehntauſenden zählenden Weichthiere. Allein wir müſſen immer unſerer höchſt lückenhaften Kenntniſſe der Vorwelt eingedenk bleiben, und außerdem finden wir, daß innerhalb der 3000 Arten der Stachelhäuter ſolche Verſchiedenheiten auftreten, welche die Gruppen nicht minder von einander entfernen, als innerhalb der Weichthiere etwa die Schnecken von den Muſcheln, inner- halb der Gliederthiere die Spinnen von den Jnſekten abſtehen.
Wenn wir die Unterabtheilungen der Stachelhäuter auf den folgenden Blättern gleich als Ordnungen aufführen, ſo geſchieht es mit dem Vorbehalt, daß dieſelben eigentlich den Rang von Klaſſen einzunehmen hätten. Es fehlt, ſo zu ſagen, an hinreichendem Material, um das ſyſtematiſche Fächerwerk auszufüllen.
Die Binnenländer und ſüßen Gewäſſer geben gar keine Gelegenheit zur Bekanntſchaft mit irgend welchen lebenden Stachelhäutern (Echinodermata). Um ſo reicher ſind die Meeresgeſtade wenigſtens an einzelnen frappanten Formen. An den ſandigen Strecken der Nordſee braucht man nur die zurücktretende Ebbe zu verfolgen, um zahlreiche Exemplare der Seeſterne aufzuleſen, über deren Namengebung die Küſtenbewohner aller Zonen einig geweſen ſind. Allerlei Höcker und Hervorragungen der Hautbedeckungen geben ihnen ein rauhes, ſtacheliges Ausſehen. Die wahrſten Stachelhäuter ſind aber die Seeigel, welche ſeltener und dann gewöhnlich mit Verluſt ihres Lebens
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Der Kreis der Stachelhäuter.
Jn den meiſten Werken über Thierkunde, wiſſenſchaftlichen und populären, welche ſeit 1819
bis in die neuere Zeit erſchienen, werden neben den großen Kreiſen der Wirbel-, Glieder- und
Weichthiere die übrig bleibenden als die ſogenannten Strahlthiere zuſammengefaßt. Abgeſehen
davon, daß man, wie Cuvier, der Schöpfer dieſes Kreiſes, genöthigt war, ganze Scharen von
Thieren hier unterzubringen, welche nichts weniger als „ſtrahlig“ oder ſternförmig gebaut ſind,
mußte man ſich doch auch ſagen, daß alle die Thiere, die man mit Recht mit jenem Namen
bezeichnen konnte, bei denen alſo wie in einem wohl allen Leſern bekannten Seeſtern die Körper-
theile nicht nach einem ſich natürlich darbietenden Rechts und Links, ſondern rings um einen
Mittelpunkt oder eine Polare geordnet ſind, nicht einen Gegenſatz zu den einzelnen drei anderen
Kreiſen, ſondern zu ihrer Geſammtheit bilden, inſofern nämlich jene einem nach rechts und links
ſymmetriſchen Grundplane des Baues folgen. Die Cuvier’ſchen Strahlthiere ſind alſo eben ſo
wenig an ſich als natürliche Abtheilung zuſammengehörig, als man dieß von einer die Wirbel-,
Glieder- und Weichthiere in ſich aufnehmenden Abtheilung ſagen könnte. Die neuere wiſſen-
ſchaftliche Thierkunde hat daher mit Recht faſt allgemein von jener Benennung abgeſehen, oder
ſie nur aus Rückſicht der bequemeren äußerlichen ſyſtematiſchen Handhabung beibehalten. Dem
bloß ordnenden und ſichtenden Auge und Verſtande will es allerdings nicht recht einleuchten, daß
die noch nicht auf 3000 foſſile und lebende Arten ſich belaufenden Stachelhäuter denſelben Rang
einnehmen ſollen, wie die nach einigen Hunderttauſend zählenden Gliederthiere oder die wenigſtens
nach Zehntauſenden zählenden Weichthiere. Allein wir müſſen immer unſerer höchſt lückenhaften
Kenntniſſe der Vorwelt eingedenk bleiben, und außerdem finden wir, daß innerhalb der 3000
Arten der Stachelhäuter ſolche Verſchiedenheiten auftreten, welche die Gruppen nicht minder von
einander entfernen, als innerhalb der Weichthiere etwa die Schnecken von den Muſcheln, inner-
halb der Gliederthiere die Spinnen von den Jnſekten abſtehen.
Wenn wir die Unterabtheilungen der Stachelhäuter auf den folgenden Blättern gleich als
Ordnungen aufführen, ſo geſchieht es mit dem Vorbehalt, daß dieſelben eigentlich den Rang von
Klaſſen einzunehmen hätten. Es fehlt, ſo zu ſagen, an hinreichendem Material, um das
ſyſtematiſche Fächerwerk auszufüllen.
Die Binnenländer und ſüßen Gewäſſer geben gar keine Gelegenheit zur Bekanntſchaft mit
irgend welchen lebenden Stachelhäutern (Echinodermata). Um ſo reicher ſind die Meeresgeſtade
wenigſtens an einzelnen frappanten Formen. An den ſandigen Strecken der Nordſee braucht man
nur die zurücktretende Ebbe zu verfolgen, um zahlreiche Exemplare der Seeſterne aufzuleſen, über
deren Namengebung die Küſtenbewohner aller Zonen einig geweſen ſind. Allerlei Höcker und
Hervorragungen der Hautbedeckungen geben ihnen ein rauhes, ſtacheliges Ausſehen. Die wahrſten
Stachelhäuter ſind aber die Seeigel, welche ſeltener und dann gewöhnlich mit Verluſt ihres Lebens
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 6. Hildburghausen, 1869, S. [975]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben06_1869/1023>, abgerufen am 23.11.2024.
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