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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 6. Hildburghausen, 1869.

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Borstenwürmer. Regenwürmer.
der Stelle, an welcher sich die Knospe trennen soll vom mütterlichen Boden, wird als völlige
Neubildung der Kopf der Knospe eingeschoben. Bei diesem Aufgehen ganzer Glieder des Mutter-
thieres in die Tochter kommt es auch vor, daß sie schon mit Eiern gefüllt sind, obwohl dieser
Fall, daß dasselbe Thier auf geschlechtlichem Wege Eier producirt und zu gleicher Zeit Knospen
treibt, der seltnere zu sein scheint. Die Regel, welche auch mit dem übereinstimmt, was ähnliche
Vorgänge in anderen Thierklassen zeigen, ist vielmehr, daß das Vorderthier geschlechtslos ist, die
Knospen dagegen Männchen oder Weibchen werden. Am reinsten und lehrreichsten ist dieser Vorgang
bei der Gattung Autolytus. Der Kopf des geschlechtslosen Vorderthieres von Autolytus cornutus ist
Fig. 7; er unterscheidet sich durch Stellung, Form und Länge der Fühler und Fühlfäden von dem
der männlichen Knospen (5), und dieser wieder von dem der weiblichen (6). Männchen und Weibchen
entstehen also nur auf dem Wege der Knospung, während ihre ungeschlechtlichen Erzeugerinnen ihr
Dasein nur den Eiern der geschlechtlichen Generation verdanken. Wir haben hier ein reines Beispiel
des in der niederen Thierwelt viel verbreiteten, sogenannten Generationswechsels. Derselbe ist
also eine eigenthümliche Art der Fortpflanzung und Vermehrung, bei welcher das aus dem Ei sich ent-
wickelnde Jndividuum nie die Gestalt und den Werth, d. h. die physiologische Bedeutung des Ge-
schlechtsthieres erhält, sondern auf ungeschlechtlichem Wege, durch Theilung, Knospenbildung oder
auch innere Keimbildung sich vermehrt und erst durch diese feine Sprossen zur geschlechtlichen Generation
zurückkehrt. Die Art wird also, falls die Geschlechter getrennt sind, nicht nur aus den verschieden
geformten, mit besonderen Kennzeichen versehenen beiden Geschlechtern, sondern auch aus der eben-
falls eigenthümlich gebildeten, geschlechtslosen Zwischengeneration zusammengesetzt. So einfach und
leicht aufzufassen, wie bei Autolytus, ist der Generationswechsel nur in seltenen Fällen. Schon
hier sind jedoch die beiden wechselnden Generationen so verschieden, daß man, ehe man ihre
Zusammengehörigkeit entdeckte, sie als verschiedene Gattungen beschrieb, das geschlechtslose Jndi-
viduum als Autolytus, das Männchen als Polybostrichus, das Weibchen als Sacconereis.



Eine dritte Abtheilung der Borstenwürmer sind die regenwurmartigen Würmer (Lum-
bricina
), alle diejenigen nämlich, deren Borsten nicht auf Fußstummeln stehen, und welche weder
Fühler noch andere, in den vorigen Gruppen so manchfaltige Anhänge der Ringe besitzen. Den
Stamm bilden natürlich die Regenwürmer. Die zoologischen Merkmale dieser Familie sind die
zahlreichen, kurzen Segmente, ein kegelförmiger, eine Oberlippe bildender Kopflappen, die Haken-
borsten, welche in zwei oder vier Zeilen stehen und sehr wenig aus der Haut hervorragen. Außer
jener sogenannten, die Körperspitze bildenden Lippe haben die Regenwürmer keine besonderen
Sinneswerkzeuge, namentlich weder Augen noch Ohren, gleichwohl sind sie für Lichtreiz empfänglich.
Hören wir, was W. Hoffmeister, welcher die Regenwürmer Deutschlands in einer Monographie
geschildert hat, hierüber sagt. "Wer sich mit der Beobachtung der Lebensweise dieser Thiere
beschäftigt hat, wird ein mächtiges Hinderniß für die Beobachtung in der großen Empfindlichkeit
der Würmer gegen Lichtreiz gefunden haben. Eine noch so vorsichtig genäherte Flamme treibt sie
schnell in ihre Höhle zurück, doch scheint es immer erst einer gewissen Zeit zu bedürfen, bis der
Eindruck percipirt wird. Denn im ersten Moment pflegen sie ihre Bewegungen, trotz der Licht-
flamme, fortzusetzen, dann halten sie plötzlich inne, gleichsam um zu lauschen, und dann erst ziehen
sie sich mit einem schnellen Ruck in ihre Löcher zurück. Jst der Eindruck einmal aufgenommen,
dann kann ein rasches Fortnehmen des Lichtes den eiligen Rückzug nicht aufhalten, scheint ihn im
Gegentheil durch den Kontrast noch zu beschleunigen. Nicht der ganze Körper, wie begreiflich,
empfindet den Eindruck, sondern nur die zwei ersten Ringe, an denen die vom Schlundringe aus-
gehenden Nervenbündel liegen. Ein Wurm, der mit dem Kopfe in das Loch eines Nachbars

Borſtenwürmer. Regenwürmer.
der Stelle, an welcher ſich die Knospe trennen ſoll vom mütterlichen Boden, wird als völlige
Neubildung der Kopf der Knospe eingeſchoben. Bei dieſem Aufgehen ganzer Glieder des Mutter-
thieres in die Tochter kommt es auch vor, daß ſie ſchon mit Eiern gefüllt ſind, obwohl dieſer
Fall, daß daſſelbe Thier auf geſchlechtlichem Wege Eier producirt und zu gleicher Zeit Knospen
treibt, der ſeltnere zu ſein ſcheint. Die Regel, welche auch mit dem übereinſtimmt, was ähnliche
Vorgänge in anderen Thierklaſſen zeigen, iſt vielmehr, daß das Vorderthier geſchlechtslos iſt, die
Knospen dagegen Männchen oder Weibchen werden. Am reinſten und lehrreichſten iſt dieſer Vorgang
bei der Gattung Autolytus. Der Kopf des geſchlechtsloſen Vorderthieres von Autolytus cornutus iſt
Fig. 7; er unterſcheidet ſich durch Stellung, Form und Länge der Fühler und Fühlfäden von dem
der männlichen Knospen (5), und dieſer wieder von dem der weiblichen (6). Männchen und Weibchen
entſtehen alſo nur auf dem Wege der Knospung, während ihre ungeſchlechtlichen Erzeugerinnen ihr
Daſein nur den Eiern der geſchlechtlichen Generation verdanken. Wir haben hier ein reines Beiſpiel
des in der niederen Thierwelt viel verbreiteten, ſogenannten Generationswechſels. Derſelbe iſt
alſo eine eigenthümliche Art der Fortpflanzung und Vermehrung, bei welcher das aus dem Ei ſich ent-
wickelnde Jndividuum nie die Geſtalt und den Werth, d. h. die phyſiologiſche Bedeutung des Ge-
ſchlechtsthieres erhält, ſondern auf ungeſchlechtlichem Wege, durch Theilung, Knospenbildung oder
auch innere Keimbildung ſich vermehrt und erſt durch dieſe feine Sproſſen zur geſchlechtlichen Generation
zurückkehrt. Die Art wird alſo, falls die Geſchlechter getrennt ſind, nicht nur aus den verſchieden
geformten, mit beſonderen Kennzeichen verſehenen beiden Geſchlechtern, ſondern auch aus der eben-
falls eigenthümlich gebildeten, geſchlechtsloſen Zwiſchengeneration zuſammengeſetzt. So einfach und
leicht aufzufaſſen, wie bei Autolytus, iſt der Generationswechſel nur in ſeltenen Fällen. Schon
hier ſind jedoch die beiden wechſelnden Generationen ſo verſchieden, daß man, ehe man ihre
Zuſammengehörigkeit entdeckte, ſie als verſchiedene Gattungen beſchrieb, das geſchlechtsloſe Jndi-
viduum als Autolytus, das Männchen als Polybostrichus, das Weibchen als Sacconereis.



Eine dritte Abtheilung der Borſtenwürmer ſind die regenwurmartigen Würmer (Lum-
bricina
), alle diejenigen nämlich, deren Borſten nicht auf Fußſtummeln ſtehen, und welche weder
Fühler noch andere, in den vorigen Gruppen ſo manchfaltige Anhänge der Ringe beſitzen. Den
Stamm bilden natürlich die Regenwürmer. Die zoologiſchen Merkmale dieſer Familie ſind die
zahlreichen, kurzen Segmente, ein kegelförmiger, eine Oberlippe bildender Kopflappen, die Haken-
borſten, welche in zwei oder vier Zeilen ſtehen und ſehr wenig aus der Haut hervorragen. Außer
jener ſogenannten, die Körperſpitze bildenden Lippe haben die Regenwürmer keine beſonderen
Sinneswerkzeuge, namentlich weder Augen noch Ohren, gleichwohl ſind ſie für Lichtreiz empfänglich.
Hören wir, was W. Hoffmeiſter, welcher die Regenwürmer Deutſchlands in einer Monographie
geſchildert hat, hierüber ſagt. „Wer ſich mit der Beobachtung der Lebensweiſe dieſer Thiere
beſchäftigt hat, wird ein mächtiges Hinderniß für die Beobachtung in der großen Empfindlichkeit
der Würmer gegen Lichtreiz gefunden haben. Eine noch ſo vorſichtig genäherte Flamme treibt ſie
ſchnell in ihre Höhle zurück, doch ſcheint es immer erſt einer gewiſſen Zeit zu bedürfen, bis der
Eindruck percipirt wird. Denn im erſten Moment pflegen ſie ihre Bewegungen, trotz der Licht-
flamme, fortzuſetzen, dann halten ſie plötzlich inne, gleichſam um zu lauſchen, und dann erſt ziehen
ſie ſich mit einem ſchnellen Ruck in ihre Löcher zurück. Jſt der Eindruck einmal aufgenommen,
dann kann ein raſches Fortnehmen des Lichtes den eiligen Rückzug nicht aufhalten, ſcheint ihn im
Gegentheil durch den Kontraſt noch zu beſchleunigen. Nicht der ganze Körper, wie begreiflich,
empfindet den Eindruck, ſondern nur die zwei erſten Ringe, an denen die vom Schlundringe aus-
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[694/0738] Borſtenwürmer. Regenwürmer. der Stelle, an welcher ſich die Knospe trennen ſoll vom mütterlichen Boden, wird als völlige Neubildung der Kopf der Knospe eingeſchoben. Bei dieſem Aufgehen ganzer Glieder des Mutter- thieres in die Tochter kommt es auch vor, daß ſie ſchon mit Eiern gefüllt ſind, obwohl dieſer Fall, daß daſſelbe Thier auf geſchlechtlichem Wege Eier producirt und zu gleicher Zeit Knospen treibt, der ſeltnere zu ſein ſcheint. Die Regel, welche auch mit dem übereinſtimmt, was ähnliche Vorgänge in anderen Thierklaſſen zeigen, iſt vielmehr, daß das Vorderthier geſchlechtslos iſt, die Knospen dagegen Männchen oder Weibchen werden. Am reinſten und lehrreichſten iſt dieſer Vorgang bei der Gattung Autolytus. Der Kopf des geſchlechtsloſen Vorderthieres von Autolytus cornutus iſt Fig. 7; er unterſcheidet ſich durch Stellung, Form und Länge der Fühler und Fühlfäden von dem der männlichen Knospen (5), und dieſer wieder von dem der weiblichen (6). Männchen und Weibchen entſtehen alſo nur auf dem Wege der Knospung, während ihre ungeſchlechtlichen Erzeugerinnen ihr Daſein nur den Eiern der geſchlechtlichen Generation verdanken. Wir haben hier ein reines Beiſpiel des in der niederen Thierwelt viel verbreiteten, ſogenannten Generationswechſels. Derſelbe iſt alſo eine eigenthümliche Art der Fortpflanzung und Vermehrung, bei welcher das aus dem Ei ſich ent- wickelnde Jndividuum nie die Geſtalt und den Werth, d. h. die phyſiologiſche Bedeutung des Ge- ſchlechtsthieres erhält, ſondern auf ungeſchlechtlichem Wege, durch Theilung, Knospenbildung oder auch innere Keimbildung ſich vermehrt und erſt durch dieſe feine Sproſſen zur geſchlechtlichen Generation zurückkehrt. Die Art wird alſo, falls die Geſchlechter getrennt ſind, nicht nur aus den verſchieden geformten, mit beſonderen Kennzeichen verſehenen beiden Geſchlechtern, ſondern auch aus der eben- falls eigenthümlich gebildeten, geſchlechtsloſen Zwiſchengeneration zuſammengeſetzt. So einfach und leicht aufzufaſſen, wie bei Autolytus, iſt der Generationswechſel nur in ſeltenen Fällen. Schon hier ſind jedoch die beiden wechſelnden Generationen ſo verſchieden, daß man, ehe man ihre Zuſammengehörigkeit entdeckte, ſie als verſchiedene Gattungen beſchrieb, das geſchlechtsloſe Jndi- viduum als Autolytus, das Männchen als Polybostrichus, das Weibchen als Sacconereis. Eine dritte Abtheilung der Borſtenwürmer ſind die regenwurmartigen Würmer (Lum- bricina), alle diejenigen nämlich, deren Borſten nicht auf Fußſtummeln ſtehen, und welche weder Fühler noch andere, in den vorigen Gruppen ſo manchfaltige Anhänge der Ringe beſitzen. Den Stamm bilden natürlich die Regenwürmer. Die zoologiſchen Merkmale dieſer Familie ſind die zahlreichen, kurzen Segmente, ein kegelförmiger, eine Oberlippe bildender Kopflappen, die Haken- borſten, welche in zwei oder vier Zeilen ſtehen und ſehr wenig aus der Haut hervorragen. Außer jener ſogenannten, die Körperſpitze bildenden Lippe haben die Regenwürmer keine beſonderen Sinneswerkzeuge, namentlich weder Augen noch Ohren, gleichwohl ſind ſie für Lichtreiz empfänglich. Hören wir, was W. Hoffmeiſter, welcher die Regenwürmer Deutſchlands in einer Monographie geſchildert hat, hierüber ſagt. „Wer ſich mit der Beobachtung der Lebensweiſe dieſer Thiere beſchäftigt hat, wird ein mächtiges Hinderniß für die Beobachtung in der großen Empfindlichkeit der Würmer gegen Lichtreiz gefunden haben. Eine noch ſo vorſichtig genäherte Flamme treibt ſie ſchnell in ihre Höhle zurück, doch ſcheint es immer erſt einer gewiſſen Zeit zu bedürfen, bis der Eindruck percipirt wird. Denn im erſten Moment pflegen ſie ihre Bewegungen, trotz der Licht- flamme, fortzuſetzen, dann halten ſie plötzlich inne, gleichſam um zu lauſchen, und dann erſt ziehen ſie ſich mit einem ſchnellen Ruck in ihre Löcher zurück. Jſt der Eindruck einmal aufgenommen, dann kann ein raſches Fortnehmen des Lichtes den eiligen Rückzug nicht aufhalten, ſcheint ihn im Gegentheil durch den Kontraſt noch zu beſchleunigen. Nicht der ganze Körper, wie begreiflich, empfindet den Eindruck, ſondern nur die zwei erſten Ringe, an denen die vom Schlundringe aus- gehenden Nervenbündel liegen. Ein Wurm, der mit dem Kopfe in das Loch eines Nachbars

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 6. Hildburghausen, 1869, S. 694. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben06_1869/738>, abgerufen am 23.11.2024.