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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 6. Hildburghausen, 1869.

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Bandwürmer.
der man sich zum Verständniß vieler Vorkommnisse der niederen Thierwelt vollkommen vertraut
machen muß, läßt sich durch den Hinweis auf die Thiergesellschaften der Bienen und anderer
Hautflügler illustriren. Das Bienenwesen, der "Bien", wie man es auch genannt hat, ist eine
Einheit, zu welcher mehrere Sorten von Jndividuen in ganz verschiedener Thätigkeit beitragen.
Von dieser in seinen Gliedern mehr freiheitlichen Gemeinschaft steigt die Vorstellung leichter zu
jenen organisch verbundenen Kolonien der "Bandwürmer" und vieler polypenartiger Wesen herab,
wo das Jndividuum mehr der Jdee nach, als in Wirklichkeit besteht und statt der freien, selbständigen
Wesen sehr unvollkommene, unselbständige Surrogate derselben uns entgegentreten. Wir erinnern
uns denn auch bei diesem geringen Anlaß an des Dichters Worte:

Jmmer strebe zum Ganzen, und kannst du selber kein Ganzes
Werden, als dienendes Glied schließ an ein Ganzes dich an.

Allen jenen thierischen, vielgestaltigen Gemeinschaften fehlt "die angeborne Farbe der Ent-
schließung", welche die höhere staatliche Ordnung charakterisiren soll. Allein wohin gerathen wir
doch vom Bandwurm! Wir stehen bei seinen "dienenden Gliedern", in sofern sie, zur Reise
gelangt, durch eine äußerst ergiebige Eiproduktion für die Erneuerung des Entwickelungskreises
sorgen, in welchem die Art sich bewegt.

Man sieht in den ersten platten Bandwurmgliedern gewöhnlich schon mit bloßem Auge den
Eihalter, der aus einem mittleren Stamme und nach beiden Seiten abgehenden, unregelmäßigen
Aesten besteht. Dieses Organ ist dicht mit Eiern erfüllt. Durch die dicke, oft doppelte Schale
derselben erkennt man ein kleines, kugliges Wesen, welches mit drei Paar Häkchen bewaffnet ist.
Wenn jemand, mit der Kenntniß der Entwickelungsgeschichte der übrigen Eingeweidewürmer aus-
gerüstet, an die ihm bisher unbekannten Bandwürmer käme, er würde aus der Festigkeit der Eihüllen
und der Bewaffnung der Embryonen und aus der Beobachtung, daß diese Eier massenhaft ins Freie
gelangen, den Verdacht hegen, daß auch die Bandwürmer allen Unbilden der Witterung, der Nässe
und Trockniß, der Berührung mit gährenden und faulenden Substanzen ausgesetzt sein können, ohne
diese Einflüsse bis zu ihrem Jnhalt gelangen zu lassen, daß sie bestimmt sind, durch einen jener
tausend möglichen Zufälle in ein Thier zu gerathen, daß dann der sechshakige Embryo frei wird
und mit Hilfe feiner sechs Spießchen sich in seinem Wirthe nach einem bestimmten Organe hin
auf die Wanderung begibt. So ist es. Jn den Kreis dieser Entwickelung, zu welcher die

[Abbildung] Sechshakiger Bandwurmembryo.
(Vergrößert.)
eingewanderten, sechshakigen Larven fortschreiten, gehören
nun jene Zustände und Formen, welche man fast ein Jahr-
hundert hindurch unter dem Namen der "Blasenwürmer" als
selbständige Thiergattungen im System verzeichnet hatte, die
auch dem Laien bekannten Finnen und Quesen. Blasenwürmer
nannte man sie, weil ihr Leib blasenförmig durch eine wäs-
serige Flüssigkeit aufgetrieben ist, und über ihre sehr nahe
Verwandtschaft mit den Bandwürmern gab die oberfläch-
lichste Vergleichung ihrer Köpfe längst Aufschluß, die
eben nichts anders, als wahre Bandwurmköpfe sind. Als
man vor zwanzig Jahren anfing, den Wanderungen der parasitischen Würmer auf die Spur
zu kommen, verfiel man auf die Vermuthung, die so offenbar mit den Bandwürmern verketteten
Blasenwürmer seien nichts anderes, als verirrte, auf ihrer Wanderung in unrechte Organe
gelangte Jndividuen, welche dort krank und wassersüchtig geworden. Die Finnen also, die bekann-
testen aller, seien statt in den Darmkanal in das Fleisch gelangt, wo sie eigentlich eine recht elende
Eristenz hätten und ihren Lebenszweck vollständig verfehlten. Es ist das Verdienst des Dr. Küchen-
meister
in Zittau, die Frage über das Verhältniß der Blasen- zu den Bandwürmern in das
rechte Geleis gebracht und durch überzeugende Nachweise und Experimente dahin entschieden zu
haben, daß die Blasenwurmsorm der normale, einer ganzen Reihe von Bandwürmern eigenthüm-

Bandwürmer.
der man ſich zum Verſtändniß vieler Vorkommniſſe der niederen Thierwelt vollkommen vertraut
machen muß, läßt ſich durch den Hinweis auf die Thiergeſellſchaften der Bienen und anderer
Hautflügler illuſtriren. Das Bienenweſen, der „Bien“, wie man es auch genannt hat, iſt eine
Einheit, zu welcher mehrere Sorten von Jndividuen in ganz verſchiedener Thätigkeit beitragen.
Von dieſer in ſeinen Gliedern mehr freiheitlichen Gemeinſchaft ſteigt die Vorſtellung leichter zu
jenen organiſch verbundenen Kolonien der „Bandwürmer“ und vieler polypenartiger Weſen herab,
wo das Jndividuum mehr der Jdee nach, als in Wirklichkeit beſteht und ſtatt der freien, ſelbſtändigen
Weſen ſehr unvollkommene, unſelbſtändige Surrogate derſelben uns entgegentreten. Wir erinnern
uns denn auch bei dieſem geringen Anlaß an des Dichters Worte:

Jmmer ſtrebe zum Ganzen, und kannſt du ſelber kein Ganzes
Werden, als dienendes Glied ſchließ an ein Ganzes dich an.

Allen jenen thieriſchen, vielgeſtaltigen Gemeinſchaften fehlt „die angeborne Farbe der Ent-
ſchließung“, welche die höhere ſtaatliche Ordnung charakteriſiren ſoll. Allein wohin gerathen wir
doch vom Bandwurm! Wir ſtehen bei ſeinen „dienenden Gliedern“, in ſofern ſie, zur Reiſe
gelangt, durch eine äußerſt ergiebige Eiproduktion für die Erneuerung des Entwickelungskreiſes
ſorgen, in welchem die Art ſich bewegt.

Man ſieht in den erſten platten Bandwurmgliedern gewöhnlich ſchon mit bloßem Auge den
Eihalter, der aus einem mittleren Stamme und nach beiden Seiten abgehenden, unregelmäßigen
Aeſten beſteht. Dieſes Organ iſt dicht mit Eiern erfüllt. Durch die dicke, oft doppelte Schale
derſelben erkennt man ein kleines, kugliges Weſen, welches mit drei Paar Häkchen bewaffnet iſt.
Wenn jemand, mit der Kenntniß der Entwickelungsgeſchichte der übrigen Eingeweidewürmer aus-
gerüſtet, an die ihm bisher unbekannten Bandwürmer käme, er würde aus der Feſtigkeit der Eihüllen
und der Bewaffnung der Embryonen und aus der Beobachtung, daß dieſe Eier maſſenhaft ins Freie
gelangen, den Verdacht hegen, daß auch die Bandwürmer allen Unbilden der Witterung, der Näſſe
und Trockniß, der Berührung mit gährenden und faulenden Subſtanzen ausgeſetzt ſein können, ohne
dieſe Einflüſſe bis zu ihrem Jnhalt gelangen zu laſſen, daß ſie beſtimmt ſind, durch einen jener
tauſend möglichen Zufälle in ein Thier zu gerathen, daß dann der ſechshakige Embryo frei wird
und mit Hilfe feiner ſechs Spießchen ſich in ſeinem Wirthe nach einem beſtimmten Organe hin
auf die Wanderung begibt. So iſt es. Jn den Kreis dieſer Entwickelung, zu welcher die

[Abbildung] Sechshakiger Bandwurmembryo.
(Vergrößert.)
eingewanderten, ſechshakigen Larven fortſchreiten, gehören
nun jene Zuſtände und Formen, welche man faſt ein Jahr-
hundert hindurch unter dem Namen der „Blaſenwürmer“ als
ſelbſtändige Thiergattungen im Syſtem verzeichnet hatte, die
auch dem Laien bekannten Finnen und Queſen. Blaſenwürmer
nannte man ſie, weil ihr Leib blaſenförmig durch eine wäſ-
ſerige Flüſſigkeit aufgetrieben iſt, und über ihre ſehr nahe
Verwandtſchaft mit den Bandwürmern gab die oberfläch-
lichſte Vergleichung ihrer Köpfe längſt Aufſchluß, die
eben nichts anders, als wahre Bandwurmköpfe ſind. Als
man vor zwanzig Jahren anfing, den Wanderungen der paraſitiſchen Würmer auf die Spur
zu kommen, verfiel man auf die Vermuthung, die ſo offenbar mit den Bandwürmern verketteten
Blaſenwürmer ſeien nichts anderes, als verirrte, auf ihrer Wanderung in unrechte Organe
gelangte Jndividuen, welche dort krank und waſſerſüchtig geworden. Die Finnen alſo, die bekann-
teſten aller, ſeien ſtatt in den Darmkanal in das Fleiſch gelangt, wo ſie eigentlich eine recht elende
Eriſtenz hätten und ihren Lebenszweck vollſtändig verfehlten. Es iſt das Verdienſt des Dr. Küchen-
meiſter
in Zittau, die Frage über das Verhältniß der Blaſen- zu den Bandwürmern in das
rechte Geleis gebracht und durch überzeugende Nachweiſe und Experimente dahin entſchieden zu
haben, daß die Blaſenwurmſorm der normale, einer ganzen Reihe von Bandwürmern eigenthüm-

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[748/0792] Bandwürmer. der man ſich zum Verſtändniß vieler Vorkommniſſe der niederen Thierwelt vollkommen vertraut machen muß, läßt ſich durch den Hinweis auf die Thiergeſellſchaften der Bienen und anderer Hautflügler illuſtriren. Das Bienenweſen, der „Bien“, wie man es auch genannt hat, iſt eine Einheit, zu welcher mehrere Sorten von Jndividuen in ganz verſchiedener Thätigkeit beitragen. Von dieſer in ſeinen Gliedern mehr freiheitlichen Gemeinſchaft ſteigt die Vorſtellung leichter zu jenen organiſch verbundenen Kolonien der „Bandwürmer“ und vieler polypenartiger Weſen herab, wo das Jndividuum mehr der Jdee nach, als in Wirklichkeit beſteht und ſtatt der freien, ſelbſtändigen Weſen ſehr unvollkommene, unſelbſtändige Surrogate derſelben uns entgegentreten. Wir erinnern uns denn auch bei dieſem geringen Anlaß an des Dichters Worte: Jmmer ſtrebe zum Ganzen, und kannſt du ſelber kein Ganzes Werden, als dienendes Glied ſchließ an ein Ganzes dich an. Allen jenen thieriſchen, vielgeſtaltigen Gemeinſchaften fehlt „die angeborne Farbe der Ent- ſchließung“, welche die höhere ſtaatliche Ordnung charakteriſiren ſoll. Allein wohin gerathen wir doch vom Bandwurm! Wir ſtehen bei ſeinen „dienenden Gliedern“, in ſofern ſie, zur Reiſe gelangt, durch eine äußerſt ergiebige Eiproduktion für die Erneuerung des Entwickelungskreiſes ſorgen, in welchem die Art ſich bewegt. Man ſieht in den erſten platten Bandwurmgliedern gewöhnlich ſchon mit bloßem Auge den Eihalter, der aus einem mittleren Stamme und nach beiden Seiten abgehenden, unregelmäßigen Aeſten beſteht. Dieſes Organ iſt dicht mit Eiern erfüllt. Durch die dicke, oft doppelte Schale derſelben erkennt man ein kleines, kugliges Weſen, welches mit drei Paar Häkchen bewaffnet iſt. Wenn jemand, mit der Kenntniß der Entwickelungsgeſchichte der übrigen Eingeweidewürmer aus- gerüſtet, an die ihm bisher unbekannten Bandwürmer käme, er würde aus der Feſtigkeit der Eihüllen und der Bewaffnung der Embryonen und aus der Beobachtung, daß dieſe Eier maſſenhaft ins Freie gelangen, den Verdacht hegen, daß auch die Bandwürmer allen Unbilden der Witterung, der Näſſe und Trockniß, der Berührung mit gährenden und faulenden Subſtanzen ausgeſetzt ſein können, ohne dieſe Einflüſſe bis zu ihrem Jnhalt gelangen zu laſſen, daß ſie beſtimmt ſind, durch einen jener tauſend möglichen Zufälle in ein Thier zu gerathen, daß dann der ſechshakige Embryo frei wird und mit Hilfe feiner ſechs Spießchen ſich in ſeinem Wirthe nach einem beſtimmten Organe hin auf die Wanderung begibt. So iſt es. Jn den Kreis dieſer Entwickelung, zu welcher die [Abbildung Sechshakiger Bandwurmembryo. (Vergrößert.)] eingewanderten, ſechshakigen Larven fortſchreiten, gehören nun jene Zuſtände und Formen, welche man faſt ein Jahr- hundert hindurch unter dem Namen der „Blaſenwürmer“ als ſelbſtändige Thiergattungen im Syſtem verzeichnet hatte, die auch dem Laien bekannten Finnen und Queſen. Blaſenwürmer nannte man ſie, weil ihr Leib blaſenförmig durch eine wäſ- ſerige Flüſſigkeit aufgetrieben iſt, und über ihre ſehr nahe Verwandtſchaft mit den Bandwürmern gab die oberfläch- lichſte Vergleichung ihrer Köpfe längſt Aufſchluß, die eben nichts anders, als wahre Bandwurmköpfe ſind. Als man vor zwanzig Jahren anfing, den Wanderungen der paraſitiſchen Würmer auf die Spur zu kommen, verfiel man auf die Vermuthung, die ſo offenbar mit den Bandwürmern verketteten Blaſenwürmer ſeien nichts anderes, als verirrte, auf ihrer Wanderung in unrechte Organe gelangte Jndividuen, welche dort krank und waſſerſüchtig geworden. Die Finnen alſo, die bekann- teſten aller, ſeien ſtatt in den Darmkanal in das Fleiſch gelangt, wo ſie eigentlich eine recht elende Eriſtenz hätten und ihren Lebenszweck vollſtändig verfehlten. Es iſt das Verdienſt des Dr. Küchen- meiſter in Zittau, die Frage über das Verhältniß der Blaſen- zu den Bandwürmern in das rechte Geleis gebracht und durch überzeugende Nachweiſe und Experimente dahin entſchieden zu haben, daß die Blaſenwurmſorm der normale, einer ganzen Reihe von Bandwürmern eigenthüm-

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 6. Hildburghausen, 1869, S. 748. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben06_1869/792>, abgerufen am 23.11.2024.