ein Reisender neugierig stehen und sucht mit Mühe seine Lettern zu entziffern. Der Ruhm des ehemals so sehr Gefeierten ist fast ganz erloschen; ja vielleicht hat sich eine Menge scharfer Kritiker gefunden, die sein ganzes Leben und Handeln nicht mit Unrecht ver- urtheilen und klar nachweisen, daß die Triebfeder seiner Unternehmungen in seiner enormen Selbstsucht oder in einer anderen Leidenschaft zu suchen ist. Sic transit gloria mundi. So vergeht der Ruhm der Welt.
Wie ganz anders auch hier wieder bei unserm göttlichen Heilande! In seinem Leben und bei seinem Tode erscheint er als der Geringste und Verachtetste der Menschen. In dem Winkel eines armen, zerfallenen Stalles wird er geboren; bis zum dreißigsten Jahre lebte und arbeitete er als unbekannter Zimmermann in einem kleinen, verachteten Städtchen. In der kurzen Zeit seines öffentlichen Lebens mußte er das Brod der Armuth essen, das ihm mildthätige Hände darreichten. Sein Tod endlich ist in die tiefste Schmach eingehüllt; er stirbt auf Golgatha, der Schädelstätte, wo die Ver- brecher hingerichtet wurden; er stirbt in einer Gesell- schaft, die für ihn die größte Schmach sein sollte, nämlich in der Mitte zwischen zwei Straßenräubern; er stirbt mit der Dornenkrone auf dem Haupte, die noch mehr eine Schmach-, als eine Schmerzenskrone war; er stirbt am verachteten Holze des Kreuzes, und das galt in der damaligen Welt als die allertiefste Schmach. Und wie armselig und ruhmlos war dann sein Be- gräbniß! Es ist ohne alle Ehre, ohne allen Glanz und
ein Reisender neugierig stehen und sucht mit Mühe seine Lettern zu entziffern. Der Ruhm des ehemals so sehr Gefeierten ist fast ganz erloschen; ja vielleicht hat sich eine Menge scharfer Kritiker gefunden, die sein ganzes Leben und Handeln nicht mit Unrecht ver- urtheilen und klar nachweisen, daß die Triebfeder seiner Unternehmungen in seiner enormen Selbstsucht oder in einer anderen Leidenschaft zu suchen ist. Sic transit gloria mundi. So vergeht der Ruhm der Welt.
Wie ganz anders auch hier wieder bei unserm göttlichen Heilande! In seinem Leben und bei seinem Tode erscheint er als der Geringste und Verachtetste der Menschen. In dem Winkel eines armen, zerfallenen Stalles wird er geboren; bis zum dreißigsten Jahre lebte und arbeitete er als unbekannter Zimmermann in einem kleinen, verachteten Städtchen. In der kurzen Zeit seines öffentlichen Lebens mußte er das Brod der Armuth essen, das ihm mildthätige Hände darreichten. Sein Tod endlich ist in die tiefste Schmach eingehüllt; er stirbt auf Golgatha, der Schädelstätte, wo die Ver- brecher hingerichtet wurden; er stirbt in einer Gesell- schaft, die für ihn die größte Schmach sein sollte, nämlich in der Mitte zwischen zwei Straßenräubern; er stirbt mit der Dornenkrone auf dem Haupte, die noch mehr eine Schmach–, als eine Schmerzenskrone war; er stirbt am verachteten Holze des Kreuzes, und das galt in der damaligen Welt als die allertiefste Schmach. Und wie armselig und ruhmlos war dann sein Be- gräbniß! Es ist ohne alle Ehre, ohne allen Glanz und
<TEI><text><body><divn="4"><divn="3"><p><pbfacs="#f0100"xml:id="B836_001_1901_pb0088_0001"n="88"/>
ein Reisender neugierig stehen und sucht mit Mühe<lb/>
seine Lettern zu entziffern. Der Ruhm des ehemals<lb/>
so sehr Gefeierten ist fast ganz erloschen; ja vielleicht<lb/>
hat sich eine Menge scharfer Kritiker gefunden, die<lb/>
sein ganzes Leben und Handeln nicht mit Unrecht ver-<lb/>
urtheilen und klar nachweisen, daß die Triebfeder seiner<lb/>
Unternehmungen in seiner enormen Selbstsucht oder in<lb/>
einer anderen Leidenschaft zu suchen ist. <hirendition="#aq">Sic transit<lb/>
gloria mundi</hi>. So vergeht der Ruhm der Welt.</p><p>Wie ganz anders auch hier wieder bei unserm<lb/>
göttlichen Heilande! In seinem Leben und bei seinem<lb/>
Tode erscheint er als der Geringste und Verachtetste<lb/>
der Menschen. In dem Winkel eines armen, zerfallenen<lb/>
Stalles wird er geboren; bis zum dreißigsten Jahre<lb/>
lebte und arbeitete er als unbekannter Zimmermann<lb/>
in einem kleinen, verachteten Städtchen. In der kurzen<lb/>
Zeit seines öffentlichen Lebens mußte er das Brod der<lb/>
Armuth essen, das ihm mildthätige Hände darreichten.<lb/>
Sein Tod endlich ist in die tiefste Schmach eingehüllt;<lb/>
er stirbt auf Golgatha, der Schädelstätte, wo die Ver-<lb/>
brecher hingerichtet wurden; er stirbt in einer Gesell-<lb/>
schaft, die für ihn die größte Schmach sein sollte,<lb/>
nämlich in der Mitte zwischen zwei Straßenräubern;<lb/>
er stirbt mit der Dornenkrone auf dem Haupte, die noch<lb/>
mehr eine Schmach–, als eine Schmerzenskrone war;<lb/>
er stirbt am verachteten Holze des Kreuzes, und das<lb/>
galt in der damaligen Welt als die allertiefste Schmach.<lb/>
Und wie armselig und ruhmlos war dann sein Be-<lb/>
gräbniß! Es ist ohne alle Ehre, ohne allen Glanz und<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[88/0100]
ein Reisender neugierig stehen und sucht mit Mühe
seine Lettern zu entziffern. Der Ruhm des ehemals
so sehr Gefeierten ist fast ganz erloschen; ja vielleicht
hat sich eine Menge scharfer Kritiker gefunden, die
sein ganzes Leben und Handeln nicht mit Unrecht ver-
urtheilen und klar nachweisen, daß die Triebfeder seiner
Unternehmungen in seiner enormen Selbstsucht oder in
einer anderen Leidenschaft zu suchen ist. Sic transit
gloria mundi. So vergeht der Ruhm der Welt.
Wie ganz anders auch hier wieder bei unserm
göttlichen Heilande! In seinem Leben und bei seinem
Tode erscheint er als der Geringste und Verachtetste
der Menschen. In dem Winkel eines armen, zerfallenen
Stalles wird er geboren; bis zum dreißigsten Jahre
lebte und arbeitete er als unbekannter Zimmermann
in einem kleinen, verachteten Städtchen. In der kurzen
Zeit seines öffentlichen Lebens mußte er das Brod der
Armuth essen, das ihm mildthätige Hände darreichten.
Sein Tod endlich ist in die tiefste Schmach eingehüllt;
er stirbt auf Golgatha, der Schädelstätte, wo die Ver-
brecher hingerichtet wurden; er stirbt in einer Gesell-
schaft, die für ihn die größte Schmach sein sollte,
nämlich in der Mitte zwischen zwei Straßenräubern;
er stirbt mit der Dornenkrone auf dem Haupte, die noch
mehr eine Schmach–, als eine Schmerzenskrone war;
er stirbt am verachteten Holze des Kreuzes, und das
galt in der damaligen Welt als die allertiefste Schmach.
Und wie armselig und ruhmlos war dann sein Be-
gräbniß! Es ist ohne alle Ehre, ohne allen Glanz und
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Bremscheid, Matthias von. Der christliche Mann in seinem Glauben und Leben. Mainz, 1901, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bremscheid_mann_1901/100>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.