Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brentano, Clemens: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [107]–162. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

Begierden meiner Brust, die Sterne gehen ewig unbekümmert ihren Weg, wozu suche ich Erquickung und Labung, und von wem suche ich sie und für wen? Alles, was ich hier suche und liebe und erringe, wird es mich je dahin bringen, so ruhig, wie diese gute fromme Seele, die Nacht auf der Schwelle des Hauses zubringen zu können, bis der Morgen erscheint, und werde ich dann den Freund finden, wie sie? Ach, ich werde die Stadt nicht erreichen, ich werde, wegemüde, schon in dem Sande vor dem Thor umsinken und vielleicht gar in die Hände der Räuber fallen. So sprach ich zu mir selbst, und als ich durch den Lindengang mich der Alten wieder näherte, hörte ich sie halb laut mit gesenktem Kopfe vor sich hin beten. Ich war wunderbar gerührt und trat zu ihr hin und sprach: Mit Gott, fromme Mutter, bete Sie auch ein wenig für mich! -- bei welchen Worten ich ihr einen Thaler in die Schürze warf.

Die Alte sagte hierauf ganz ruhig: Hab tausend Dank, mein lieber Herr, daß du mein Gebet erhört.

Ich glaubte, sie spreche mit mir und sagte: Mutter, habt Ihr mich denn um etwas gebeten? ich wüßte nicht.

Da fuhr die Alte überrascht auf und sprach: Lieber Herr, gehe Er doch nach Haus und bete Er fein, und lege Er sich schlafen. Was zieht Er so spät noch auf der Gasse herum? Das ist jungen Gesellen gar Nichts nütze, denn der Feind geht um und suchet, wo er sich Einen erfange. Es ist Mancher durch solch Nachtlaufen

Begierden meiner Brust, die Sterne gehen ewig unbekümmert ihren Weg, wozu suche ich Erquickung und Labung, und von wem suche ich sie und für wen? Alles, was ich hier suche und liebe und erringe, wird es mich je dahin bringen, so ruhig, wie diese gute fromme Seele, die Nacht auf der Schwelle des Hauses zubringen zu können, bis der Morgen erscheint, und werde ich dann den Freund finden, wie sie? Ach, ich werde die Stadt nicht erreichen, ich werde, wegemüde, schon in dem Sande vor dem Thor umsinken und vielleicht gar in die Hände der Räuber fallen. So sprach ich zu mir selbst, und als ich durch den Lindengang mich der Alten wieder näherte, hörte ich sie halb laut mit gesenktem Kopfe vor sich hin beten. Ich war wunderbar gerührt und trat zu ihr hin und sprach: Mit Gott, fromme Mutter, bete Sie auch ein wenig für mich! — bei welchen Worten ich ihr einen Thaler in die Schürze warf.

Die Alte sagte hierauf ganz ruhig: Hab tausend Dank, mein lieber Herr, daß du mein Gebet erhört.

Ich glaubte, sie spreche mit mir und sagte: Mutter, habt Ihr mich denn um etwas gebeten? ich wüßte nicht.

Da fuhr die Alte überrascht auf und sprach: Lieber Herr, gehe Er doch nach Haus und bete Er fein, und lege Er sich schlafen. Was zieht Er so spät noch auf der Gasse herum? Das ist jungen Gesellen gar Nichts nütze, denn der Feind geht um und suchet, wo er sich Einen erfange. Es ist Mancher durch solch Nachtlaufen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0012"/>
Begierden meiner Brust, die Sterne                gehen ewig unbekümmert ihren Weg, wozu suche ich Erquickung und Labung, und von wem                suche ich sie und für wen? Alles, was ich hier suche und liebe und erringe, wird es                mich je dahin bringen, so ruhig, wie diese gute fromme Seele, die Nacht auf der                Schwelle des Hauses zubringen zu können, bis der Morgen erscheint, und werde ich dann                den Freund finden, wie sie? Ach, ich werde die Stadt nicht erreichen, ich werde,                wegemüde, schon in dem Sande vor dem Thor umsinken und vielleicht gar in die Hände                der Räuber fallen. So sprach ich zu mir selbst, und als ich durch den Lindengang mich                der Alten wieder näherte, hörte ich sie halb laut mit gesenktem Kopfe vor sich hin                beten. Ich war wunderbar gerührt und trat zu ihr hin und sprach: Mit Gott, fromme                Mutter, bete Sie auch ein wenig für mich! &#x2014; bei welchen Worten ich ihr einen Thaler                in die Schürze warf.</p><lb/>
        <p>Die Alte sagte hierauf ganz ruhig: Hab tausend Dank, mein lieber Herr, daß du mein                Gebet erhört.</p><lb/>
        <p>Ich glaubte, sie spreche mit mir und sagte: Mutter, habt Ihr mich denn um etwas                gebeten? ich wüßte nicht.</p><lb/>
        <p>Da fuhr die Alte überrascht auf und sprach: Lieber Herr, gehe Er doch nach Haus und                bete Er fein, und lege Er sich schlafen. Was zieht Er so spät noch auf der Gasse                herum? Das ist jungen Gesellen gar Nichts nütze, denn der Feind geht um und suchet,                wo er sich Einen erfange. Es ist Mancher durch solch Nachtlaufen<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0012] Begierden meiner Brust, die Sterne gehen ewig unbekümmert ihren Weg, wozu suche ich Erquickung und Labung, und von wem suche ich sie und für wen? Alles, was ich hier suche und liebe und erringe, wird es mich je dahin bringen, so ruhig, wie diese gute fromme Seele, die Nacht auf der Schwelle des Hauses zubringen zu können, bis der Morgen erscheint, und werde ich dann den Freund finden, wie sie? Ach, ich werde die Stadt nicht erreichen, ich werde, wegemüde, schon in dem Sande vor dem Thor umsinken und vielleicht gar in die Hände der Räuber fallen. So sprach ich zu mir selbst, und als ich durch den Lindengang mich der Alten wieder näherte, hörte ich sie halb laut mit gesenktem Kopfe vor sich hin beten. Ich war wunderbar gerührt und trat zu ihr hin und sprach: Mit Gott, fromme Mutter, bete Sie auch ein wenig für mich! — bei welchen Worten ich ihr einen Thaler in die Schürze warf. Die Alte sagte hierauf ganz ruhig: Hab tausend Dank, mein lieber Herr, daß du mein Gebet erhört. Ich glaubte, sie spreche mit mir und sagte: Mutter, habt Ihr mich denn um etwas gebeten? ich wüßte nicht. Da fuhr die Alte überrascht auf und sprach: Lieber Herr, gehe Er doch nach Haus und bete Er fein, und lege Er sich schlafen. Was zieht Er so spät noch auf der Gasse herum? Das ist jungen Gesellen gar Nichts nütze, denn der Feind geht um und suchet, wo er sich Einen erfange. Es ist Mancher durch solch Nachtlaufen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-14T13:27:19Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-14T13:27:19Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: nein; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_annerl_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_annerl_1910/12
Zitationshilfe: Brentano, Clemens: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [107]–162. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_annerl_1910/12>, abgerufen am 23.11.2024.