Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brentano, Clemens: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [107]–162. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

am Leib, und wenn sie ein Bursche einmal ein wenig derb beim Tanze anfaßte oder sie etwa höher als den Steg der Baßgeige schwang, so konnte sie bitterlich darüber bei mir weinen, und sprach dabei immer: Es sei wider ihre Ehre. Ach, das Annerl ist ein eigenes Mädchen immer gewesen. Manchmal, wenn kein Mensch es sich versah, fuhr sie mit beiden Händen nach ihrer Schürze und riß sie sich vom Leib, als ob Feuer drin sei, und dann fing sie gleich entsetzlich an zu weinen. Aber das hat seine Ursache, es hat sie mit Zähnen hingerissen, der Feind ruht nicht. Wäre das Kind nur nicht stets so hinter der Ehre her gewesen, und hätte sich lieber an unsern lieben Gott gehalten, hätte ihn nie von sich gelassen in aller Noth und hätte seinetwillen Schande und Verachtung ertragen statt ihrer Menschenehre: der Herr hätte sich gewiß erbarmt, und wird es auch noch. Ach, sie kommen gewiß zusammen. Gottes Wille geschehe!

Der Uhlane stand wieder in Frankreich, er hatte lange nicht geschrieben, und wir glaubten ihn fast todt und weinten oft um ihn. Er war aber im Hospital an einer schweren Blessur krank gelegen, und als er wieder zu seinen Kameraden kam und zum Unteroffizier ernannt wurde, fiel ihm ein, daß ihm vor zwei Jahren sein Stiefbruder so übers Maul gefahren: Er sei nur Gemeiner und der Vater Corporal, und dann die Geschichte von dem französischen Unteroffizier, und wie er seinem Annerl von der Ehre so viel geredet, als er Abschied

am Leib, und wenn sie ein Bursche einmal ein wenig derb beim Tanze anfaßte oder sie etwa höher als den Steg der Baßgeige schwang, so konnte sie bitterlich darüber bei mir weinen, und sprach dabei immer: Es sei wider ihre Ehre. Ach, das Annerl ist ein eigenes Mädchen immer gewesen. Manchmal, wenn kein Mensch es sich versah, fuhr sie mit beiden Händen nach ihrer Schürze und riß sie sich vom Leib, als ob Feuer drin sei, und dann fing sie gleich entsetzlich an zu weinen. Aber das hat seine Ursache, es hat sie mit Zähnen hingerissen, der Feind ruht nicht. Wäre das Kind nur nicht stets so hinter der Ehre her gewesen, und hätte sich lieber an unsern lieben Gott gehalten, hätte ihn nie von sich gelassen in aller Noth und hätte seinetwillen Schande und Verachtung ertragen statt ihrer Menschenehre: der Herr hätte sich gewiß erbarmt, und wird es auch noch. Ach, sie kommen gewiß zusammen. Gottes Wille geschehe!

Der Uhlane stand wieder in Frankreich, er hatte lange nicht geschrieben, und wir glaubten ihn fast todt und weinten oft um ihn. Er war aber im Hospital an einer schweren Blessur krank gelegen, und als er wieder zu seinen Kameraden kam und zum Unteroffizier ernannt wurde, fiel ihm ein, daß ihm vor zwei Jahren sein Stiefbruder so übers Maul gefahren: Er sei nur Gemeiner und der Vater Corporal, und dann die Geschichte von dem französischen Unteroffizier, und wie er seinem Annerl von der Ehre so viel geredet, als er Abschied

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0025"/>
am Leib, und wenn sie ein                Bursche einmal ein wenig derb beim Tanze anfaßte oder sie etwa höher als den Steg der                Baßgeige schwang, so konnte sie bitterlich darüber bei mir weinen, und sprach dabei                immer: Es sei wider ihre Ehre. Ach, das Annerl ist ein eigenes Mädchen immer gewesen.                Manchmal, wenn kein Mensch es sich versah, fuhr sie mit beiden Händen nach ihrer                Schürze und riß sie sich vom Leib, als ob Feuer drin sei, und dann fing sie gleich                entsetzlich an zu weinen. Aber das hat seine Ursache, es hat sie mit Zähnen                hingerissen, der Feind ruht nicht. Wäre das Kind nur nicht stets so hinter der Ehre                her gewesen, und hätte sich lieber an unsern lieben Gott gehalten, hätte ihn nie von                sich gelassen in aller Noth und hätte seinetwillen Schande und Verachtung ertragen                statt ihrer Menschenehre: der Herr hätte sich gewiß erbarmt, und wird es auch noch.                Ach, sie kommen gewiß zusammen. Gottes Wille geschehe!</p><lb/>
        <p>Der Uhlane stand wieder in Frankreich, er hatte lange nicht geschrieben, und wir                glaubten ihn fast todt und weinten oft um ihn. Er war aber im Hospital an einer                schweren Blessur krank gelegen, und als er wieder zu seinen Kameraden kam und zum                Unteroffizier ernannt wurde, fiel ihm ein, daß ihm vor zwei Jahren sein Stiefbruder                so übers Maul gefahren: Er sei nur Gemeiner und der Vater Corporal, und dann die                Geschichte von dem französischen Unteroffizier, und wie er seinem Annerl von der Ehre                so viel geredet, als er Abschied<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0025] am Leib, und wenn sie ein Bursche einmal ein wenig derb beim Tanze anfaßte oder sie etwa höher als den Steg der Baßgeige schwang, so konnte sie bitterlich darüber bei mir weinen, und sprach dabei immer: Es sei wider ihre Ehre. Ach, das Annerl ist ein eigenes Mädchen immer gewesen. Manchmal, wenn kein Mensch es sich versah, fuhr sie mit beiden Händen nach ihrer Schürze und riß sie sich vom Leib, als ob Feuer drin sei, und dann fing sie gleich entsetzlich an zu weinen. Aber das hat seine Ursache, es hat sie mit Zähnen hingerissen, der Feind ruht nicht. Wäre das Kind nur nicht stets so hinter der Ehre her gewesen, und hätte sich lieber an unsern lieben Gott gehalten, hätte ihn nie von sich gelassen in aller Noth und hätte seinetwillen Schande und Verachtung ertragen statt ihrer Menschenehre: der Herr hätte sich gewiß erbarmt, und wird es auch noch. Ach, sie kommen gewiß zusammen. Gottes Wille geschehe! Der Uhlane stand wieder in Frankreich, er hatte lange nicht geschrieben, und wir glaubten ihn fast todt und weinten oft um ihn. Er war aber im Hospital an einer schweren Blessur krank gelegen, und als er wieder zu seinen Kameraden kam und zum Unteroffizier ernannt wurde, fiel ihm ein, daß ihm vor zwei Jahren sein Stiefbruder so übers Maul gefahren: Er sei nur Gemeiner und der Vater Corporal, und dann die Geschichte von dem französischen Unteroffizier, und wie er seinem Annerl von der Ehre so viel geredet, als er Abschied

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-14T13:27:19Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-14T13:27:19Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: nein; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_annerl_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_annerl_1910/25
Zitationshilfe: Brentano, Clemens: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [107]–162. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_annerl_1910/25>, abgerufen am 03.12.2024.