Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brentano, Clemens: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [107]–162. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

Unter diesen Worten waren wir mit dem Prediger zusammengetroffen. Die Alte erzählte ihr Verhältniß zu der Gefangenen, und er nahm sie freundlich mit zum Gefängniß. Ich aber eilte nun, wie ich noch nie gelaufen, nach dem Schloß, und es machte mir einen tröstenden Eindruck, es war mir wie ein Zeichen der Hoffnung, als ich an Graf Grossinger's Hause vorüberstürzte und aus einem offenen Fenster des Gartenhauses eine liebliche Stimme zur Laute singen hörte:

"Die Gnade sprach von Liebe, Die Ehre aber wacht, Und wünscht voll Lieb' der Gnade In Ehren gute Nacht.
Die Gnade nimmt den Schleier, Wenn Liebe Rosen gibt, Die Ehre grüßt den Freier, Weil sie die Gnade liebt."

Ach, ich hatte der guten Wahrzeichen noch mehr! Einhundert Schritte weiter fand ich einen weißen Schleier auf der Straße liegend: ich raffte ihn auf, er war voll von duftenden Rosen. Ich hielt ihn in der Hand und lief weiter, mit dem Gedanken: Ach, Gott, das ist die Gnade. Als ich um die Ecke bog, sah ich einen Mann, der sich in seinen Mantel verhüllte, als ich vor ihm vorüber eilte, und mir heftig den Rücken wandte, um nicht gesehen zu werden. Er hätte es nicht nöthig gehabt, ich sah und hörte Nichts in meinem Innern, als: Gnade, Gnade! und stürzte durch das Gitterthor in den

Unter diesen Worten waren wir mit dem Prediger zusammengetroffen. Die Alte erzählte ihr Verhältniß zu der Gefangenen, und er nahm sie freundlich mit zum Gefängniß. Ich aber eilte nun, wie ich noch nie gelaufen, nach dem Schloß, und es machte mir einen tröstenden Eindruck, es war mir wie ein Zeichen der Hoffnung, als ich an Graf Grossinger's Hause vorüberstürzte und aus einem offenen Fenster des Gartenhauses eine liebliche Stimme zur Laute singen hörte:

„Die Gnade sprach von Liebe, Die Ehre aber wacht, Und wünscht voll Lieb' der Gnade In Ehren gute Nacht.
Die Gnade nimmt den Schleier, Wenn Liebe Rosen gibt, Die Ehre grüßt den Freier, Weil sie die Gnade liebt.“

Ach, ich hatte der guten Wahrzeichen noch mehr! Einhundert Schritte weiter fand ich einen weißen Schleier auf der Straße liegend: ich raffte ihn auf, er war voll von duftenden Rosen. Ich hielt ihn in der Hand und lief weiter, mit dem Gedanken: Ach, Gott, das ist die Gnade. Als ich um die Ecke bog, sah ich einen Mann, der sich in seinen Mantel verhüllte, als ich vor ihm vorüber eilte, und mir heftig den Rücken wandte, um nicht gesehen zu werden. Er hätte es nicht nöthig gehabt, ich sah und hörte Nichts in meinem Innern, als: Gnade, Gnade! und stürzte durch das Gitterthor in den

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0048"/>
        <p>Unter diesen Worten waren wir mit dem Prediger zusammengetroffen. Die Alte erzählte                ihr Verhältniß zu der Gefangenen, und er nahm sie freundlich mit zum Gefängniß. Ich                aber eilte nun, wie ich noch nie gelaufen, nach dem Schloß, und es machte mir einen                tröstenden Eindruck, es war mir wie ein Zeichen der Hoffnung, als ich an Graf                Grossinger's Hause vorüberstürzte und aus einem offenen Fenster des Gartenhauses eine                liebliche Stimme zur Laute singen hörte:</p><lb/>
        <lg type="poem">
          <lg n="1">
            <l>&#x201E;Die Gnade sprach von Liebe,</l>
            <l>Die Ehre aber wacht,</l>
            <l>Und wünscht voll Lieb' der Gnade</l>
            <l>In Ehren gute Nacht.</l>
          </lg>
          <lg n="2">
            <l>Die Gnade nimmt den Schleier,</l>
            <l>Wenn Liebe Rosen gibt,</l>
            <l>Die Ehre grüßt den Freier,</l>
            <l>Weil sie die Gnade liebt.&#x201C;</l>
          </lg>
        </lg>
        <p>Ach, ich hatte der guten Wahrzeichen noch mehr! Einhundert Schritte weiter fand ich                einen weißen Schleier auf der Straße liegend: ich raffte ihn auf, er war voll von                duftenden Rosen. Ich hielt ihn in der Hand und lief weiter, mit dem Gedanken: Ach,                Gott, das ist die Gnade. Als ich um die Ecke bog, sah ich einen Mann, der sich in                seinen Mantel verhüllte, als ich vor ihm vorüber eilte, und mir heftig den Rücken                wandte, um nicht gesehen zu werden. Er hätte es nicht nöthig gehabt, ich sah und                hörte Nichts in meinem Innern, als: Gnade, Gnade! und stürzte durch das Gitterthor in                den<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0048] Unter diesen Worten waren wir mit dem Prediger zusammengetroffen. Die Alte erzählte ihr Verhältniß zu der Gefangenen, und er nahm sie freundlich mit zum Gefängniß. Ich aber eilte nun, wie ich noch nie gelaufen, nach dem Schloß, und es machte mir einen tröstenden Eindruck, es war mir wie ein Zeichen der Hoffnung, als ich an Graf Grossinger's Hause vorüberstürzte und aus einem offenen Fenster des Gartenhauses eine liebliche Stimme zur Laute singen hörte: „Die Gnade sprach von Liebe, Die Ehre aber wacht, Und wünscht voll Lieb' der Gnade In Ehren gute Nacht. Die Gnade nimmt den Schleier, Wenn Liebe Rosen gibt, Die Ehre grüßt den Freier, Weil sie die Gnade liebt.“ Ach, ich hatte der guten Wahrzeichen noch mehr! Einhundert Schritte weiter fand ich einen weißen Schleier auf der Straße liegend: ich raffte ihn auf, er war voll von duftenden Rosen. Ich hielt ihn in der Hand und lief weiter, mit dem Gedanken: Ach, Gott, das ist die Gnade. Als ich um die Ecke bog, sah ich einen Mann, der sich in seinen Mantel verhüllte, als ich vor ihm vorüber eilte, und mir heftig den Rücken wandte, um nicht gesehen zu werden. Er hätte es nicht nöthig gehabt, ich sah und hörte Nichts in meinem Innern, als: Gnade, Gnade! und stürzte durch das Gitterthor in den

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-14T13:27:19Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-14T13:27:19Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: nein; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_annerl_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_annerl_1910/48
Zitationshilfe: Brentano, Clemens: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [107]–162. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_annerl_1910/48>, abgerufen am 21.11.2024.