Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brentano, Clemens: Gockel, Hinkel und Gackeleia. Frankfurt, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

nig, gegen den sich Keiner erheben darf" -- aber dennoch
fürchtet der Löwe, der Niemanden fürchtet, den Hahn und
fliehet vor seinem Anblick und Geschrei; denn der Feind, der
umhergeht wie ein brüllender Löwe und suchet, wie er uns
verschlinge, fliehet vor dem Rufe des Wächters, der das
Gewissen erwecket, auf daß wir uns rüsten zum Kampf.
Darum auch ward kein Thier so erhöhet; die weisesten Män¬
ner setzen sein goldenes Bild hoch auf die Spitzen der Thür¬
me über das Kreuz, daß bei dem Wächter wohne der War¬
ner und Wächter. So auch steht des Hahnen Bild auf dem
Deckel des ABC-Buchs, die Schüler zu mahnen, daß sie früh
aufstehen sollen, zu lernen. O wie löblich ist das Beispiel
des Hahnen! Ehe er kräht, die Menschen vom Schlafe zu
wecken, schlägt er sich selbst ermunternd mit den Flügeln in
die Seite, anzeigend, wie ein Lehrer der Wahrheit sich selbst
der Tugend bestreben soll, ehe er sie anderen lehret. Stolz
ist der Hahn, der Sterne kundig, und richtet oft seine Blicke
zum Himmel; sein Schrei ist prophetisch, er kündet das
Wetter und die Zeit. Ein Vogel der Wachsamkeit, ein
Kämpfer, ein Sieger wird er von den Kriegsleuten auf den
Rüstwagen gesetzt, daß sie sich zurufen und ablösen zu ge¬
messener Zeit. So es dämmert und der Hahn mit den Hüh¬
nern zu ruhen sich auf die Stange setzt, stellen sie die Nacht¬
wache aus. Drei Stunden vor Mitternacht regt sich der
Hahn, und die Wache wird gewechselt; um die Mitternacht
beginnt er zu krähen, sie stellen die dritte Wache aus, und
drei Stunden gen Morgen rufet sein tagverkündender Schrei
die vierte Wache auf ihre Stelle. Ein Ritter ist der Hahn,
sein Haupt ist geziert mit Busch und rother Helmdecke und
ein purpurnes Ordensband schimmert an seinem Halse; stark
ist seine Brust wie ein Harnisch im Streit, und sein Fuß ist
bespornt. Keine Kränkung seiner Damen duldet er, kämpft
gegen den eindringenden Fremdling auf Tod und Leben und
selbst blutend verkündet er seinen Sieg stolz emporgerichtet

nig, gegen den ſich Keiner erheben darf“ — aber dennoch
fuͤrchtet der Loͤwe, der Niemanden fuͤrchtet, den Hahn und
fliehet vor ſeinem Anblick und Geſchrei; denn der Feind, der
umhergeht wie ein bruͤllender Loͤwe und ſuchet, wie er uns
verſchlinge, fliehet vor dem Rufe des Waͤchters, der das
Gewiſſen erwecket, auf daß wir uns ruͤſten zum Kampf.
Darum auch ward kein Thier ſo erhoͤhet; die weiſeſten Maͤn¬
ner ſetzen ſein goldenes Bild hoch auf die Spitzen der Thuͤr¬
me uͤber das Kreuz, daß bei dem Waͤchter wohne der War¬
ner und Waͤchter. So auch ſteht des Hahnen Bild auf dem
Deckel des ABC-Buchs, die Schuͤler zu mahnen, daß ſie fruͤh
aufſtehen ſollen, zu lernen. O wie loͤblich iſt das Beiſpiel
des Hahnen! Ehe er kraͤht, die Menſchen vom Schlafe zu
wecken, ſchlaͤgt er ſich ſelbſt ermunternd mit den Fluͤgeln in
die Seite, anzeigend, wie ein Lehrer der Wahrheit ſich ſelbſt
der Tugend beſtreben ſoll, ehe er ſie anderen lehret. Stolz
iſt der Hahn, der Sterne kundig, und richtet oft ſeine Blicke
zum Himmel; ſein Schrei iſt prophetiſch, er kuͤndet das
Wetter und die Zeit. Ein Vogel der Wachſamkeit, ein
Kaͤmpfer, ein Sieger wird er von den Kriegsleuten auf den
Ruͤſtwagen geſetzt, daß ſie ſich zurufen und abloͤſen zu ge¬
meſſener Zeit. So es daͤmmert und der Hahn mit den Huͤh¬
nern zu ruhen ſich auf die Stange ſetzt, ſtellen ſie die Nacht¬
wache aus. Drei Stunden vor Mitternacht regt ſich der
Hahn, und die Wache wird gewechſelt; um die Mitternacht
beginnt er zu kraͤhen, ſie ſtellen die dritte Wache aus, und
drei Stunden gen Morgen rufet ſein tagverkuͤndender Schrei
die vierte Wache auf ihre Stelle. Ein Ritter iſt der Hahn,
ſein Haupt iſt geziert mit Buſch und rother Helmdecke und
ein purpurnes Ordensband ſchimmert an ſeinem Halſe; ſtark
iſt ſeine Bruſt wie ein Harniſch im Streit, und ſein Fuß iſt
beſpornt. Keine Kraͤnkung ſeiner Damen duldet er, kaͤmpft
gegen den eindringenden Fremdling auf Tod und Leben und
ſelbſt blutend verkuͤndet er ſeinen Sieg ſtolz emporgerichtet

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0099" n="69"/>
nig, gegen den &#x017F;ich Keiner erheben darf&#x201C; &#x2014; aber dennoch<lb/>
fu&#x0364;rchtet der Lo&#x0364;we, der Niemanden fu&#x0364;rchtet, den Hahn und<lb/>
fliehet vor &#x017F;einem Anblick und Ge&#x017F;chrei; denn der Feind, der<lb/>
umhergeht wie ein bru&#x0364;llender Lo&#x0364;we und &#x017F;uchet, wie er uns<lb/>
ver&#x017F;chlinge, fliehet vor dem Rufe des Wa&#x0364;chters, der das<lb/>
Gewi&#x017F;&#x017F;en erwecket, auf daß wir uns ru&#x0364;&#x017F;ten zum Kampf.<lb/>
Darum auch ward kein Thier &#x017F;o erho&#x0364;het; die wei&#x017F;e&#x017F;ten Ma&#x0364;<lb/>
ner &#x017F;etzen &#x017F;ein goldenes Bild hoch auf die Spitzen der Thu&#x0364;<lb/>
me u&#x0364;ber das Kreuz, daß bei dem Wa&#x0364;chter wohne der War¬<lb/>
ner und Wa&#x0364;chter. So auch &#x017F;teht des Hahnen Bild auf dem<lb/>
Deckel des ABC-Buchs, die Schu&#x0364;ler zu mahnen, daß &#x017F;ie fru&#x0364;h<lb/>
auf&#x017F;tehen &#x017F;ollen, zu lernen. O wie lo&#x0364;blich i&#x017F;t das Bei&#x017F;piel<lb/>
des Hahnen! Ehe er kra&#x0364;ht, die Men&#x017F;chen vom Schlafe zu<lb/>
wecken, &#x017F;chla&#x0364;gt er &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t ermunternd mit den Flu&#x0364;geln in<lb/>
die Seite, anzeigend, wie ein Lehrer der Wahrheit &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
der Tugend be&#x017F;treben &#x017F;oll, ehe er &#x017F;ie anderen lehret. Stolz<lb/>
i&#x017F;t der Hahn, der Sterne kundig, und richtet oft &#x017F;eine Blicke<lb/>
zum Himmel; &#x017F;ein Schrei i&#x017F;t propheti&#x017F;ch, er ku&#x0364;ndet das<lb/>
Wetter und die Zeit. Ein Vogel der Wach&#x017F;amkeit, ein<lb/>
Ka&#x0364;mpfer, ein Sieger wird er von den Kriegsleuten auf den<lb/>
Ru&#x0364;&#x017F;twagen ge&#x017F;etzt, daß &#x017F;ie &#x017F;ich zurufen und ablo&#x0364;&#x017F;en zu ge¬<lb/>
me&#x017F;&#x017F;ener Zeit. So es da&#x0364;mmert und der Hahn mit den Hu&#x0364;<lb/>
nern zu ruhen &#x017F;ich auf die Stange &#x017F;etzt, &#x017F;tellen &#x017F;ie die Nacht¬<lb/>
wache aus. Drei Stunden vor Mitternacht regt &#x017F;ich der<lb/>
Hahn, und die Wache wird gewech&#x017F;elt; um die Mitternacht<lb/>
beginnt er zu kra&#x0364;hen, &#x017F;ie &#x017F;tellen die dritte Wache aus, und<lb/>
drei Stunden gen Morgen rufet &#x017F;ein tagverku&#x0364;ndender Schrei<lb/>
die vierte Wache auf ihre Stelle. Ein Ritter i&#x017F;t der Hahn,<lb/>
&#x017F;ein Haupt i&#x017F;t geziert mit Bu&#x017F;ch und rother Helmdecke und<lb/>
ein purpurnes Ordensband &#x017F;chimmert an &#x017F;einem Hal&#x017F;e; &#x017F;tark<lb/>
i&#x017F;t &#x017F;eine Bru&#x017F;t wie ein Harni&#x017F;ch im Streit, und &#x017F;ein Fuß i&#x017F;t<lb/>
be&#x017F;pornt. Keine Kra&#x0364;nkung &#x017F;einer Damen duldet er, ka&#x0364;mpft<lb/>
gegen den eindringenden Fremdling auf Tod und Leben und<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t blutend verku&#x0364;ndet er &#x017F;einen Sieg &#x017F;tolz emporgerichtet<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[69/0099] nig, gegen den ſich Keiner erheben darf“ — aber dennoch fuͤrchtet der Loͤwe, der Niemanden fuͤrchtet, den Hahn und fliehet vor ſeinem Anblick und Geſchrei; denn der Feind, der umhergeht wie ein bruͤllender Loͤwe und ſuchet, wie er uns verſchlinge, fliehet vor dem Rufe des Waͤchters, der das Gewiſſen erwecket, auf daß wir uns ruͤſten zum Kampf. Darum auch ward kein Thier ſo erhoͤhet; die weiſeſten Maͤn¬ ner ſetzen ſein goldenes Bild hoch auf die Spitzen der Thuͤr¬ me uͤber das Kreuz, daß bei dem Waͤchter wohne der War¬ ner und Waͤchter. So auch ſteht des Hahnen Bild auf dem Deckel des ABC-Buchs, die Schuͤler zu mahnen, daß ſie fruͤh aufſtehen ſollen, zu lernen. O wie loͤblich iſt das Beiſpiel des Hahnen! Ehe er kraͤht, die Menſchen vom Schlafe zu wecken, ſchlaͤgt er ſich ſelbſt ermunternd mit den Fluͤgeln in die Seite, anzeigend, wie ein Lehrer der Wahrheit ſich ſelbſt der Tugend beſtreben ſoll, ehe er ſie anderen lehret. Stolz iſt der Hahn, der Sterne kundig, und richtet oft ſeine Blicke zum Himmel; ſein Schrei iſt prophetiſch, er kuͤndet das Wetter und die Zeit. Ein Vogel der Wachſamkeit, ein Kaͤmpfer, ein Sieger wird er von den Kriegsleuten auf den Ruͤſtwagen geſetzt, daß ſie ſich zurufen und abloͤſen zu ge¬ meſſener Zeit. So es daͤmmert und der Hahn mit den Huͤh¬ nern zu ruhen ſich auf die Stange ſetzt, ſtellen ſie die Nacht¬ wache aus. Drei Stunden vor Mitternacht regt ſich der Hahn, und die Wache wird gewechſelt; um die Mitternacht beginnt er zu kraͤhen, ſie ſtellen die dritte Wache aus, und drei Stunden gen Morgen rufet ſein tagverkuͤndender Schrei die vierte Wache auf ihre Stelle. Ein Ritter iſt der Hahn, ſein Haupt iſt geziert mit Buſch und rother Helmdecke und ein purpurnes Ordensband ſchimmert an ſeinem Halſe; ſtark iſt ſeine Bruſt wie ein Harniſch im Streit, und ſein Fuß iſt beſpornt. Keine Kraͤnkung ſeiner Damen duldet er, kaͤmpft gegen den eindringenden Fremdling auf Tod und Leben und ſelbſt blutend verkuͤndet er ſeinen Sieg ſtolz emporgerichtet

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_gockel_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_gockel_1838/99
Zitationshilfe: Brentano, Clemens: Gockel, Hinkel und Gackeleia. Frankfurt, 1838, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_gockel_1838/99>, abgerufen am 22.11.2024.