Daß die Töne, die wir spüren, Durch die Sel' in unserm Ohr, Und nicht auswärts, sich formiren, Stellet dieses deutlich vor: Wenn ein Fluß das Haupt verstopfet, Hör't man, wie es braus't und klopfet, Welches nicht von aussen klingt, Sondern in uns selbst entspringt.
88.
Viele, ja die meisten lehren, Und die Lehr scheint wahr zu seyn, Daß Hirn, Nerv' und Ohr nicht hören; Sondern daß die Sel' allein, Wenn ein Schall die Lüfte rühret, Nichts, als die Bewegung, spüret: Aber selbst durch eig'ne Kraft Jeden Ton formir't und schafft.
89.
Wenn wir auf der Schaubühn' hören, Daß man jammert, seufzt und klag't, Und, an statt uns zu beschweren, Solch ein Klagen uns behag't, Weil es keine wahre Schmerzen; Sehn wir, daß in unserm Herzen Nicht der Ton den Reiz gebiert, Nein, daß ihn der Geist formir't.
90. Kann
87.
Daß die Toͤne, die wir ſpuͤren, Durch die Sel’ in unſerm Ohr, Und nicht auswaͤrts, ſich formiren, Stellet dieſes deutlich vor: Wenn ein Fluß das Haupt verſtopfet, Hoͤr’t man, wie es brauſ’t und klopfet, Welches nicht von auſſen klingt, Sondern in uns ſelbſt entſpringt.
88.
Viele, ja die meiſten lehren, Und die Lehr ſcheint wahr zu ſeyn, Daß Hirn, Nerv’ und Ohr nicht hoͤren; Sondern daß die Sel’ allein, Wenn ein Schall die Luͤfte ruͤhret, Nichts, als die Bewegung, ſpuͤret: Aber ſelbſt durch eig’ne Kraft Jeden Ton formir’t und ſchafft.
89.
Wenn wir auf der Schaubuͤhn’ hoͤren, Daß man jammert, ſeufzt und klag’t, Und, an ſtatt uns zu beſchweren, Solch ein Klagen uns behag’t, Weil es keine wahre Schmerzen; Sehn wir, daß in unſerm Herzen Nicht der Ton den Reiz gebiert, Nein, daß ihn der Geiſt formir’t.
90. Kann
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87.
Daß die Toͤne, die wir ſpuͤren,
Durch die Sel’ in unſerm Ohr,
Und nicht auswaͤrts, ſich formiren,
Stellet dieſes deutlich vor:
Wenn ein Fluß das Haupt verſtopfet,
Hoͤr’t man, wie es brauſ’t und klopfet,
Welches nicht von auſſen klingt,
Sondern in uns ſelbſt entſpringt.
88.
Viele, ja die meiſten lehren,
Und die Lehr ſcheint wahr zu ſeyn,
Daß Hirn, Nerv’ und Ohr nicht hoͤren;
Sondern daß die Sel’ allein,
Wenn ein Schall die Luͤfte ruͤhret,
Nichts, als die Bewegung, ſpuͤret:
Aber ſelbſt durch eig’ne Kraft
Jeden Ton formir’t und ſchafft.
89.
Wenn wir auf der Schaubuͤhn’ hoͤren,
Daß man jammert, ſeufzt und klag’t,
Und, an ſtatt uns zu beſchweren,
Solch ein Klagen uns behag’t,
Weil es keine wahre Schmerzen;
Sehn wir, daß in unſerm Herzen
Nicht der Ton den Reiz gebiert,
Nein, daß ihn der Geiſt formir’t.
90. Kann
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Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott. Bd. 2. Hamburg, 1727, S. 315. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen02_1727/351>, abgerufen am 22.11.2024.
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