Vom fernen Vorwurf merckt man, daß er ferne liege, Wenn man von ihm verspüret, Daß seine Farben und die Züge Viel schwächer anzusehn, Und daß er uns nicht mehr so kräfftig rühret, Als wie von ihm, da er uns nah, geschehn.
Und weil man auch durch den Gebrauch gelernt, Daß Cörper, die von uns entfernt, So deutlich nicht, und nicht so groß erscheinen, Als wenn die Blicke sich mit ihnen nah vereinen: Dadurch, daß wir den Stand von ihrer Grösse kennen, Und daß man ihre Züg' und Farben schwinden sieht; Beurtheilt ein Gemüth, Durch die erkannte Gröss' auch ihrer Weite Stand, So wie durch ihre Fern die Grösse wird erkannt.
Noch ein' Erfahrung, die gemein, Heisst uns Anmerckungen und Schlüsse machen. Wir finden, daß wir offt betrogen seyn, Wenn wir auf einen Vorwurf sehn, Und daß sodann verschiedne Sachen Dazwischen stehn; So scheinet es, als ob die Weite Sich noch vergrösserte: hingegen Befindet man, daß wir uns auch zu irren pflegen, Wenn, zwischen uns und den von fern gesehnen Höhen, Sich flache Felder und in Gründen Vertieffte Thäler finden;
So
Von dem Geſicht.
Vom fernen Vorwurf merckt man, daß er ferne liege, Wenn man von ihm verſpuͤret, Daß ſeine Farben und die Zuͤge Viel ſchwaͤcher anzuſehn, Und daß er uns nicht mehr ſo kraͤfftig ruͤhret, Als wie von ihm, da er uns nah, geſchehn.
Und weil man auch durch den Gebrauch gelernt, Daß Coͤrper, die von uns entfernt, So deutlich nicht, und nicht ſo groß erſcheinen, Als wenn die Blicke ſich mit ihnen nah vereinen: Dadurch, daß wir den Stand von ihrer Groͤſſe kennen, Und daß man ihre Zuͤg’ und Farben ſchwinden ſieht; Beurtheilt ein Gemuͤth, Durch die erkannte Groͤſſ’ auch ihrer Weite Stand, So wie durch ihre Fern die Groͤſſe wird erkannt.
Noch ein’ Erfahrung, die gemein, Heiſſt uns Anmerckungen und Schluͤſſe machen. Wir finden, daß wir offt betrogen ſeyn, Wenn wir auf einen Vorwurf ſehn, Und daß ſodann verſchiedne Sachen Dazwiſchen ſtehn; So ſcheinet es, als ob die Weite Sich noch vergroͤſſerte: hingegen Befindet man, daß wir uns auch zu irren pflegen, Wenn, zwiſchen uns und den von fern geſehnen Hoͤhen, Sich flache Felder und in Gruͤnden Vertieffte Thaͤler finden;
So
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[475/0505]
Von dem Geſicht.
Vom fernen Vorwurf merckt man, daß er ferne liege,
Wenn man von ihm verſpuͤret,
Daß ſeine Farben und die Zuͤge
Viel ſchwaͤcher anzuſehn,
Und daß er uns nicht mehr ſo kraͤfftig ruͤhret,
Als wie von ihm, da er uns nah, geſchehn.
Und weil man auch durch den Gebrauch gelernt,
Daß Coͤrper, die von uns entfernt,
So deutlich nicht, und nicht ſo groß erſcheinen,
Als wenn die Blicke ſich mit ihnen nah vereinen:
Dadurch, daß wir den Stand von ihrer Groͤſſe kennen,
Und daß man ihre Zuͤg’ und Farben ſchwinden ſieht;
Beurtheilt ein Gemuͤth,
Durch die erkannte Groͤſſ’ auch ihrer Weite Stand,
So wie durch ihre Fern die Groͤſſe wird erkannt.
Noch ein’ Erfahrung, die gemein,
Heiſſt uns Anmerckungen und Schluͤſſe machen.
Wir finden, daß wir offt betrogen ſeyn,
Wenn wir auf einen Vorwurf ſehn,
Und daß ſodann verſchiedne Sachen
Dazwiſchen ſtehn;
So ſcheinet es, als ob die Weite
Sich noch vergroͤſſerte: hingegen
Befindet man, daß wir uns auch zu irren pflegen,
Wenn, zwiſchen uns und den von fern geſehnen Hoͤhen,
Sich flache Felder und in Gruͤnden
Vertieffte Thaͤler finden;
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Brockes, Barthold Heinrich: Herrn B. H. Brockes, [...] verdeutschte Grund-Sätze der Welt-Weisheit, des Herrn Abts Genest. Bd. 3. 2. Aufl. Hamburg, 1730, S. 475. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen03_1730/505>, abgerufen am 21.11.2024.
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