Des Cörpers Schirm-Dach war? Wenn Thier' und Menschen sterben, Und ihre Glieder all verwesen und verderben, Heisst dieses nicht vergehn? Die Thaten, die bereits vor mehr als hundert Jahren Vergessen waren, Die sollen, denck ich ja, wol nicht noch ietzt bestehn? Wie manche Regiment' und Reiche sind verdrungen Von denen folgenden! hat nicht die dicke Nacht Des grauen Alterthums so manches Scepters Pracht, So manchen tapffern Arm, der ihn geführt, verschlungen, Jn Asch und Grauß gestürtzt? Ja! dieß ist alles wahr. Doch ist die Frage nur, ob sie für uns allein Richt bloß vergangen seyn; Und ob dasjenige, was wir, von ihrem Wesen, Jn alten Schriften lesen, Zwar durch die Flüchtigkeit der Cörper uns entrissen, Zwar wie ein schneller Strom vorüber fliessen müssen; Der aber, ob er gleich beständig fortgeschossen, Und alles mit sich fortgeführt, Was seine strenge Fluth berührt; Dennoch, nachdem er weit, entsetzlich weit, geflossen, Sich nicht vernichtiget, wol aber in das Meer Der Unvergänglichkeit sich sanft ergossen; Wo er, vor Dessen Blick, vor Welchem nichts vergehet, Ohn Ende, gegenwärtig stehet.
Vergienge sämmtlich das, was zu vergehen scheint, So würden gut' und böse Thaten, Ja alles, in ein Nichts gerathen. Was nun hieraus entstünd', ist ärger, als man meint.
Schau,
bey dem 1729. Jahres-Wechſel ꝛc.
Des Coͤrpers Schirm-Dach war? Wenn Thier’ und Menſchen ſterben, Und ihre Glieder all verweſen und verderben, Heiſſt dieſes nicht vergehn? Die Thaten, die bereits vor mehr als hundert Jahren Vergeſſen waren, Die ſollen, denck ich ja, wol nicht noch ietzt beſtehn? Wie manche Regiment’ und Reiche ſind verdrungen Von denen folgenden! hat nicht die dicke Nacht Des grauen Alterthums ſo manches Scepters Pracht, So manchen tapffern Arm, der ihn gefuͤhrt, verſchlungen, Jn Aſch und Grauß geſtuͤrtzt? Ja! dieß iſt alles wahr. Doch iſt die Frage nur, ob ſie fuͤr uns allein Richt bloß vergangen ſeyn; Und ob dasjenige, was wir, von ihrem Weſen, Jn alten Schriften leſen, Zwar durch die Fluͤchtigkeit der Coͤrper uns entriſſen, Zwar wie ein ſchneller Strom voruͤber flieſſen muͤſſen; Der aber, ob er gleich beſtaͤndig fortgeſchoſſen, Und alles mit ſich fortgefuͤhrt, Was ſeine ſtrenge Fluth beruͤhrt; Dennoch, nachdem er weit, entſetzlich weit, gefloſſen, Sich nicht vernichtiget, wol aber in das Meer Der Unvergaͤnglichkeit ſich ſanft ergoſſen; Wo er, vor Deſſen Blick, vor Welchem nichts vergehet, Ohn Ende, gegenwaͤrtig ſtehet.
Vergienge ſaͤmmtlich das, was zu vergehen ſcheint, So wuͤrden gut’ und boͤſe Thaten, Ja alles, in ein Nichts gerathen. Was nun hieraus entſtuͤnd’, iſt aͤrger, als man meint.
Schau,
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bey dem 1729. Jahres-Wechſel ꝛc.
Des Coͤrpers Schirm-Dach war?
Wenn Thier’ und Menſchen ſterben,
Und ihre Glieder all verweſen und verderben,
Heiſſt dieſes nicht vergehn?
Die Thaten, die bereits vor mehr als hundert Jahren
Vergeſſen waren,
Die ſollen, denck ich ja, wol nicht noch ietzt beſtehn?
Wie manche Regiment’ und Reiche ſind verdrungen
Von denen folgenden! hat nicht die dicke Nacht
Des grauen Alterthums ſo manches Scepters Pracht,
So manchen tapffern Arm, der ihn gefuͤhrt, verſchlungen,
Jn Aſch und Grauß geſtuͤrtzt? Ja! dieß iſt alles wahr.
Doch iſt die Frage nur, ob ſie fuͤr uns allein
Richt bloß vergangen ſeyn;
Und ob dasjenige, was wir, von ihrem Weſen,
Jn alten Schriften leſen,
Zwar durch die Fluͤchtigkeit der Coͤrper uns entriſſen,
Zwar wie ein ſchneller Strom voruͤber flieſſen muͤſſen;
Der aber, ob er gleich beſtaͤndig fortgeſchoſſen,
Und alles mit ſich fortgefuͤhrt,
Was ſeine ſtrenge Fluth beruͤhrt;
Dennoch, nachdem er weit, entſetzlich weit, gefloſſen,
Sich nicht vernichtiget, wol aber in das Meer
Der Unvergaͤnglichkeit ſich ſanft ergoſſen;
Wo er, vor Deſſen Blick, vor Welchem nichts vergehet,
Ohn Ende, gegenwaͤrtig ſtehet.
Vergienge ſaͤmmtlich das, was zu vergehen ſcheint,
So wuͤrden gut’ und boͤſe Thaten,
Ja alles, in ein Nichts gerathen.
Was nun hieraus entſtuͤnd’, iſt aͤrger, als man meint.
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Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten. Bd. 4. 2. Aufl. Hamburg, 1735, S. 445. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen04_1735/477>, abgerufen am 31.10.2024.
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