Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott. Bd. 5. Hamburg, 1736.

Bild:
<< vorherige Seite
Neu-Jahrs Gedichte.
Welch ein Zustand! wenn man sähe Menschen, ohn Vernunft,
mit Hauffen,

Sonder Ordnung, Zweck und Absicht, an- und durch einander
lauffen,

Wenn der Geist von allen Menschen, wie von Wein be-
nebelt, schwer,

Und ein jeder stets berauscht, ohne Schaam und Absicht wär!
Ja, wenn sie auch gleich nicht ras'ten, sondern etwann simpel,
dumm,

Sonder Witz, Begriff und Urtheil, ohne Trieb, verwirret
stumm!

Welch ein wüst und elend Leben, würd' man aller Orten
spüren!

Welch ein wilder Jammer würd' überall so dann regieren!
Ehr', Empfindlichkeit, Vergnügen, alle Güter dieser Erden
Hörten Güter auf zu seyn, könnten nicht genossen werden.
Wie wir, wie es ungefähr allenthalben würde stehen,
An Nebucadnezars Zustand ein entsetzlich Beyspiel sehen.
Jst denn nicht ein solcher Schatz, den uns GOtt geschencket,
wehrt,

Daß man seinen Wehrt erwegt, und davor den Geber ehrt,
Daß man eben diese Kräfte, die er selbst in uns gehaucht
Durch Betrachtungen bewundert, und zu seinem Preise
braucht?
Ferner steckt in uns die Kraft, nicht, unsichtbare Gestalten
Von Jdeen, nur zu zeugen, auch noch selbe zu behalten
Durch Betrachten und Erinnern. Die gereichen ja so sehr,
Als die andren, uns zum Nutzen und dem, der sie gab, zur
Ehr.

Da, wenn uns die erste fehlte, wir ja nichts von allen
Dingen,

Die nicht gegenwärtig, wüsten; alles was nicht wesentlich
Was vergangen, was zukünftig, davon würde keiner sich
Einigen Begriff einst machen. Weil dieselben nicht ent-
springen
Aus
Neu-Jahrs Gedichte.
Welch ein Zuſtand! wenn man ſaͤhe Menſchen, ohn Vernunft,
mit Hauffen,

Sonder Ordnung, Zweck und Abſicht, an- und durch einander
lauffen,

Wenn der Geiſt von allen Menſchen, wie von Wein be-
nebelt, ſchwer,

Und ein jeder ſtets berauſcht, ohne Schaam und Abſicht waͤr!
Ja, wenn ſie auch gleich nicht raſ’ten, ſondern etwann ſimpel,
dumm,

Sonder Witz, Begriff und Urtheil, ohne Trieb, verwirret
ſtumm!

Welch ein wuͤſt und elend Leben, wuͤrd’ man aller Orten
ſpuͤren!

Welch ein wilder Jammer wuͤrd’ uͤberall ſo dann regieren!
Ehr’, Empfindlichkeit, Vergnuͤgen, alle Guͤter dieſer Erden
Hoͤrten Guͤter auf zu ſeyn, koͤnnten nicht genoſſen werden.
Wie wir, wie es ungefaͤhr allenthalben wuͤrde ſtehen,
An Nebucadnezars Zuſtand ein entſetzlich Beyſpiel ſehen.
Jſt denn nicht ein ſolcher Schatz, den uns GOtt geſchencket,
wehrt,

Daß man ſeinen Wehrt erwegt, und davor den Geber ehrt,
Daß man eben dieſe Kraͤfte, die er ſelbſt in uns gehaucht
Durch Betrachtungen bewundert, und zu ſeinem Preiſe
braucht?
Ferner ſteckt in uns die Kraft, nicht, unſichtbare Geſtalten
Von Jdeen, nur zu zeugen, auch noch ſelbe zu behalten
Durch Betrachten und Erinnern. Die gereichen ja ſo ſehr,
Als die andren, uns zum Nutzen und dem, der ſie gab, zur
Ehr.

Da, wenn uns die erſte fehlte, wir ja nichts von allen
Dingen,

Die nicht gegenwaͤrtig, wuͤſten; alles was nicht weſentlich
Was vergangen, was zukuͤnftig, davon wuͤrde keiner ſich
Einigen Begriff einſt machen. Weil dieſelben nicht ent-
ſpringen
Aus
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <lg type="poem">
          <pb facs="#f0512" n="496"/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Neu-Jahrs Gedichte.</hi> </fw><lb/>
          <lg n="175">
            <l>Welch ein Zu&#x017F;tand! wenn man &#x017F;a&#x0364;he Men&#x017F;chen, ohn Vernunft,<lb/><hi rendition="#et">mit Hauffen,</hi></l><lb/>
            <l>Sonder Ordnung, Zweck und Ab&#x017F;icht, an- und durch einander<lb/><hi rendition="#et">lauffen,</hi></l><lb/>
            <l>Wenn der Gei&#x017F;t von allen Men&#x017F;chen, wie von Wein be-<lb/><hi rendition="#et">nebelt, &#x017F;chwer,</hi></l><lb/>
            <l>Und ein jeder &#x017F;tets berau&#x017F;cht, ohne Schaam und Ab&#x017F;icht wa&#x0364;r!</l><lb/>
            <l>Ja, wenn &#x017F;ie auch gleich nicht ra&#x017F;&#x2019;ten, &#x017F;ondern etwann &#x017F;impel,<lb/><hi rendition="#et">dumm,</hi></l><lb/>
            <l>Sonder Witz, Begriff und Urtheil, ohne Trieb, verwirret<lb/><hi rendition="#et">&#x017F;tumm!</hi></l><lb/>
            <l>Welch ein wu&#x0364;&#x017F;t und elend Leben, wu&#x0364;rd&#x2019; man aller Orten<lb/><hi rendition="#et">&#x017F;pu&#x0364;ren!</hi></l><lb/>
            <l>Welch ein wilder Jammer wu&#x0364;rd&#x2019; u&#x0364;berall &#x017F;o dann regieren!</l><lb/>
            <l>Ehr&#x2019;, Empfindlichkeit, Vergnu&#x0364;gen, alle Gu&#x0364;ter die&#x017F;er Erden</l><lb/>
            <l>Ho&#x0364;rten Gu&#x0364;ter auf zu &#x017F;eyn, ko&#x0364;nnten nicht geno&#x017F;&#x017F;en werden.</l><lb/>
            <l>Wie wir, wie es ungefa&#x0364;hr allenthalben wu&#x0364;rde &#x017F;tehen,</l><lb/>
            <l>An Nebucadnezars Zu&#x017F;tand ein ent&#x017F;etzlich Bey&#x017F;piel &#x017F;ehen.</l><lb/>
            <l>J&#x017F;t denn nicht ein &#x017F;olcher Schatz, den uns GOtt ge&#x017F;chencket,<lb/><hi rendition="#et">wehrt,</hi></l><lb/>
            <l>Daß man &#x017F;einen Wehrt erwegt, und davor den Geber ehrt,</l><lb/>
            <l>Daß man eben die&#x017F;e Kra&#x0364;fte, die er &#x017F;elb&#x017F;t in uns gehaucht</l><lb/>
            <l>Durch Betrachtungen bewundert, und zu &#x017F;einem Prei&#x017F;e<lb/><hi rendition="#et">braucht?</hi></l>
          </lg><lb/>
          <lg n="176">
            <l>Ferner &#x017F;teckt in uns die Kraft, nicht, un&#x017F;ichtbare Ge&#x017F;talten</l><lb/>
            <l>Von Jdeen, nur zu zeugen, auch noch &#x017F;elbe zu behalten</l><lb/>
            <l>Durch <hi rendition="#fr">Betrachten und Erinnern.</hi> Die gereichen ja &#x017F;o &#x017F;ehr,</l><lb/>
            <l>Als die andren, uns zum Nutzen und dem, der &#x017F;ie gab, zur<lb/><hi rendition="#et">Ehr.</hi></l><lb/>
            <l>Da, wenn uns die er&#x017F;te fehlte, wir ja nichts von allen<lb/><hi rendition="#et">Dingen,</hi></l><lb/>
            <l>Die nicht gegenwa&#x0364;rtig, wu&#x0364;&#x017F;ten; alles was nicht we&#x017F;entlich</l><lb/>
            <l>Was vergangen, was zuku&#x0364;nftig, davon wu&#x0364;rde keiner &#x017F;ich</l><lb/>
            <l>Einigen Begriff ein&#x017F;t machen. Weil die&#x017F;elben nicht ent-<lb/><hi rendition="#et">&#x017F;pringen</hi></l>
          </lg><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">Aus</fw><lb/>
        </lg>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[496/0512] Neu-Jahrs Gedichte. Welch ein Zuſtand! wenn man ſaͤhe Menſchen, ohn Vernunft, mit Hauffen, Sonder Ordnung, Zweck und Abſicht, an- und durch einander lauffen, Wenn der Geiſt von allen Menſchen, wie von Wein be- nebelt, ſchwer, Und ein jeder ſtets berauſcht, ohne Schaam und Abſicht waͤr! Ja, wenn ſie auch gleich nicht raſ’ten, ſondern etwann ſimpel, dumm, Sonder Witz, Begriff und Urtheil, ohne Trieb, verwirret ſtumm! Welch ein wuͤſt und elend Leben, wuͤrd’ man aller Orten ſpuͤren! Welch ein wilder Jammer wuͤrd’ uͤberall ſo dann regieren! Ehr’, Empfindlichkeit, Vergnuͤgen, alle Guͤter dieſer Erden Hoͤrten Guͤter auf zu ſeyn, koͤnnten nicht genoſſen werden. Wie wir, wie es ungefaͤhr allenthalben wuͤrde ſtehen, An Nebucadnezars Zuſtand ein entſetzlich Beyſpiel ſehen. Jſt denn nicht ein ſolcher Schatz, den uns GOtt geſchencket, wehrt, Daß man ſeinen Wehrt erwegt, und davor den Geber ehrt, Daß man eben dieſe Kraͤfte, die er ſelbſt in uns gehaucht Durch Betrachtungen bewundert, und zu ſeinem Preiſe braucht? Ferner ſteckt in uns die Kraft, nicht, unſichtbare Geſtalten Von Jdeen, nur zu zeugen, auch noch ſelbe zu behalten Durch Betrachten und Erinnern. Die gereichen ja ſo ſehr, Als die andren, uns zum Nutzen und dem, der ſie gab, zur Ehr. Da, wenn uns die erſte fehlte, wir ja nichts von allen Dingen, Die nicht gegenwaͤrtig, wuͤſten; alles was nicht weſentlich Was vergangen, was zukuͤnftig, davon wuͤrde keiner ſich Einigen Begriff einſt machen. Weil dieſelben nicht ent- ſpringen Aus

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen05_1736
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen05_1736/512
Zitationshilfe: Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott. Bd. 5. Hamburg, 1736, S. 496. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen05_1736/512>, abgerufen am 17.05.2024.