Zu sehen war. Jch stutzt', als ich dieß sah, und dachte: Wie geht doch dieses zu? Auf welche Weise Geht dieß so schleunig fort? Stößt sich der Nagel sachte, Von Zeit zu Zeiten, weg? Wie, oder geht er leise, Beständig, Tag und Nacht? Jst denn ein Nagel nur Allein veränderlich? Erstrecket sich Die Aendrung der Natur Nicht auch auf unser Haar? Ja, was noch mehr, sollt' es nicht gar Sich auf den ganzen Leib erstrecken? Da wir ja sichtbarlich entdecken, Und ganz unwidersprechlich spühren, Wie Wunden-Maal' und Narben sich verlieren. Ja, ja, dieß ist gewiß! An uns verneut, verschwindet, Ersetzet und ergänzt sich alles dergestalt, Beständig, und so bald, Daß, der mich jetzo sieht, dasselbe Mich nicht findet, Was er vordem gesehn.
Wie? bin ich denn nicht mehr dasselbe Jch? Hab ich denn aufgehört? Treff ich mein wirklichs Mich Jn mir nicht ferner an? Dieß wäre wirklich wahr, Wenn ich mich nur gefügt befünde Aus einer ungefehren Schaar Materie: und wenn ich nicht bestünde Aus etwas, welches fest und unzerstörlich; Aus etwas, welches bleibt, und unauf hörlich, Ohn' Aenderung, besteht. Man mag es Stamina, Man mag es Germen nennen. Ja, wenn man es erwegt, Und die Oeconomie vernünftig überlegt; So wird man hierinn was erkennen,
Das,
8 Theil. P p
Beſtaͤndige Veraͤnderung unſerer Koͤrper.
Zu ſehen war. Jch ſtutzt’, als ich dieß ſah, und dachte: Wie geht doch dieſes zu? Auf welche Weiſe Geht dieß ſo ſchleunig fort? Stoͤßt ſich der Nagel ſachte, Von Zeit zu Zeiten, weg? Wie, oder geht er leiſe, Beſtaͤndig, Tag und Nacht? Jſt denn ein Nagel nur Allein veraͤnderlich? Erſtrecket ſich Die Aendrung der Natur Nicht auch auf unſer Haar? Ja, was noch mehr, ſollt’ es nicht gar Sich auf den ganzen Leib erſtrecken? Da wir ja ſichtbarlich entdecken, Und ganz unwiderſprechlich ſpuͤhren, Wie Wunden-Maal’ und Narben ſich verlieren. Ja, ja, dieß iſt gewiß! An uns verneut, verſchwindet, Erſetzet und ergaͤnzt ſich alles dergeſtalt, Beſtaͤndig, und ſo bald, Daß, der mich jetzo ſieht, daſſelbe Mich nicht findet, Was er vordem geſehn.
Wie? bin ich denn nicht mehr daſſelbe Jch? Hab ich denn aufgehoͤrt? Treff ich mein wirklichs Mich Jn mir nicht ferner an? Dieß waͤre wirklich wahr, Wenn ich mich nur gefuͤgt befuͤnde Aus einer ungefehren Schaar Materie: und wenn ich nicht beſtuͤnde Aus etwas, welches feſt und unzerſtoͤrlich; Aus etwas, welches bleibt, und unauf hoͤrlich, Ohn’ Aenderung, beſteht. Man mag es Stamina, Man mag es Germen nennen. Ja, wenn man es erwegt, Und die Oeconomie vernuͤnftig uͤberlegt; So wird man hierinn was erkennen,
Das,
8 Theil. P p
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><lgtype="poem"><lgn="2"><pbfacs="#f0607"n="593"/><fwplace="top"type="header">Beſtaͤndige Veraͤnderung unſerer Koͤrper.</fw><lb/><l>Zu ſehen war. Jch ſtutzt’, als ich dieß ſah, und dachte:</l><lb/><l>Wie geht doch dieſes zu? Auf welche Weiſe</l><lb/><l>Geht dieß ſo ſchleunig fort? Stoͤßt ſich der Nagel ſachte,</l><lb/><l>Von Zeit zu Zeiten, weg? Wie, oder geht er leiſe,</l><lb/><l>Beſtaͤndig, Tag und Nacht? Jſt denn ein Nagel nur</l><lb/><l>Allein veraͤnderlich?</l><lb/><l>Erſtrecket ſich</l><lb/><l>Die Aendrung der Natur</l><lb/><l>Nicht auch auf unſer Haar?</l><lb/><l>Ja, was noch mehr, ſollt’ es nicht gar</l><lb/><l>Sich auf den ganzen Leib erſtrecken?</l><lb/><l>Da wir ja ſichtbarlich entdecken,</l><lb/><l>Und ganz unwiderſprechlich ſpuͤhren,</l><lb/><l>Wie Wunden-Maal’ und Narben ſich verlieren.</l><lb/><l>Ja, ja, dieß iſt gewiß! An uns verneut, verſchwindet,</l><lb/><l>Erſetzet und ergaͤnzt ſich alles dergeſtalt,</l><lb/><l>Beſtaͤndig, und ſo bald,</l><lb/><l>Daß, der mich jetzo ſieht, daſſelbe Mich nicht findet,</l><lb/><l>Was er vordem geſehn.</l></lg><lb/><lgn="3"><l>Wie? bin ich denn nicht mehr daſſelbe Jch?</l><lb/><l>Hab ich denn aufgehoͤrt? Treff ich mein wirklichs Mich</l><lb/><l>Jn mir nicht ferner an? Dieß waͤre wirklich wahr,</l><lb/><l>Wenn ich mich nur gefuͤgt befuͤnde</l><lb/><l>Aus einer ungefehren Schaar</l><lb/><l>Materie: und wenn ich nicht beſtuͤnde</l><lb/><l>Aus etwas, welches feſt und unzerſtoͤrlich;</l><lb/><l>Aus etwas, welches bleibt, und unauf hoͤrlich,</l><lb/><l>Ohn’ Aenderung, beſteht. Man mag es <hirendition="#aq">Stamina,</hi></l><lb/><l>Man mag es <hirendition="#aq">Germen</hi> nennen.</l><lb/><l>Ja, wenn man es erwegt,</l><lb/><l>Und die Oeconomie vernuͤnftig uͤberlegt;</l><lb/><l>So wird man hierinn was erkennen,</l><lb/><fwplace="bottom"type="sig">8 Theil. P p</fw><fwplace="bottom"type="catch">Das,</fw><lb/></lg></lg></div></div></div></body></text></TEI>
[593/0607]
Beſtaͤndige Veraͤnderung unſerer Koͤrper.
Zu ſehen war. Jch ſtutzt’, als ich dieß ſah, und dachte:
Wie geht doch dieſes zu? Auf welche Weiſe
Geht dieß ſo ſchleunig fort? Stoͤßt ſich der Nagel ſachte,
Von Zeit zu Zeiten, weg? Wie, oder geht er leiſe,
Beſtaͤndig, Tag und Nacht? Jſt denn ein Nagel nur
Allein veraͤnderlich?
Erſtrecket ſich
Die Aendrung der Natur
Nicht auch auf unſer Haar?
Ja, was noch mehr, ſollt’ es nicht gar
Sich auf den ganzen Leib erſtrecken?
Da wir ja ſichtbarlich entdecken,
Und ganz unwiderſprechlich ſpuͤhren,
Wie Wunden-Maal’ und Narben ſich verlieren.
Ja, ja, dieß iſt gewiß! An uns verneut, verſchwindet,
Erſetzet und ergaͤnzt ſich alles dergeſtalt,
Beſtaͤndig, und ſo bald,
Daß, der mich jetzo ſieht, daſſelbe Mich nicht findet,
Was er vordem geſehn.
Wie? bin ich denn nicht mehr daſſelbe Jch?
Hab ich denn aufgehoͤrt? Treff ich mein wirklichs Mich
Jn mir nicht ferner an? Dieß waͤre wirklich wahr,
Wenn ich mich nur gefuͤgt befuͤnde
Aus einer ungefehren Schaar
Materie: und wenn ich nicht beſtuͤnde
Aus etwas, welches feſt und unzerſtoͤrlich;
Aus etwas, welches bleibt, und unauf hoͤrlich,
Ohn’ Aenderung, beſteht. Man mag es Stamina,
Man mag es Germen nennen.
Ja, wenn man es erwegt,
Und die Oeconomie vernuͤnftig uͤberlegt;
So wird man hierinn was erkennen,
Das,
8 Theil. P p
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten. Bd. 8. Hamburg, 1746, S. 593. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen08_1746/607>, abgerufen am 26.06.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.