Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brockes, Barthold Heinrich: Physikalische und moralische Gedanken über die drey Reiche der Natur. Bd. 9. Hamburg u. a., 1748.

Bild:
<< vorherige Seite

Vermischte Gedichte

Sollt' unsre Phantasey, zum Beyspiel, der Geilheit
schöne Larve können

Von ihrem ekelhaften Körper und eiterichtem Wesen
trennen:

Sollt' ihr die schwere Völlerey, befleckt mit ausgekotzten
Speisen,

Die Trunkenheit voll Stank und Zank, mit Kopf- und
Magenweh sich weisen:

Sollt' ihr der Geiz sein' Angst und Sorgen, der schiele
Neid sein Schlangenhaar,

Der blinde Zorn den blutgen Dolch, die ihm stets dro-
hende Gefahr,

Die Faulheit ihren Lohn, die Armuth, ganz nackt und
hungrig, sehen lassen;

Würd' jeder nicht solch scheußlich Heer verfluchen, mei-
den, fliehen, hassen?

Für die wir, da wir uns dieselben oft anders vorzustel-
len pflegen,

So viele Neigung, solchen Trieb, so brünstiges Verlan-
gen hegen.

Zwar zeiget dann und wann in uns wohl der Verstand
im Ueberlegen

Derselben Schädlichkeit uns an, da wir denn auch noch
wohl zuweilen,

Zumal wenn wir aufs Künftge denken, desselben Rath
Gehör ertheilen.

Allein wir gleichen, in dem Stande, den kränklichen
Naturen fast,

Die bloß von Arzeneyen leben. Sie haben zwar zuwei-
len Rast,

Doch bricht die Krankheit wieder durch. So auch bey
uns die Leidenschaften,
So

Vermiſchte Gedichte

Sollt’ unſre Phantaſey, zum Beyſpiel, der Geilheit
ſchoͤne Larve koͤnnen

Von ihrem ekelhaften Koͤrper und eiterichtem Weſen
trennen:

Sollt’ ihr die ſchwere Voͤllerey, befleckt mit ausgekotzten
Speiſen,

Die Trunkenheit voll Stank und Zank, mit Kopf- und
Magenweh ſich weiſen:

Sollt’ ihr der Geiz ſein’ Angſt und Sorgen, der ſchiele
Neid ſein Schlangenhaar,

Der blinde Zorn den blutgen Dolch, die ihm ſtets dro-
hende Gefahr,

Die Faulheit ihren Lohn, die Armuth, ganz nackt und
hungrig, ſehen laſſen;

Wuͤrd’ jeder nicht ſolch ſcheußlich Heer verfluchen, mei-
den, fliehen, haſſen?

Fuͤr die wir, da wir uns dieſelben oft anders vorzuſtel-
len pflegen,

So viele Neigung, ſolchen Trieb, ſo bruͤnſtiges Verlan-
gen hegen.

Zwar zeiget dann und wann in uns wohl der Verſtand
im Ueberlegen

Derſelben Schaͤdlichkeit uns an, da wir denn auch noch
wohl zuweilen,

Zumal wenn wir aufs Kuͤnftge denken, deſſelben Rath
Gehoͤr ertheilen.

Allein wir gleichen, in dem Stande, den kraͤnklichen
Naturen faſt,

Die bloß von Arzeneyen leben. Sie haben zwar zuwei-
len Raſt,

Doch bricht die Krankheit wieder durch. So auch bey
uns die Leidenſchaften,
So
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <lg n="28">
            <l>
              <pb facs="#f0500" n="480"/>
              <fw place="top" type="header">Vermi&#x017F;chte Gedichte</fw>
            </l><lb/>
            <l>Sollt&#x2019; un&#x017F;re Phanta&#x017F;ey, zum Bey&#x017F;piel, der Geilheit<lb/><hi rendition="#et">&#x017F;cho&#x0364;ne Larve ko&#x0364;nnen</hi></l><lb/>
            <l>Von ihrem ekelhaften Ko&#x0364;rper und eiterichtem We&#x017F;en<lb/><hi rendition="#et">trennen:</hi></l><lb/>
            <l>Sollt&#x2019; ihr die &#x017F;chwere Vo&#x0364;llerey, befleckt mit ausgekotzten<lb/><hi rendition="#et">Spei&#x017F;en,</hi></l><lb/>
            <l>Die Trunkenheit voll Stank und Zank, mit Kopf- und<lb/><hi rendition="#et">Magenweh &#x017F;ich wei&#x017F;en:</hi></l><lb/>
            <l>Sollt&#x2019; ihr der Geiz &#x017F;ein&#x2019; Ang&#x017F;t und Sorgen, der &#x017F;chiele<lb/><hi rendition="#et">Neid &#x017F;ein Schlangenhaar,</hi></l><lb/>
            <l>Der blinde Zorn den blutgen Dolch, die ihm &#x017F;tets dro-<lb/><hi rendition="#et">hende Gefahr,</hi></l><lb/>
            <l>Die Faulheit ihren Lohn, die Armuth, ganz nackt und<lb/><hi rendition="#et">hungrig, &#x017F;ehen la&#x017F;&#x017F;en;</hi></l><lb/>
            <l>Wu&#x0364;rd&#x2019; jeder nicht &#x017F;olch &#x017F;cheußlich Heer verfluchen, mei-<lb/><hi rendition="#et">den, fliehen, ha&#x017F;&#x017F;en?</hi></l><lb/>
            <l>Fu&#x0364;r die wir, da wir uns die&#x017F;elben oft anders vorzu&#x017F;tel-<lb/><hi rendition="#et">len pflegen,</hi></l><lb/>
            <l>So viele Neigung, &#x017F;olchen Trieb, &#x017F;o bru&#x0364;n&#x017F;tiges Verlan-<lb/><hi rendition="#et">gen hegen.</hi></l>
          </lg><lb/>
          <lg n="29">
            <l>Zwar zeiget dann und wann in uns wohl der Ver&#x017F;tand<lb/><hi rendition="#et">im Ueberlegen</hi></l><lb/>
            <l>Der&#x017F;elben Scha&#x0364;dlichkeit uns an, da wir denn auch noch<lb/><hi rendition="#et">wohl zuweilen,</hi></l><lb/>
            <l>Zumal wenn wir aufs Ku&#x0364;nftge denken, de&#x017F;&#x017F;elben Rath<lb/><hi rendition="#et">Geho&#x0364;r ertheilen.</hi></l><lb/>
            <l>Allein wir gleichen, in dem Stande, den kra&#x0364;nklichen<lb/><hi rendition="#et">Naturen fa&#x017F;t,</hi></l><lb/>
            <l>Die bloß von Arzeneyen leben. Sie haben zwar zuwei-<lb/><hi rendition="#et">len Ra&#x017F;t,</hi></l><lb/>
            <l>Doch bricht die Krankheit wieder durch. So auch bey<lb/><hi rendition="#et">uns die Leiden&#x017F;chaften,</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="catch">So</fw><lb/></l>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[480/0500] Vermiſchte Gedichte Sollt’ unſre Phantaſey, zum Beyſpiel, der Geilheit ſchoͤne Larve koͤnnen Von ihrem ekelhaften Koͤrper und eiterichtem Weſen trennen: Sollt’ ihr die ſchwere Voͤllerey, befleckt mit ausgekotzten Speiſen, Die Trunkenheit voll Stank und Zank, mit Kopf- und Magenweh ſich weiſen: Sollt’ ihr der Geiz ſein’ Angſt und Sorgen, der ſchiele Neid ſein Schlangenhaar, Der blinde Zorn den blutgen Dolch, die ihm ſtets dro- hende Gefahr, Die Faulheit ihren Lohn, die Armuth, ganz nackt und hungrig, ſehen laſſen; Wuͤrd’ jeder nicht ſolch ſcheußlich Heer verfluchen, mei- den, fliehen, haſſen? Fuͤr die wir, da wir uns dieſelben oft anders vorzuſtel- len pflegen, So viele Neigung, ſolchen Trieb, ſo bruͤnſtiges Verlan- gen hegen. Zwar zeiget dann und wann in uns wohl der Verſtand im Ueberlegen Derſelben Schaͤdlichkeit uns an, da wir denn auch noch wohl zuweilen, Zumal wenn wir aufs Kuͤnftge denken, deſſelben Rath Gehoͤr ertheilen. Allein wir gleichen, in dem Stande, den kraͤnklichen Naturen faſt, Die bloß von Arzeneyen leben. Sie haben zwar zuwei- len Raſt, Doch bricht die Krankheit wieder durch. So auch bey uns die Leidenſchaften, So

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen09_1748
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen09_1748/500
Zitationshilfe: Brockes, Barthold Heinrich: Physikalische und moralische Gedanken über die drey Reiche der Natur. Bd. 9. Hamburg u. a., 1748, S. 480. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen09_1748/500>, abgerufen am 22.11.2024.