Was würd' einer nicht beginnen, welcher noch ein ganzes Jahr Vor dem Tode sicher wär? Jsts demnach und bleibet wahr, Daß mit weisem Vorbedacht uns ein ungewisses Leben Von dem Schöpfer hier gegeben; Daß, durch gar zu feste Nachricht, wenn dasselbe sich soll enden, Wir in harter Sicherheit unser Leben nicht verschwenden, Sündlicher noch sterben möchten. Wäre dir dein Tod be- kannt; Führtest du kein gutes Leben, eh als wenn du sterben solltest; Würdst auch nicht gut sterben können, wenn du es gleich gerne wolltest, Weil du gar zu schlecht gelebt. So ist es demnach bewandt Mit dem unverständgem Meynen, daß, wenn unsre Ster- benszeit Uns nicht hier verholen wäre, wir dann in Gelassenheit Unser Leben schließen würden. Es ist vielmehr ein Beweis Einer göttlichen Erfindung, da Er ihren Tod mit Fleiß Allen Sterblichen verborgen. Welch ein jammerndes Be- schweren, Welch ein Klagen würde man sonderlich von denen hören, Denen kurze Lebenstage etwan zugemessen wären. Setze diesem noch hinzu, daß, wenn man vorhero wüßte Die gemeßne Zeit des Todes; was würd' in den letzten Jahren Man für Kummer, Gram und Leid ob den nahen Tod er- fahren, Die verbitterten gewiß unsers ganzen Lebens Lüste. Aber itzo leben wir: jeder glaubt, er werde leben, Jeder denkt: ihm sey von Jahren ein erfülltes Maaß ge- geben;
Und
Anleitung
Was wuͤrd’ einer nicht beginnen, welcher noch ein ganzes Jahr Vor dem Tode ſicher waͤr? Jſts demnach und bleibet wahr, Daß mit weiſem Vorbedacht uns ein ungewiſſes Leben Von dem Schoͤpfer hier gegeben; Daß, durch gar zu feſte Nachricht, wenn daſſelbe ſich ſoll enden, Wir in harter Sicherheit unſer Leben nicht verſchwenden, Suͤndlicher noch ſterben moͤchten. Waͤre dir dein Tod be- kannt; Fuͤhrteſt du kein gutes Leben, eh als wenn du ſterben ſollteſt; Wuͤrdſt auch nicht gut ſterben koͤnnen, wenn du es gleich gerne wollteſt, Weil du gar zu ſchlecht gelebt. So iſt es demnach bewandt Mit dem unverſtaͤndgem Meynen, daß, wenn unſre Ster- benszeit Uns nicht hier verholen waͤre, wir dann in Gelaſſenheit Unſer Leben ſchließen wuͤrden. Es iſt vielmehr ein Beweis Einer goͤttlichen Erfindung, da Er ihren Tod mit Fleiß Allen Sterblichen verborgen. Welch ein jammerndes Be- ſchweren, Welch ein Klagen wuͤrde man ſonderlich von denen hoͤren, Denen kurze Lebenstage etwan zugemeſſen waͤren. Setze dieſem noch hinzu, daß, wenn man vorhero wuͤßte Die gemeßne Zeit des Todes; was wuͤrd’ in den letzten Jahren Man fuͤr Kummer, Gram und Leid ob den nahen Tod er- fahren, Die verbitterten gewiß unſers ganzen Lebens Luͤſte. Aber itzo leben wir: jeder glaubt, er werde leben, Jeder denkt: ihm ſey von Jahren ein erfuͤlltes Maaß ge- geben;
Und
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Was wuͤrd’ einer nicht beginnen, welcher noch ein ganzes
Jahr
Vor dem Tode ſicher waͤr? Jſts demnach und bleibet wahr,
Daß mit weiſem Vorbedacht uns ein ungewiſſes Leben
Von dem Schoͤpfer hier gegeben;
Daß, durch gar zu feſte Nachricht, wenn daſſelbe ſich ſoll
enden,
Wir in harter Sicherheit unſer Leben nicht verſchwenden,
Suͤndlicher noch ſterben moͤchten. Waͤre dir dein Tod be-
kannt;
Fuͤhrteſt du kein gutes Leben, eh als wenn du ſterben ſollteſt;
Wuͤrdſt auch nicht gut ſterben koͤnnen, wenn du es gleich
gerne wollteſt,
Weil du gar zu ſchlecht gelebt. So iſt es demnach bewandt
Mit dem unverſtaͤndgem Meynen, daß, wenn unſre Ster-
benszeit
Uns nicht hier verholen waͤre, wir dann in Gelaſſenheit
Unſer Leben ſchließen wuͤrden. Es iſt vielmehr ein Beweis
Einer goͤttlichen Erfindung, da Er ihren Tod mit Fleiß
Allen Sterblichen verborgen. Welch ein jammerndes Be-
ſchweren,
Welch ein Klagen wuͤrde man ſonderlich von denen hoͤren,
Denen kurze Lebenstage etwan zugemeſſen waͤren.
Setze dieſem noch hinzu, daß, wenn man vorhero wuͤßte
Die gemeßne Zeit des Todes; was wuͤrd’ in den letzten
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Man fuͤr Kummer, Gram und Leid ob den nahen Tod er-
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Brockes, Barthold Heinrich: Physikalische und moralische Gedanken über die drey Reiche der Natur. Bd. 9. Hamburg u. a., 1748, S. 590. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen09_1748/610>, abgerufen am 22.11.2024.
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