Bruhns, Julius: Das Frauenstimmrecht und die sozialdemokratische Partei. In: Sozialistische Monatshefte 9 (1906), S. 776–780.JULIUS BRUHNS · DAS FRAUENSTIMMRECHT UND DIE SOZIALDEMOKRATIE Arbeiter verringern und hindern, davon können die leitenden Personen derPartei- und Gewerkschaftsbewegung manch trauriges Lied singen. Die Erringung des Frauenstimmrechts würde der Arbeiterbewegung gewaltig Viele von unseren Genossen teilten mit den Liberalen und Radikalen die Meinung, Vandervelde hält diese Befürchtung für übertrieben, und in der Tat kann Auch wenn man die nächsten politischen Wirkungen des Frauenstimmrechts 1) Vergl. Emile Vandervelde: Frauenstimmrecht in Belgien! Im vorigen Bande der Soziali-
stischen Monatshefte, pag. 138. JULIUS BRUHNS · DAS FRAUENSTIMMRECHT UND DIE SOZIALDEMOKRATIE Arbeiter verringern und hindern, davon können die leitenden Personen derPartei- und Gewerkschaftsbewegung manch trauriges Lied singen. Die Erringung des Frauenstimmrechts würde der Arbeiterbewegung gewaltig Viele von unseren Genossen teilten mit den Liberalen und Radikalen die Meinung, Vandervelde hält diese Befürchtung für übertrieben, und in der Tat kann Auch wenn man die nächsten politischen Wirkungen des Frauenstimmrechts 1) Vergl. Emile Vandervelde: Frauenstimmrecht in Belgien! Im vorigen Bande der Soziali-
stischen Monatshefte, pag. 138. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0002" n="777"/><fw place="top" type="header">JULIUS BRUHNS · DAS FRAUENSTIMMRECHT UND DIE SOZIALDEMOKRATIE</fw><lb/> Arbeiter verringern und hindern, davon können die leitenden Personen der<lb/> Partei- und Gewerkschaftsbewegung manch trauriges Lied singen.</p><lb/> <p>Die Erringung des Frauenstimmrechts würde der Arbeiterbewegung gewaltig<lb/> vermehrte Aufklärungsarbeit, bald aber auch eine gewaltige Vermehrung ihres<lb/> Heeres, ihrer Kräfte bringen. Und politisch aufgeklärte Frauen sind nicht die<lb/> schlechtesten, sondern in der Regel die besten Mitkämpfer, wie das die Er-<lb/> fahrung längst gelehrt hat. Dabei dürfen wir uns allerdings nicht verhehlen,<lb/> dass das Frauenstimmrecht zunächst und auf längere Zeit den bürgerlichen<lb/> Gegnern, und sicher dem rückschrittlichsten dieser Gegner am meisten, neue<lb/> grosse Wählermassen zuführen wird. Diese Tatsache hat hier und da in den<lb/> Kreisen der Gegner den Gedanken aufkommen lassen, den immer mächtiger<lb/> anschwellenden, immer ungestümer herandrängenden proletarischen Klassen-<lb/> kämpfern schliesslich die Massen der proletarisch-weiblichen Wähler entgegen-<lb/> zustellen, gewissermassen als letzte Reserve der bürgerlichen Machthaber. Auf<lb/> der anderen Seite hat dieser Umstand in sozialistischen Kreisen gewisse Be-<lb/> denken gegen die Einführung des Frauenstimmrechts, wenigstens im gegen-<lb/> wärtigen Stadium der politischen Machtverhältnisse, hervorgerufen. So in<lb/> Belgien, wie Genosse Emile Vandervelde in dieser Zeitschrift ausführte:</p><lb/> <p>Viele von unseren Genossen teilten mit den Liberalen und Radikalen die Meinung,<lb/> dass die Zulassung der Frauen zum Wahlrecht in Belgien die Verewigung der kleri-<lb/> kalen Herrschaft zur Folge haben werde.<note place="foot" n="1)">Vergl. <hi rendition="#g">Emile Vandervelde:</hi> <hi rendition="#i">Frauenstimmrecht in Belgien!</hi> Im vorigen Bande der <hi rendition="#i">Soziali-<lb/> stischen Monatshefte</hi>, pag. 138.</note></p><lb/> <p>Vandervelde hält diese Befürchtung für übertrieben, und in der Tat kann<lb/> von einer »Verewigung« der klerikalen Herrschaft durch das Stimmrecht der<lb/> Frauen gewiss nicht geredet werden. Aber Vandervelde verfällt in den ent-<lb/> gegengesetzten Fehler, indem er nach meiner Ansicht die Stärkung der bürger-<lb/> lichen Parteien durch das Frauenstimmrecht erheblich unterschätzt. Davon,<lb/> dass in der Regel Mann und Frau, weil sie der selben Klasse angehören und<lb/> die selben wirtschaftlichen Interessen vertreten, auch den selben Stimmzettel<lb/> abgeben würden, kann nicht die Rede sein, solange nicht diese Frauen zur<lb/><hi rendition="#g">Erkenntnis</hi> dieser Klassenzugehörigkeit und dieser gemeinsamen wirt-<lb/> schaftlichen Interessen mit dem Manne gekommen sind. Wenn viele Frauen<lb/> sozialistisch gleich dem Manne stimmen, so wird das aus geistiger Unselb-<lb/> ständigkeit, aus anerzogener Unterwürfigkeit gegenüber dem Willen des Mannes<lb/> geschehen; gerade die an sich besseren, selbständigeren Naturen aber werden<lb/> zunächst, im Banne ihrer Vorurteile und weiblichen Gefühle, entgegen dem<lb/> Manne stimmen.</p><lb/> <p>Auch wenn man die nächsten politischen Wirkungen des Frauenstimmrechts<lb/> viel ungünstiger für die Bestrebungen der Arbeiterklasse nach der politischen<lb/> Macht beurteilt, als Vandervelde, muss man doch mit ihm vollkommen<lb/> einig darin sein, dass das Frauenstimmrecht für die zukünftige völlige Befreiung<lb/> des Proletariats unschätzbare Vorteile erbringt. Für die geistige Emanzipation<lb/> der Frauen ist es ein treffliches, ja das trefflichste Mittel. Und wenn uns<lb/> nicht unser Rechts- und Sittlichkeitsgefühl, unsere politischen Grundsätze auf<lb/> seine Erringung unweigerlich hinwiesen, dann müsste das allein schon das<lb/> praktische Interesse tun, die Erwägung, dass es kein besseres Mittel zur Er-<lb/> ziehung auch der anderen Hälfte des Proletariats, der weiblichen, gibt, als das<lb/> politische Stimmrecht. Wir müssen daher unangekränkelt von der Gewissheit,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [777/0002]
JULIUS BRUHNS · DAS FRAUENSTIMMRECHT UND DIE SOZIALDEMOKRATIE
Arbeiter verringern und hindern, davon können die leitenden Personen der
Partei- und Gewerkschaftsbewegung manch trauriges Lied singen.
Die Erringung des Frauenstimmrechts würde der Arbeiterbewegung gewaltig
vermehrte Aufklärungsarbeit, bald aber auch eine gewaltige Vermehrung ihres
Heeres, ihrer Kräfte bringen. Und politisch aufgeklärte Frauen sind nicht die
schlechtesten, sondern in der Regel die besten Mitkämpfer, wie das die Er-
fahrung längst gelehrt hat. Dabei dürfen wir uns allerdings nicht verhehlen,
dass das Frauenstimmrecht zunächst und auf längere Zeit den bürgerlichen
Gegnern, und sicher dem rückschrittlichsten dieser Gegner am meisten, neue
grosse Wählermassen zuführen wird. Diese Tatsache hat hier und da in den
Kreisen der Gegner den Gedanken aufkommen lassen, den immer mächtiger
anschwellenden, immer ungestümer herandrängenden proletarischen Klassen-
kämpfern schliesslich die Massen der proletarisch-weiblichen Wähler entgegen-
zustellen, gewissermassen als letzte Reserve der bürgerlichen Machthaber. Auf
der anderen Seite hat dieser Umstand in sozialistischen Kreisen gewisse Be-
denken gegen die Einführung des Frauenstimmrechts, wenigstens im gegen-
wärtigen Stadium der politischen Machtverhältnisse, hervorgerufen. So in
Belgien, wie Genosse Emile Vandervelde in dieser Zeitschrift ausführte:
Viele von unseren Genossen teilten mit den Liberalen und Radikalen die Meinung,
dass die Zulassung der Frauen zum Wahlrecht in Belgien die Verewigung der kleri-
kalen Herrschaft zur Folge haben werde. 1)
Vandervelde hält diese Befürchtung für übertrieben, und in der Tat kann
von einer »Verewigung« der klerikalen Herrschaft durch das Stimmrecht der
Frauen gewiss nicht geredet werden. Aber Vandervelde verfällt in den ent-
gegengesetzten Fehler, indem er nach meiner Ansicht die Stärkung der bürger-
lichen Parteien durch das Frauenstimmrecht erheblich unterschätzt. Davon,
dass in der Regel Mann und Frau, weil sie der selben Klasse angehören und
die selben wirtschaftlichen Interessen vertreten, auch den selben Stimmzettel
abgeben würden, kann nicht die Rede sein, solange nicht diese Frauen zur
Erkenntnis dieser Klassenzugehörigkeit und dieser gemeinsamen wirt-
schaftlichen Interessen mit dem Manne gekommen sind. Wenn viele Frauen
sozialistisch gleich dem Manne stimmen, so wird das aus geistiger Unselb-
ständigkeit, aus anerzogener Unterwürfigkeit gegenüber dem Willen des Mannes
geschehen; gerade die an sich besseren, selbständigeren Naturen aber werden
zunächst, im Banne ihrer Vorurteile und weiblichen Gefühle, entgegen dem
Manne stimmen.
Auch wenn man die nächsten politischen Wirkungen des Frauenstimmrechts
viel ungünstiger für die Bestrebungen der Arbeiterklasse nach der politischen
Macht beurteilt, als Vandervelde, muss man doch mit ihm vollkommen
einig darin sein, dass das Frauenstimmrecht für die zukünftige völlige Befreiung
des Proletariats unschätzbare Vorteile erbringt. Für die geistige Emanzipation
der Frauen ist es ein treffliches, ja das trefflichste Mittel. Und wenn uns
nicht unser Rechts- und Sittlichkeitsgefühl, unsere politischen Grundsätze auf
seine Erringung unweigerlich hinwiesen, dann müsste das allein schon das
praktische Interesse tun, die Erwägung, dass es kein besseres Mittel zur Er-
ziehung auch der anderen Hälfte des Proletariats, der weiblichen, gibt, als das
politische Stimmrecht. Wir müssen daher unangekränkelt von der Gewissheit,
1) Vergl. Emile Vandervelde: Frauenstimmrecht in Belgien! Im vorigen Bande der Soziali-
stischen Monatshefte, pag. 138.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …
Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen
: Bereitstellung der Texttranskription.
(2019-05-23T11:23:48Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2019-05-23T11:23:48Z)
Weitere Informationen:Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): gekennzeichnet; Kolumnentitel: gekennzeichnet; langes s (ſ): als s transkribiert; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |