und Härte verträgt sich mit jener Züchtigkeit und Wohlan- ständigkeit, mit jener Zierlichkeit und zarten Grazie sehr wohl; ja sie ist fast nothwendig, indem das Wesen aller dieser Eigen- schaften in einer Bewahrung bestimmter Schranken, selbst in einem Verschmähen derjenigen Freiheit beruht, deren Gebrauch zwar durch die Sitte erlaubt, aber darum noch nicht überall empfehlenswerth ist. Wollen wir hiernach die Bedeutung des Kalamis für die Entwickelung der Kunst in kurzen Worten zusammenfassen, so dürfen wir nicht sagen, dass er durch ein tiefes Eindringen in die Gesetze künstlerischer Gestaltung eine in ihren Ausgangspunkten wesentlich neue Bahn eingeschlagen habe. Die Grundlagen sind vielmehr bei ihm in der Haupt- sache die der vorhergehenden Epoche: aber indem er sich der Beobachtung der natürlichen Erscheinung der Dinge mit völ- liger Liebe hingiebt und alle einzelnen, feinen Züge nachzu- empfinden und nachzufühlen bestrebt ist, erfüllt er die früher starren und kalten Formen mit einem grösseren Reichthum inneren Lebens und bereitet dadurch zugleich eine gänzliche Umbildung dieser Formen selbst vor.
Pythagoras.
Pythagoras aus Rhegion wird von Pausanias1) Schüler des Rheginers Klearch genannt; dieser hatte bei Eucheiros von Korinth, Eucheiros bei den Spartiaten Syadras und Char- tas gelernt. Die Fragen, welche sich an die Namen dieser Künstler knüpfen, sind schon früher erörtert worden. Sie hier noch weiter zu verfolgen, ist unnöthig, da wir ausser Stande sind, zu bestimmen, worin die Eigenthümlichkeit dieser Schule lag.
Pythagoras muss schon um die Mitte der siebziger Olym- piaden thätig gewesen sein. Denn er verfertigte die Statue des Krotoniaten Astylos, der zu Olympia dreimal im Laufe und Doppellaufe in drei auf einander folgenden Olympiaden: 73, 74, 75, siegte2). Da er sich aber dem Hieron zu Liebe zum zwei- ten und dritten Male als Syrakusaner ausrufen liess, so straf- ten ihn die Krotoniaten dadurch, dass sie sein Haus zum Ge- fängniss machten und seine Statue aus dem Tempel der Hera Lakinia entfernten. Wäre diese letztere ein Werk des Pytha-
1) VI, 4, 2.
2) Paus. VI, 13, 1.
und Härte verträgt sich mit jener Züchtigkeit und Wohlan- ständigkeit, mit jener Zierlichkeit und zarten Grazie sehr wohl; ja sie ist fast nothwendig, indem das Wesen aller dieser Eigen- schaften in einer Bewahrung bestimmter Schranken, selbst in einem Verschmähen derjenigen Freiheit beruht, deren Gebrauch zwar durch die Sitte erlaubt, aber darum noch nicht überall empfehlenswerth ist. Wollen wir hiernach die Bedeutung des Kalamis für die Entwickelung der Kunst in kurzen Worten zusammenfassen, so dürfen wir nicht sagen, dass er durch ein tiefes Eindringen in die Gesetze künstlerischer Gestaltung eine in ihren Ausgangspunkten wesentlich neue Bahn eingeschlagen habe. Die Grundlagen sind vielmehr bei ihm in der Haupt- sache die der vorhergehenden Epoche: aber indem er sich der Beobachtung der natürlichen Erscheinung der Dinge mit völ- liger Liebe hingiebt und alle einzelnen, feinen Züge nachzu- empfinden und nachzufühlen bestrebt ist, erfüllt er die früher starren und kalten Formen mit einem grösseren Reichthum inneren Lebens und bereitet dadurch zugleich eine gänzliche Umbildung dieser Formen selbst vor.
Pythagoras.
Pythagoras aus Rhegion wird von Pausanias1) Schüler des Rheginers Klearch genannt; dieser hatte bei Eucheiros von Korinth, Eucheiros bei den Spartiaten Syadras und Char- tas gelernt. Die Fragen, welche sich an die Namen dieser Künstler knüpfen, sind schon früher erörtert worden. Sie hier noch weiter zu verfolgen, ist unnöthig, da wir ausser Stande sind, zu bestimmen, worin die Eigenthümlichkeit dieser Schule lag.
Pythagoras muss schon um die Mitte der siebziger Olym- piaden thätig gewesen sein. Denn er verfertigte die Statue des Krotoniaten Astylos, der zu Olympia dreimal im Laufe und Doppellaufe in drei auf einander folgenden Olympiaden: 73, 74, 75, siegte2). Da er sich aber dem Hieron zu Liebe zum zwei- ten und dritten Male als Syrakusaner ausrufen liess, so straf- ten ihn die Krotoniaten dadurch, dass sie sein Haus zum Ge- fängniss machten und seine Statue aus dem Tempel der Hera Lakinia entfernten. Wäre diese letztere ein Werk des Pytha-
1) VI, 4, 2.
2) Paus. VI, 13, 1.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0145"n="132"/>
und Härte verträgt sich mit jener Züchtigkeit und Wohlan-<lb/>
ständigkeit, mit jener Zierlichkeit und zarten Grazie sehr wohl;<lb/>
ja sie ist fast nothwendig, indem das Wesen aller dieser Eigen-<lb/>
schaften in einer Bewahrung bestimmter Schranken, selbst in<lb/>
einem Verschmähen derjenigen Freiheit beruht, deren Gebrauch<lb/>
zwar durch die Sitte erlaubt, aber darum noch nicht überall<lb/>
empfehlenswerth ist. Wollen wir hiernach die Bedeutung des<lb/>
Kalamis für die Entwickelung der Kunst in kurzen Worten<lb/>
zusammenfassen, so dürfen wir nicht sagen, dass er durch ein<lb/>
tiefes Eindringen in die Gesetze künstlerischer Gestaltung eine<lb/>
in ihren Ausgangspunkten wesentlich neue Bahn eingeschlagen<lb/>
habe. Die Grundlagen sind vielmehr bei ihm in der Haupt-<lb/>
sache die der vorhergehenden Epoche: aber indem er sich der<lb/>
Beobachtung der natürlichen Erscheinung der Dinge mit völ-<lb/>
liger Liebe hingiebt und alle einzelnen, feinen Züge nachzu-<lb/>
empfinden und nachzufühlen bestrebt ist, erfüllt er die früher<lb/>
starren und kalten Formen mit einem grösseren Reichthum<lb/>
inneren Lebens und bereitet dadurch zugleich eine gänzliche<lb/>
Umbildung dieser Formen selbst vor.</p></div><lb/><divn="3"><head><hirendition="#b"><hirendition="#g">Pythagoras.</hi></hi></head><lb/><p>Pythagoras aus Rhegion wird von Pausanias<noteplace="foot"n="1)">VI, 4, 2.</note> Schüler<lb/>
des Rheginers Klearch genannt; dieser hatte bei Eucheiros<lb/>
von Korinth, Eucheiros bei den Spartiaten Syadras und Char-<lb/>
tas gelernt. Die Fragen, welche sich an die Namen dieser<lb/>
Künstler knüpfen, sind schon früher erörtert worden. Sie hier<lb/>
noch weiter zu verfolgen, ist unnöthig, da wir ausser Stande<lb/>
sind, zu bestimmen, worin die Eigenthümlichkeit dieser<lb/>
Schule lag.</p><lb/><p>Pythagoras muss schon um die Mitte der siebziger Olym-<lb/>
piaden thätig gewesen sein. Denn er verfertigte die Statue des<lb/>
Krotoniaten Astylos, der zu Olympia dreimal im Laufe und<lb/>
Doppellaufe in drei auf einander folgenden Olympiaden: 73, 74,<lb/>
75, siegte<noteplace="foot"n="2)">Paus. VI, 13, 1.</note>. Da er sich aber dem Hieron zu Liebe zum zwei-<lb/>
ten und dritten Male als Syrakusaner ausrufen liess, so straf-<lb/>
ten ihn die Krotoniaten dadurch, dass sie sein Haus zum Ge-<lb/>
fängniss machten und seine Statue aus dem Tempel der Hera<lb/>
Lakinia entfernten. Wäre diese letztere ein Werk des Pytha-<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[132/0145]
und Härte verträgt sich mit jener Züchtigkeit und Wohlan-
ständigkeit, mit jener Zierlichkeit und zarten Grazie sehr wohl;
ja sie ist fast nothwendig, indem das Wesen aller dieser Eigen-
schaften in einer Bewahrung bestimmter Schranken, selbst in
einem Verschmähen derjenigen Freiheit beruht, deren Gebrauch
zwar durch die Sitte erlaubt, aber darum noch nicht überall
empfehlenswerth ist. Wollen wir hiernach die Bedeutung des
Kalamis für die Entwickelung der Kunst in kurzen Worten
zusammenfassen, so dürfen wir nicht sagen, dass er durch ein
tiefes Eindringen in die Gesetze künstlerischer Gestaltung eine
in ihren Ausgangspunkten wesentlich neue Bahn eingeschlagen
habe. Die Grundlagen sind vielmehr bei ihm in der Haupt-
sache die der vorhergehenden Epoche: aber indem er sich der
Beobachtung der natürlichen Erscheinung der Dinge mit völ-
liger Liebe hingiebt und alle einzelnen, feinen Züge nachzu-
empfinden und nachzufühlen bestrebt ist, erfüllt er die früher
starren und kalten Formen mit einem grösseren Reichthum
inneren Lebens und bereitet dadurch zugleich eine gänzliche
Umbildung dieser Formen selbst vor.
Pythagoras.
Pythagoras aus Rhegion wird von Pausanias 1) Schüler
des Rheginers Klearch genannt; dieser hatte bei Eucheiros
von Korinth, Eucheiros bei den Spartiaten Syadras und Char-
tas gelernt. Die Fragen, welche sich an die Namen dieser
Künstler knüpfen, sind schon früher erörtert worden. Sie hier
noch weiter zu verfolgen, ist unnöthig, da wir ausser Stande
sind, zu bestimmen, worin die Eigenthümlichkeit dieser
Schule lag.
Pythagoras muss schon um die Mitte der siebziger Olym-
piaden thätig gewesen sein. Denn er verfertigte die Statue des
Krotoniaten Astylos, der zu Olympia dreimal im Laufe und
Doppellaufe in drei auf einander folgenden Olympiaden: 73, 74,
75, siegte 2). Da er sich aber dem Hieron zu Liebe zum zwei-
ten und dritten Male als Syrakusaner ausrufen liess, so straf-
ten ihn die Krotoniaten dadurch, dass sie sein Haus zum Ge-
fängniss machten und seine Statue aus dem Tempel der Hera
Lakinia entfernten. Wäre diese letztere ein Werk des Pytha-
1) VI, 4, 2.
2) Paus. VI, 13, 1.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/145>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.