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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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Ausdruck der Leichtigkeit oder Kraft, der Milde oder Strenge
u. s. w. verleiht. Ganz entsprechend ist das Verhältniss die-
ser beiden Begriffe in der bildenden Kunst, nur mit dem Un-
terschiede, dass an die Stelle der Abtheilungen der Zeit die
des Raumes treten. Vitruv1) definirt uns Eurythmie als an-
muthige Erscheinung und gefälliges Aussehen in der Zusam-
menstellung der einzelnen Glieder: sie entstehe, wenn diese
Glieder zu einander stimmen, die Höhe zur Breite, die Breite
zur Länge, und im Ganzen alles seinen eigenen Maassverhäl-
nissen (symmetriae) entspreche. Symmetrie ist ihm dagegen
der aus den Gliedern des Werkes selbst hervorgehende har-
monische Einklang, sowie diejenige Richtigkeit jedes betreffen-
den Theiles, welche auf dem Verhältnisse der getrennten
Theile zur Erscheinung der gesammten Figur beruht. So
werde der menschliche Körper symmetrisch, wenn man alle
Maasse nach denen eines Theiles, der Hand, des Armes, des
Fusses, bestimme. Nach dieser freilich nicht besonders klaren
Definition kann es zwar scheinen, dass Eurythmie nichts sei,
als eine Symmetrie innerhalb der engen Grenzen eines einzel-
nen Theiles, zum Unterschiede von der Symmetrie aller Theile
unter einander. Bei näherer Betrachtung müssen wir jedoch
das Wesen der Vitruvischen Definition nicht in den Begriffen
des Theiles und des Ganzen suchen, sondern vielmehr in dem
Gegensatz der venusta species, des commodus adspectus, des
Anmuthigen, Gefälligen, und des responsus, des strengen Ent-
sprechens zwischen einem Theile und dem andern, welches
eine feste Regel voraussetzt. Dies geht namentlich aus einer
zweiten Stelle2) hervor, in welcher es sich um die praktische
Anwendung dieser Begriffe handelt. Dort heisst es: der Künst-
ler solle bei einem Werke zuerst die symmetrischen Verhält-
nisse festsetzen, sodann aber seinen Scharfblick auf die Orts-
beschaffenheit, den Gebrauch, die äussere Erscheinung richten
und danach an der Symmetrie hie und da ändern, etwas zu-
setzen oder wegnehmen; er solle die Proportionen ad decorem,
mit Rücksicht auf Angemessenheit zuschneiden, so dass dem
Beschauer an der Eurythmie kein Zweifel bleibe. Die Sym-
metrie, wie in der Kunst der Rede das Metrum, bestimmt
also das Verhältniss der Theile in festen Maassen und Zahlen;

1) I, 2.
2) VI, 2.

Ausdruck der Leichtigkeit oder Kraft, der Milde oder Strenge
u. s. w. verleiht. Ganz entsprechend ist das Verhältniss die-
ser beiden Begriffe in der bildenden Kunst, nur mit dem Un-
terschiede, dass an die Stelle der Abtheilungen der Zeit die
des Raumes treten. Vitruv1) definirt uns Eurythmie als an-
muthige Erscheinung und gefälliges Aussehen in der Zusam-
menstellung der einzelnen Glieder: sie entstehe, wenn diese
Glieder zu einander stimmen, die Höhe zur Breite, die Breite
zur Länge, und im Ganzen alles seinen eigenen Maassverhäl-
nissen (symmetriae) entspreche. Symmetrie ist ihm dagegen
der aus den Gliedern des Werkes selbst hervorgehende har-
monische Einklang, sowie diejenige Richtigkeit jedes betreffen-
den Theiles, welche auf dem Verhältnisse der getrennten
Theile zur Erscheinung der gesammten Figur beruht. So
werde der menschliche Körper symmetrisch, wenn man alle
Maasse nach denen eines Theiles, der Hand, des Armes, des
Fusses, bestimme. Nach dieser freilich nicht besonders klaren
Definition kann es zwar scheinen, dass Eurythmie nichts sei,
als eine Symmetrie innerhalb der engen Grenzen eines einzel-
nen Theiles, zum Unterschiede von der Symmetrie aller Theile
unter einander. Bei näherer Betrachtung müssen wir jedoch
das Wesen der Vitruvischen Definition nicht in den Begriffen
des Theiles und des Ganzen suchen, sondern vielmehr in dem
Gegensatz der venusta species, des commodus adspectus, des
Anmuthigen, Gefälligen, und des responsus, des strengen Ent-
sprechens zwischen einem Theile und dem andern, welches
eine feste Regel voraussetzt. Dies geht namentlich aus einer
zweiten Stelle2) hervor, in welcher es sich um die praktische
Anwendung dieser Begriffe handelt. Dort heisst es: der Künst-
ler solle bei einem Werke zuerst die symmetrischen Verhält-
nisse festsetzen, sodann aber seinen Scharfblick auf die Orts-
beschaffenheit, den Gebrauch, die äussere Erscheinung richten
und danach an der Symmetrie hie und da ändern, etwas zu-
setzen oder wegnehmen; er solle die Proportionen ad decorem,
mit Rücksicht auf Angemessenheit zuschneiden, so dass dem
Beschauer an der Eurythmie kein Zweifel bleibe. Die Sym-
metrie, wie in der Kunst der Rede das Metrum, bestimmt
also das Verhältniss der Theile in festen Maassen und Zahlen;

1) I, 2.
2) VI, 2.
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[137/0150] Ausdruck der Leichtigkeit oder Kraft, der Milde oder Strenge u. s. w. verleiht. Ganz entsprechend ist das Verhältniss die- ser beiden Begriffe in der bildenden Kunst, nur mit dem Un- terschiede, dass an die Stelle der Abtheilungen der Zeit die des Raumes treten. Vitruv 1) definirt uns Eurythmie als an- muthige Erscheinung und gefälliges Aussehen in der Zusam- menstellung der einzelnen Glieder: sie entstehe, wenn diese Glieder zu einander stimmen, die Höhe zur Breite, die Breite zur Länge, und im Ganzen alles seinen eigenen Maassverhäl- nissen (symmetriae) entspreche. Symmetrie ist ihm dagegen der aus den Gliedern des Werkes selbst hervorgehende har- monische Einklang, sowie diejenige Richtigkeit jedes betreffen- den Theiles, welche auf dem Verhältnisse der getrennten Theile zur Erscheinung der gesammten Figur beruht. So werde der menschliche Körper symmetrisch, wenn man alle Maasse nach denen eines Theiles, der Hand, des Armes, des Fusses, bestimme. Nach dieser freilich nicht besonders klaren Definition kann es zwar scheinen, dass Eurythmie nichts sei, als eine Symmetrie innerhalb der engen Grenzen eines einzel- nen Theiles, zum Unterschiede von der Symmetrie aller Theile unter einander. Bei näherer Betrachtung müssen wir jedoch das Wesen der Vitruvischen Definition nicht in den Begriffen des Theiles und des Ganzen suchen, sondern vielmehr in dem Gegensatz der venusta species, des commodus adspectus, des Anmuthigen, Gefälligen, und des responsus, des strengen Ent- sprechens zwischen einem Theile und dem andern, welches eine feste Regel voraussetzt. Dies geht namentlich aus einer zweiten Stelle 2) hervor, in welcher es sich um die praktische Anwendung dieser Begriffe handelt. Dort heisst es: der Künst- ler solle bei einem Werke zuerst die symmetrischen Verhält- nisse festsetzen, sodann aber seinen Scharfblick auf die Orts- beschaffenheit, den Gebrauch, die äussere Erscheinung richten und danach an der Symmetrie hie und da ändern, etwas zu- setzen oder wegnehmen; er solle die Proportionen ad decorem, mit Rücksicht auf Angemessenheit zuschneiden, so dass dem Beschauer an der Eurythmie kein Zweifel bleibe. Die Sym- metrie, wie in der Kunst der Rede das Metrum, bestimmt also das Verhältniss der Theile in festen Maassen und Zahlen; 1) I, 2. 2) VI, 2.

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/150>, abgerufen am 21.11.2024.