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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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verweisen, dessen Formen ich als aus der homerischen Be-
zeichnung boopis potnia Ere abgeleitet nachzuweisen ver-
sucht habe. -- Nur auf diese Weise erklärt es sich, wie die
Ideale eines Phidias und verwandter Geister bei den Griechen
allgemeine Geltung erlangen konnten. Sie waren nicht Bil-
dungen einer subjectiven Phantasie, denen, wenn sie auch
von noch so hoher Vortrefflichkeit gewesen wären, doch an-
dere eben so berechtigte Phantasien entgegengestellt werden
könnten, wie, um ein hervorragendes Beispiel anzuführen,
noch neben dem Moses eines Michelangelo auch andere Bil-
der des jüdischen Gesetzgebers recht wohl denkbar wären.
Die griechischen Ideale waren objective Bilder, welche die
Berechtigung, die Gewähr ihres Daseins in sich selbst trugen,
weil sie streng den Gesetzen desselben entsprachen. Deshalb
konnte und durfte an ihnen nichts Wesentliches verändert
werden, weil mit dem Theile auch das Ganze in Frage ge-
stellt worden wäre. Und darin liegt der Grund, dass auch
wir noch das Bild eines Zeus, einer Athene selbst ohne äussere
Abzeichen erkennen; denn überall sind die Grundformen, auf
denen das innere geistige Wesen beruht, unverändert geblieben.

Wollen wir jedoch die ganze Grösse der Verdienste des
Phidias ermessen, so dürfen wir schliesslich seine historische
Stellung nicht ausser Augen lassen. Es ist nicht meine Absicht,
zu behaupten, dass Phidias allein und einzig durch die Kraft
seines Genius die Kunst mit einem Male, wie mit einem gewaltigen
Sprunge, zum Gipfel der Vollkommenheit emporgeführt habe. Auch
er hatte seine Vorarbeiter. Wir haben oben die Verdienste eines
Kalamis, Pythagoras, Myron im Einzelnen erörtert, und an ihnen
gesehen, wie auf dem gesammten Gebiete der Kunst sich ein
Streben nach freierer Entwickelung zeigt. Doch dürfen wir
einen Punkt nicht übersehen: während sonst die Kunst gerade
in ihren erhabensten Leistungen der Religion dienstbar zu
sein pflegt, knüpft sich der Ruhm der genannten Künstler am
wenigsten an ihre religiösen Werke. Ihre Götterbilder mögen
die ihrer Vorgänger in der körperlichen Durchbildung weit
übertroffen haben: dass sie aber in geistiger Beziehung auf
einer wesentlich verschiedenen Grundanschauung beruhten,
wird wenigstens nirgends ausdrücklich bemerkt. Nur eine
Nachricht ist uns in dieser Beziehung über einen Künstler er-
halten, der, zwar etwas älter als Phidias, doch noch gleich-

verweisen, dessen Formen ich als aus der homerischen Be-
zeichnung βοῶπις πότνια Ἥρη abgeleitet nachzuweisen ver-
sucht habe. — Nur auf diese Weise erklärt es sich, wie die
Ideale eines Phidias und verwandter Geister bei den Griechen
allgemeine Geltung erlangen konnten. Sie waren nicht Bil-
dungen einer subjectiven Phantasie, denen, wenn sie auch
von noch so hoher Vortrefflichkeit gewesen wären, doch an-
dere eben so berechtigte Phantasien entgegengestellt werden
könnten, wie, um ein hervorragendes Beispiel anzuführen,
noch neben dem Moses eines Michelangelo auch andere Bil-
der des jüdischen Gesetzgebers recht wohl denkbar wären.
Die griechischen Ideale waren objective Bilder, welche die
Berechtigung, die Gewähr ihres Daseins in sich selbst trugen,
weil sie streng den Gesetzen desselben entsprachen. Deshalb
konnte und durfte an ihnen nichts Wesentliches verändert
werden, weil mit dem Theile auch das Ganze in Frage ge-
stellt worden wäre. Und darin liegt der Grund, dass auch
wir noch das Bild eines Zeus, einer Athene selbst ohne äussere
Abzeichen erkennen; denn überall sind die Grundformen, auf
denen das innere geistige Wesen beruht, unverändert geblieben.

Wollen wir jedoch die ganze Grösse der Verdienste des
Phidias ermessen, so dürfen wir schliesslich seine historische
Stellung nicht ausser Augen lassen. Es ist nicht meine Absicht,
zu behaupten, dass Phidias allein und einzig durch die Kraft
seines Genius die Kunst mit einem Male, wie mit einem gewaltigen
Sprunge, zum Gipfel der Vollkommenheit emporgeführt habe. Auch
er hatte seine Vorarbeiter. Wir haben oben die Verdienste eines
Kalamis, Pythagoras, Myron im Einzelnen erörtert, und an ihnen
gesehen, wie auf dem gesammten Gebiete der Kunst sich ein
Streben nach freierer Entwickelung zeigt. Doch dürfen wir
einen Punkt nicht übersehen: während sonst die Kunst gerade
in ihren erhabensten Leistungen der Religion dienstbar zu
sein pflegt, knüpft sich der Ruhm der genannten Künstler am
wenigsten an ihre religiösen Werke. Ihre Götterbilder mögen
die ihrer Vorgänger in der körperlichen Durchbildung weit
übertroffen haben: dass sie aber in geistiger Beziehung auf
einer wesentlich verschiedenen Grundanschauung beruhten,
wird wenigstens nirgends ausdrücklich bemerkt. Nur eine
Nachricht ist uns in dieser Beziehung über einen Künstler er-
halten, der, zwar etwas älter als Phidias, doch noch gleich-

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[202/0215] verweisen, dessen Formen ich als aus der homerischen Be- zeichnung βοῶπις πότνια Ἥρη abgeleitet nachzuweisen ver- sucht habe. — Nur auf diese Weise erklärt es sich, wie die Ideale eines Phidias und verwandter Geister bei den Griechen allgemeine Geltung erlangen konnten. Sie waren nicht Bil- dungen einer subjectiven Phantasie, denen, wenn sie auch von noch so hoher Vortrefflichkeit gewesen wären, doch an- dere eben so berechtigte Phantasien entgegengestellt werden könnten, wie, um ein hervorragendes Beispiel anzuführen, noch neben dem Moses eines Michelangelo auch andere Bil- der des jüdischen Gesetzgebers recht wohl denkbar wären. Die griechischen Ideale waren objective Bilder, welche die Berechtigung, die Gewähr ihres Daseins in sich selbst trugen, weil sie streng den Gesetzen desselben entsprachen. Deshalb konnte und durfte an ihnen nichts Wesentliches verändert werden, weil mit dem Theile auch das Ganze in Frage ge- stellt worden wäre. Und darin liegt der Grund, dass auch wir noch das Bild eines Zeus, einer Athene selbst ohne äussere Abzeichen erkennen; denn überall sind die Grundformen, auf denen das innere geistige Wesen beruht, unverändert geblieben. Wollen wir jedoch die ganze Grösse der Verdienste des Phidias ermessen, so dürfen wir schliesslich seine historische Stellung nicht ausser Augen lassen. Es ist nicht meine Absicht, zu behaupten, dass Phidias allein und einzig durch die Kraft seines Genius die Kunst mit einem Male, wie mit einem gewaltigen Sprunge, zum Gipfel der Vollkommenheit emporgeführt habe. Auch er hatte seine Vorarbeiter. Wir haben oben die Verdienste eines Kalamis, Pythagoras, Myron im Einzelnen erörtert, und an ihnen gesehen, wie auf dem gesammten Gebiete der Kunst sich ein Streben nach freierer Entwickelung zeigt. Doch dürfen wir einen Punkt nicht übersehen: während sonst die Kunst gerade in ihren erhabensten Leistungen der Religion dienstbar zu sein pflegt, knüpft sich der Ruhm der genannten Künstler am wenigsten an ihre religiösen Werke. Ihre Götterbilder mögen die ihrer Vorgänger in der körperlichen Durchbildung weit übertroffen haben: dass sie aber in geistiger Beziehung auf einer wesentlich verschiedenen Grundanschauung beruhten, wird wenigstens nirgends ausdrücklich bemerkt. Nur eine Nachricht ist uns in dieser Beziehung über einen Künstler er- halten, der, zwar etwas älter als Phidias, doch noch gleich-

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/215>, abgerufen am 22.11.2024.