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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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sten der Götter, ist es besonders Athene, die Göttin vorzugs-
weise geistiger Kräfte, welche er in seinen Werken verherr-
licht. Zwar kennen wir auch mehrere Bilder der Aphrodite
von Phidias; allein selbst wenn wir nicht davon unterrichtet
wären, dass die liebreizende, nacktgebildete Göttin einer nach-
folgenden Entwickelungsperiode angehörte, so könnte uns
schon die Bezeichnung als Aphrodite Urania, die bei zweien
dieser Bilder wiederkehrt, hinlänglich darüber belehren, dass
der Künstler die Göttin in ihrer würdigsten Gestalt und nach
ihrem erhabensten Begriffe aufgefasst hatte 1). In entgegen-
gesetzter Weise können wir zu der gleichen Bemerkung durch
die Amazone des Phidias geführt werden. Sie war ein vor-
zügliches Werk, Lucian rühmt an ihr einige Theile als beson-
ders musterhaft, und sie musste zu seiner Zeit sogar ein Lieb-
lingsstück der Kenner sein. Dennoch ward nach Plinius Er-
zählung Phidias in der Amazonenbildung von Polyklet über-
troffen. Es war eben der Gegenstand nicht einer so erhabe-
nen geistigen Auffassung fähig, wie sie der innersten Natur
des Phidias, ich möchte sagen, Bedürfniss war; das Ideal, wel-
ches überhaupt hier erstrebt werden durfte, war mehr ein Ideal
körperlicher Vollendung. Dieses Verhältniss steigert sich natür-
lich noch mehr bei blosser Portraitbildung, welche, wenn auch
das Bild des Darzustellenden noch so geistig gefasst wurde,
wie es bei vielen der griechischen Portraits wirklich der Fall
ist, doch den Charakter des rein Menschlichen im Gegensatz
zum Göttlichen nicht abstreifen kann und darf. So bietet uns
denn Phidias die wunderbare Erscheinung dar, dass, wo er
in einem Zweige der Kunst minder vollkommen erscheinen
sollte, der Grund nicht in mangelnder geistiger Befähigung,
sondern in der zu grossen Gewalt und Erhabenheit seines
Geistes zu suchen ist.

Wir haben geglaubt, die Grösse des Phidias im poetischen
Schaffen zuerst und mit besonderem Nachdruck hervorheben
zu müssen. Aber der Genius mag noch so gewaltig, seine
Ideen mögen noch so erhaben sein: um ihnen Gestalt zu ver-
leihen, ist die gründlichste Kenntniss dieser Gestalt selbst die
erste, durch nichts Anderes zu ersetzende Vorbedingung.

1) Die Erzählung beim Schol. Greg. Naz. (ap. Gaisford Catal. Mss. Clark.
p. 36), dass der Anblick der Aphrodite des Phidias den Beschauer zu Wollust
reize, beruht auf Misverständniss, oder ist spätere Erfindung.

sten der Götter, ist es besonders Athene, die Göttin vorzugs-
weise geistiger Kräfte, welche er in seinen Werken verherr-
licht. Zwar kennen wir auch mehrere Bilder der Aphrodite
von Phidias; allein selbst wenn wir nicht davon unterrichtet
wären, dass die liebreizende, nacktgebildete Göttin einer nach-
folgenden Entwickelungsperiode angehörte, so könnte uns
schon die Bezeichnung als Aphrodite Urania, die bei zweien
dieser Bilder wiederkehrt, hinlänglich darüber belehren, dass
der Künstler die Göttin in ihrer würdigsten Gestalt und nach
ihrem erhabensten Begriffe aufgefasst hatte 1). In entgegen-
gesetzter Weise können wir zu der gleichen Bemerkung durch
die Amazone des Phidias geführt werden. Sie war ein vor-
zügliches Werk, Lucian rühmt an ihr einige Theile als beson-
ders musterhaft, und sie musste zu seiner Zeit sogar ein Lieb-
lingsstück der Kenner sein. Dennoch ward nach Plinius Er-
zählung Phidias in der Amazonenbildung von Polyklet über-
troffen. Es war eben der Gegenstand nicht einer so erhabe-
nen geistigen Auffassung fähig, wie sie der innersten Natur
des Phidias, ich möchte sagen, Bedürfniss war; das Ideal, wel-
ches überhaupt hier erstrebt werden durfte, war mehr ein Ideal
körperlicher Vollendung. Dieses Verhältniss steigert sich natür-
lich noch mehr bei blosser Portraitbildung, welche, wenn auch
das Bild des Darzustellenden noch so geistig gefasst wurde,
wie es bei vielen der griechischen Portraits wirklich der Fall
ist, doch den Charakter des rein Menschlichen im Gegensatz
zum Göttlichen nicht abstreifen kann und darf. So bietet uns
denn Phidias die wunderbare Erscheinung dar, dass, wo er
in einem Zweige der Kunst minder vollkommen erscheinen
sollte, der Grund nicht in mangelnder geistiger Befähigung,
sondern in der zu grossen Gewalt und Erhabenheit seines
Geistes zu suchen ist.

Wir haben geglaubt, die Grösse des Phidias im poetischen
Schaffen zuerst und mit besonderem Nachdruck hervorheben
zu müssen. Aber der Genius mag noch so gewaltig, seine
Ideen mögen noch so erhaben sein: um ihnen Gestalt zu ver-
leihen, ist die gründlichste Kenntniss dieser Gestalt selbst die
erste, durch nichts Anderes zu ersetzende Vorbedingung.

1) Die Erzählung beim Schol. Greg. Naz. (ap. Gaisford Catal. Mss. Clark.
p. 36), dass der Anblick der Aphrodite des Phidias den Beschauer zu Wollust
reize, beruht auf Misverständniss, oder ist spätere Erfindung.
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[205/0218] sten der Götter, ist es besonders Athene, die Göttin vorzugs- weise geistiger Kräfte, welche er in seinen Werken verherr- licht. Zwar kennen wir auch mehrere Bilder der Aphrodite von Phidias; allein selbst wenn wir nicht davon unterrichtet wären, dass die liebreizende, nacktgebildete Göttin einer nach- folgenden Entwickelungsperiode angehörte, so könnte uns schon die Bezeichnung als Aphrodite Urania, die bei zweien dieser Bilder wiederkehrt, hinlänglich darüber belehren, dass der Künstler die Göttin in ihrer würdigsten Gestalt und nach ihrem erhabensten Begriffe aufgefasst hatte 1). In entgegen- gesetzter Weise können wir zu der gleichen Bemerkung durch die Amazone des Phidias geführt werden. Sie war ein vor- zügliches Werk, Lucian rühmt an ihr einige Theile als beson- ders musterhaft, und sie musste zu seiner Zeit sogar ein Lieb- lingsstück der Kenner sein. Dennoch ward nach Plinius Er- zählung Phidias in der Amazonenbildung von Polyklet über- troffen. Es war eben der Gegenstand nicht einer so erhabe- nen geistigen Auffassung fähig, wie sie der innersten Natur des Phidias, ich möchte sagen, Bedürfniss war; das Ideal, wel- ches überhaupt hier erstrebt werden durfte, war mehr ein Ideal körperlicher Vollendung. Dieses Verhältniss steigert sich natür- lich noch mehr bei blosser Portraitbildung, welche, wenn auch das Bild des Darzustellenden noch so geistig gefasst wurde, wie es bei vielen der griechischen Portraits wirklich der Fall ist, doch den Charakter des rein Menschlichen im Gegensatz zum Göttlichen nicht abstreifen kann und darf. So bietet uns denn Phidias die wunderbare Erscheinung dar, dass, wo er in einem Zweige der Kunst minder vollkommen erscheinen sollte, der Grund nicht in mangelnder geistiger Befähigung, sondern in der zu grossen Gewalt und Erhabenheit seines Geistes zu suchen ist. Wir haben geglaubt, die Grösse des Phidias im poetischen Schaffen zuerst und mit besonderem Nachdruck hervorheben zu müssen. Aber der Genius mag noch so gewaltig, seine Ideen mögen noch so erhaben sein: um ihnen Gestalt zu ver- leihen, ist die gründlichste Kenntniss dieser Gestalt selbst die erste, durch nichts Anderes zu ersetzende Vorbedingung. 1) Die Erzählung beim Schol. Greg. Naz. (ap. Gaisford Catal. Mss. Clark. p. 36), dass der Anblick der Aphrodite des Phidias den Beschauer zu Wollust reize, beruht auf Misverständniss, oder ist spätere Erfindung.

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/218>, abgerufen am 22.11.2024.