cher Verirrung der Kunst von vorn herein hemmend in den Weg treten. Aber eben so wenig dürfen wir uns verhehlen, dass solche Normalproportionen, wenn sie ausschliesslich an- gewendet werden, dem Ausdruck der Individualität vielfachen Abbruch thun müssen. Dass Polyklet von dieser Einseitigkeit nicht frei war, lehrt das schon angeführte Urtheil des Quinti- lian; und nur durch eine solche Auffassung werden wir den Widerspruch lösen können, welchen man in einem Urtheil (des Varro) bei Plinius 1) hat finden wollen. Während nemlich das Alterthum das Verdienst des Polyklet um die Proportionen auf alle Weise hervorhebt, heisst es dort von Myron: er sei nu- merosior in arte quam Polycletus et in symmetria diligentior. Wir müssen hier auf einen Ausdruck Lucian's zurückkommen, wonach ein Tänzer, gleich dem Kanon Polyklet's, emmetros akribos sein soll. Die Maasse seines Körpers nemlich sollen sich innerhalb der festen Normen und Gesetze bewegen, welche wir aus den vollkommensten Bildungen der Natur als allge- meingültig aufstellen, indem wir sie, wie in der Poesie das Metrum, auf mathematische Verhältnisse zurückführen. Wie aber in der Kunst der Rede die Prosa das erruthmon und em- metron, als der Poesie eigenthümlich, sogar absichtlich ver- meiden, trotzdem aber auf das euruthmon und eumetron ihre Aufmerksamkeit richten muss 2), so muss sich auch in der bil- denden Kunst jenes normale Maass nach der verschiedenen Thätigkeit eines Körpers und nach den auf ihn einwirkenden Einflüssen modificiren, jedoch auch hier, je nach der Stetigkeit dieser Einflüsse, wieder nach bestimmten, in geringerem Um- fang geltenden Gesetzen. Auf ihrer Beobachtung nach den mannigfaltigsten Richtungen beruhte aber, wie wir schon frü- her nachgewiesen haben, das Verdienst des Myron, während bei Polyklet überall das Streben nach allerdings an sich voll- kommneren, reineren Verhältnissen, aber auch in mehr ein- seitiger Weise, hervortritt.
Für die formelle Seite der künstlerischen Thätigkeit des Polyklet müssen wir endlich noch eine Nachricht des Plinius in Betracht ziehen: es sei eine Eigenthümlichkeit seiner Sta- tuen, dass das Gewicht der Körper auf einem Schenkel ruhe: proprium eius est ut uno crure insisterent signa excogitasse.
1) 34, 58.
2) Vgl. Dion. Hal. de comp. verb. p. 28 Sylb.
cher Verirrung der Kunst von vorn herein hemmend in den Weg treten. Aber eben so wenig dürfen wir uns verhehlen, dass solche Normalproportionen, wenn sie ausschliesslich an- gewendet werden, dem Ausdruck der Individualität vielfachen Abbruch thun müssen. Dass Polyklet von dieser Einseitigkeit nicht frei war, lehrt das schon angeführte Urtheil des Quinti- lian; und nur durch eine solche Auffassung werden wir den Widerspruch lösen können, welchen man in einem Urtheil (des Varro) bei Plinius 1) hat finden wollen. Während nemlich das Alterthum das Verdienst des Polyklet um die Proportionen auf alle Weise hervorhebt, heisst es dort von Myron: er sei nu- merosior in arte quam Polycletus et in symmetria diligentior. Wir müssen hier auf einen Ausdruck Lucian’s zurückkommen, wonach ein Tänzer, gleich dem Kanon Polyklet’s, ἔμμετρος ἀκριβῶς sein soll. Die Maasse seines Körpers nemlich sollen sich innerhalb der festen Normen und Gesetze bewegen, welche wir aus den vollkommensten Bildungen der Natur als allge- meingültig aufstellen, indem wir sie, wie in der Poesie das Metrum, auf mathematische Verhältnisse zurückführen. Wie aber in der Kunst der Rede die Prosa das ἔρρυϑμον und ἔμ- μετρον, als der Poesie eigenthümlich, sogar absichtlich ver- meiden, trotzdem aber auf das εὔρυϑμὸν und εὔμετρον ihre Aufmerksamkeit richten muss 2), so muss sich auch in der bil- denden Kunst jenes normale Maass nach der verschiedenen Thätigkeit eines Körpers und nach den auf ihn einwirkenden Einflüssen modificiren, jedoch auch hier, je nach der Stetigkeit dieser Einflüsse, wieder nach bestimmten, in geringerem Um- fang geltenden Gesetzen. Auf ihrer Beobachtung nach den mannigfaltigsten Richtungen beruhte aber, wie wir schon frü- her nachgewiesen haben, das Verdienst des Myron, während bei Polyklet überall das Streben nach allerdings an sich voll- kommneren, reineren Verhältnissen, aber auch in mehr ein- seitiger Weise, hervortritt.
Für die formelle Seite der künstlerischen Thätigkeit des Polyklet müssen wir endlich noch eine Nachricht des Plinius in Betracht ziehen: es sei eine Eigenthümlichkeit seiner Sta- tuen, dass das Gewicht der Körper auf einem Schenkel ruhe: proprium eius est ut uno crure insisterent signa excogitasse.
1) 34, 58.
2) Vgl. Dion. Hal. de comp. verb. p. 28 Sylb.
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cher Verirrung der Kunst von vorn herein hemmend in den
Weg treten. Aber eben so wenig dürfen wir uns verhehlen,
dass solche Normalproportionen, wenn sie ausschliesslich an-
gewendet werden, dem Ausdruck der Individualität vielfachen
Abbruch thun müssen. Dass Polyklet von dieser Einseitigkeit
nicht frei war, lehrt das schon angeführte Urtheil des Quinti-
lian; und nur durch eine solche Auffassung werden wir den
Widerspruch lösen können, welchen man in einem Urtheil (des
Varro) bei Plinius 1) hat finden wollen. Während nemlich das
Alterthum das Verdienst des Polyklet um die Proportionen auf
alle Weise hervorhebt, heisst es dort von Myron: er sei nu-
merosior in arte quam Polycletus et in symmetria diligentior.
Wir müssen hier auf einen Ausdruck Lucian’s zurückkommen,
wonach ein Tänzer, gleich dem Kanon Polyklet’s, ἔμμετρος
ἀκριβῶς sein soll. Die Maasse seines Körpers nemlich sollen
sich innerhalb der festen Normen und Gesetze bewegen, welche
wir aus den vollkommensten Bildungen der Natur als allge-
meingültig aufstellen, indem wir sie, wie in der Poesie das
Metrum, auf mathematische Verhältnisse zurückführen. Wie
aber in der Kunst der Rede die Prosa das ἔρρυϑμον und ἔμ-
μετρον, als der Poesie eigenthümlich, sogar absichtlich ver-
meiden, trotzdem aber auf das εὔρυϑμὸν und εὔμετρον ihre
Aufmerksamkeit richten muss 2), so muss sich auch in der bil-
denden Kunst jenes normale Maass nach der verschiedenen
Thätigkeit eines Körpers und nach den auf ihn einwirkenden
Einflüssen modificiren, jedoch auch hier, je nach der Stetigkeit
dieser Einflüsse, wieder nach bestimmten, in geringerem Um-
fang geltenden Gesetzen. Auf ihrer Beobachtung nach den
mannigfaltigsten Richtungen beruhte aber, wie wir schon frü-
her nachgewiesen haben, das Verdienst des Myron, während
bei Polyklet überall das Streben nach allerdings an sich voll-
kommneren, reineren Verhältnissen, aber auch in mehr ein-
seitiger Weise, hervortritt.
Für die formelle Seite der künstlerischen Thätigkeit des
Polyklet müssen wir endlich noch eine Nachricht des Plinius
in Betracht ziehen: es sei eine Eigenthümlichkeit seiner Sta-
tuen, dass das Gewicht der Körper auf einem Schenkel ruhe:
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1) 34, 58.
2) Vgl. Dion. Hal. de comp. verb. p. 28 Sylb.
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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/235>, abgerufen am 22.11.2024.
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