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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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scheidet, wenn auch sein Vorangehen für die spätere Entwicke-
lung in vieler Beziehung gefahrbringend erscheinen sollte.
Denn allerdings liegt eine Gefahr darin, dass der Künstler sich
leicht zu dem Wahne verleiten lassen kann, er müsse die hef-
tige Erregtheit des Geistes durch ein Uebermaass körperlicher
Bewegung, welches leicht in Verzerrung übergehen kann, zur
Darstellung bringen. Bei Skopas finden wir von einer solchen
Ausartung noch keine Spuren, und wir dürfen daher nach den
Gründen fragen, welche ihn davor bewahrt haben mögen.

Der Begriff der Ausartung, der Willkür setzt den Begriff des
Gesetzes mit Nothwendigkeit voraus, und hierin liegt es schon,
dass vor Ausartung, Willkür nur die Beobachtung des Gesetzes
schützen kann. Ist aber Leidenschaft nicht ein Abweichen von
dem gesetzmässigen Zustande? und ist es daher nicht ein
Widerspruch, von der Darstellung der Leidenschaft Gesetz-
mässigkeit zu verlangen? Keineswegs. Die Leidenschaft, wenn
sie nicht förmlicher Wahnsinn ist, hat ihr psychologisches Gesetz.
Ihre Wirkung auf den Körper wird sich, gerade je heftiger sie
ist, in desto schärferen, bestimmteren Zügen offenbaren, freilich
nicht nach den ästhetischen Principien ruhiger Bildungen, welche
alle Gegensätze vermitteln und durch Uebergänge ausgleichen,
sondern nach dem Gesetze, welches dem Körper unabhängig
vom Geiste inwohnt, dem Gesetze der sich bedingenden Gegen-
sätze, des mechanischen Gleichgewichts der Kräfte. Denn wie
es im menschlichen Körper keinen Theil giebt, welcher eine
Bewegung bewirkt, ohne dass ein anderer Theil bestimmt wäre,
dieselbe aufzuheben oder im entgegengesetzten Sinne auszu-
führen, so giebt es auch keine Bewegung, welche nicht eine
Gegenbewegung voraussetzte, um vermittelst derselben das
durch die erstere gestörte Gleichgewicht wieder herzustellen.
Indem nun bei heftiger geistiger Erregung der Geist dem Körper
nur den Antrieb zu einer gewissen Bewegung im Allgemeinen
giebt, nicht aber jedes Glied derselben im Einzelnen, so zu
sagen, überwacht und beschränkend regelt, so entwickelt sich
dieser erste Anstoss in der gegebenen einheitlichen Richtung
ungehemmt bis in die äussersten und feinsten Theile unter vol-
ler Enthaltung aller dabei verwendbaren Kräfte. Aber stets
darf diese Entwickelung nur bis zu der Grenze vorschreiten,
welche jenes Gesetz der Natur gezogen hat, um, dort ange-
kommen, sofort in die rückgängige, entgegengesetzte Richtung

scheidet, wenn auch sein Vorangehen für die spätere Entwicke-
lung in vieler Beziehung gefahrbringend erscheinen sollte.
Denn allerdings liegt eine Gefahr darin, dass der Künstler sich
leicht zu dem Wahne verleiten lassen kann, er müsse die hef-
tige Erregtheit des Geistes durch ein Uebermaass körperlicher
Bewegung, welches leicht in Verzerrung übergehen kann, zur
Darstellung bringen. Bei Skopas finden wir von einer solchen
Ausartung noch keine Spuren, und wir dürfen daher nach den
Gründen fragen, welche ihn davor bewahrt haben mögen.

Der Begriff der Ausartung, der Willkür setzt den Begriff des
Gesetzes mit Nothwendigkeit voraus, und hierin liegt es schon,
dass vor Ausartung, Willkür nur die Beobachtung des Gesetzes
schützen kann. Ist aber Leidenschaft nicht ein Abweichen von
dem gesetzmässigen Zustande? und ist es daher nicht ein
Widerspruch, von der Darstellung der Leidenschaft Gesetz-
mässigkeit zu verlangen? Keineswegs. Die Leidenschaft, wenn
sie nicht förmlicher Wahnsinn ist, hat ihr psychologisches Gesetz.
Ihre Wirkung auf den Körper wird sich, gerade je heftiger sie
ist, in desto schärferen, bestimmteren Zügen offenbaren, freilich
nicht nach den ästhetischen Principien ruhiger Bildungen, welche
alle Gegensätze vermitteln und durch Uebergänge ausgleichen,
sondern nach dem Gesetze, welches dem Körper unabhängig
vom Geiste inwohnt, dem Gesetze der sich bedingenden Gegen-
sätze, des mechanischen Gleichgewichts der Kräfte. Denn wie
es im menschlichen Körper keinen Theil giebt, welcher eine
Bewegung bewirkt, ohne dass ein anderer Theil bestimmt wäre,
dieselbe aufzuheben oder im entgegengesetzten Sinne auszu-
führen, so giebt es auch keine Bewegung, welche nicht eine
Gegenbewegung voraussetzte, um vermittelst derselben das
durch die erstere gestörte Gleichgewicht wieder herzustellen.
Indem nun bei heftiger geistiger Erregung der Geist dem Körper
nur den Antrieb zu einer gewissen Bewegung im Allgemeinen
giebt, nicht aber jedes Glied derselben im Einzelnen, so zu
sagen, überwacht und beschränkend regelt, so entwickelt sich
dieser erste Anstoss in der gegebenen einheitlichen Richtung
ungehemmt bis in die äussersten und feinsten Theile unter vol-
ler Enthaltung aller dabei verwendbaren Kräfte. Aber stets
darf diese Entwickelung nur bis zu der Grenze vorschreiten,
welche jenes Gesetz der Natur gezogen hat, um, dort ange-
kommen, sofort in die rückgängige, entgegengesetzte Richtung

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[329/0342] scheidet, wenn auch sein Vorangehen für die spätere Entwicke- lung in vieler Beziehung gefahrbringend erscheinen sollte. Denn allerdings liegt eine Gefahr darin, dass der Künstler sich leicht zu dem Wahne verleiten lassen kann, er müsse die hef- tige Erregtheit des Geistes durch ein Uebermaass körperlicher Bewegung, welches leicht in Verzerrung übergehen kann, zur Darstellung bringen. Bei Skopas finden wir von einer solchen Ausartung noch keine Spuren, und wir dürfen daher nach den Gründen fragen, welche ihn davor bewahrt haben mögen. Der Begriff der Ausartung, der Willkür setzt den Begriff des Gesetzes mit Nothwendigkeit voraus, und hierin liegt es schon, dass vor Ausartung, Willkür nur die Beobachtung des Gesetzes schützen kann. Ist aber Leidenschaft nicht ein Abweichen von dem gesetzmässigen Zustande? und ist es daher nicht ein Widerspruch, von der Darstellung der Leidenschaft Gesetz- mässigkeit zu verlangen? Keineswegs. Die Leidenschaft, wenn sie nicht förmlicher Wahnsinn ist, hat ihr psychologisches Gesetz. Ihre Wirkung auf den Körper wird sich, gerade je heftiger sie ist, in desto schärferen, bestimmteren Zügen offenbaren, freilich nicht nach den ästhetischen Principien ruhiger Bildungen, welche alle Gegensätze vermitteln und durch Uebergänge ausgleichen, sondern nach dem Gesetze, welches dem Körper unabhängig vom Geiste inwohnt, dem Gesetze der sich bedingenden Gegen- sätze, des mechanischen Gleichgewichts der Kräfte. Denn wie es im menschlichen Körper keinen Theil giebt, welcher eine Bewegung bewirkt, ohne dass ein anderer Theil bestimmt wäre, dieselbe aufzuheben oder im entgegengesetzten Sinne auszu- führen, so giebt es auch keine Bewegung, welche nicht eine Gegenbewegung voraussetzte, um vermittelst derselben das durch die erstere gestörte Gleichgewicht wieder herzustellen. Indem nun bei heftiger geistiger Erregung der Geist dem Körper nur den Antrieb zu einer gewissen Bewegung im Allgemeinen giebt, nicht aber jedes Glied derselben im Einzelnen, so zu sagen, überwacht und beschränkend regelt, so entwickelt sich dieser erste Anstoss in der gegebenen einheitlichen Richtung ungehemmt bis in die äussersten und feinsten Theile unter vol- ler Enthaltung aller dabei verwendbaren Kräfte. Aber stets darf diese Entwickelung nur bis zu der Grenze vorschreiten, welche jenes Gesetz der Natur gezogen hat, um, dort ange- kommen, sofort in die rückgängige, entgegengesetzte Richtung

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/342>, abgerufen am 22.11.2024.