fachste Weise durchgeführt hatte. Das Wasser und besonders das Meer hat in der Poesie aller Völker den Charakter der Schwermuth, der Sehnsucht. Wie es in der Natur wohl mo- mentan ruhen, von jedem Hauche aber in leise Schwingungen, vom Sturm sogar in die wildeste Bewegung versetzt werden kann, ohne je zu einer festen Gestalt zu gelangen, so zeigt es sich auch, wenn ihm von der Poesie oder der Kunst Persön- lichkeit geliehen wird. An ihr Element gebannt, streben diese Meeresgestalten stets nach Vereinigung mit den Geschöpfen der Erde. Bald mit wehmüthiger Klage, bald mit wilder Ge- walt suchen sie dieselben zu locken, zu bezwingen; und nie wird ihre Sehnsucht auf die Dauer gestillt: nie verschwindet daher auch dieser Ausdruck der Sehnsucht. Künstlerisch sehen wir denselben in den griechischen und den von ihnen abgeleiteten römischen Werken in klarster und sprechendster Weise durchgebildet. Vergleichen wir aber die ihm zu Grunde liegenden Formen mit denen der olympischen Götter eines Phi- dias, so lässt sich eine wesentliche Verschiedenheit im Grund- charakter nicht verkennen. Bei den Olympiern herrscht in dem Ausdrucke Klarheit und Ruhe, welche darin begründet sind, dass das Bestimmende des Charakters in denjenigen Theilen ausgeprägt ist, welche durch ihre feste Form den Zweck haben, den weichen und beweglichen Theilen als Grundlage zu dienen, nämlich in dem Bau des Knochengerüstes, welchem die flei- schigen Theile gewissermassen nur zur Umhüllung dienen. Bei den Gestalten des Meeres dagegen treten gerade diese letzte- ren in einer weit bestimmteren, durchaus selbstständigen Gel- tung hervor. Namentlich der Mund und die weichen, das Auge umgebenden Theile offenbaren sich als der Sitz jenes Schmer- zes und jener Sehnsucht. Haben wir nun in dieser neuen Be- handlung der Form etwas Zufälliges, etwas Willkürliches zu sehen, für welches es keinen anderen, tieferen Grund gäbe, als die Subjectivität des Künstlers? In dem menschlichen Orga- nismus, dessen Gesetze doch der Bildung auch dieser Wesen zu Grunde liegen müssen, sind Schmerz und Sehnsucht nicht etwas nothwendig, bleibend Vorhandenes, setzen deshalb auch keinen festen, in gewissen Formen verharrenden Träger dieser See- lenzustände voraus. Sie sind Leiden, pathe, welche vorüber- gehen oder wenigstens vorübergehen können, ja sogar häufig und schnell in das Gegentheil umschlagen. Sie können daher nur in
fachste Weise durchgeführt hatte. Das Wasser und besonders das Meer hat in der Poesie aller Völker den Charakter der Schwermuth, der Sehnsucht. Wie es in der Natur wohl mo- mentan ruhen, von jedem Hauche aber in leise Schwingungen, vom Sturm sogar in die wildeste Bewegung versetzt werden kann, ohne je zu einer festen Gestalt zu gelangen, so zeigt es sich auch, wenn ihm von der Poesie oder der Kunst Persön- lichkeit geliehen wird. An ihr Element gebannt, streben diese Meeresgestalten stets nach Vereinigung mit den Geschöpfen der Erde. Bald mit wehmüthiger Klage, bald mit wilder Ge- walt suchen sie dieselben zu locken, zu bezwingen; und nie wird ihre Sehnsucht auf die Dauer gestillt: nie verschwindet daher auch dieser Ausdruck der Sehnsucht. Künstlerisch sehen wir denselben in den griechischen und den von ihnen abgeleiteten römischen Werken in klarster und sprechendster Weise durchgebildet. Vergleichen wir aber die ihm zu Grunde liegenden Formen mit denen der olympischen Götter eines Phi- dias, so lässt sich eine wesentliche Verschiedenheit im Grund- charakter nicht verkennen. Bei den Olympiern herrscht in dem Ausdrucke Klarheit und Ruhe, welche darin begründet sind, dass das Bestimmende des Charakters in denjenigen Theilen ausgeprägt ist, welche durch ihre feste Form den Zweck haben, den weichen und beweglichen Theilen als Grundlage zu dienen, nämlich in dem Bau des Knochengerüstes, welchem die flei- schigen Theile gewissermassen nur zur Umhüllung dienen. Bei den Gestalten des Meeres dagegen treten gerade diese letzte- ren in einer weit bestimmteren, durchaus selbstständigen Gel- tung hervor. Namentlich der Mund und die weichen, das Auge umgebenden Theile offenbaren sich als der Sitz jenes Schmer- zes und jener Sehnsucht. Haben wir nun in dieser neuen Be- handlung der Form etwas Zufälliges, etwas Willkürliches zu sehen, für welches es keinen anderen, tieferen Grund gäbe, als die Subjectivität des Künstlers? In dem menschlichen Orga- nismus, dessen Gesetze doch der Bildung auch dieser Wesen zu Grunde liegen müssen, sind Schmerz und Sehnsucht nicht etwas nothwendig, bleibend Vorhandenes, setzen deshalb auch keinen festen, in gewissen Formen verharrenden Träger dieser See- lenzustände voraus. Sie sind Leiden, πάϑη, welche vorüber- gehen oder wenigstens vorübergehen können, ja sogar häufig und schnell in das Gegentheil umschlagen. Sie können daher nur in
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0344"n="331"/>
fachste Weise durchgeführt hatte. Das Wasser und besonders<lb/>
das Meer hat in der Poesie aller Völker den Charakter der<lb/>
Schwermuth, der Sehnsucht. Wie es in der Natur wohl mo-<lb/>
mentan ruhen, von jedem Hauche aber in leise Schwingungen,<lb/>
vom Sturm sogar in die wildeste Bewegung versetzt werden<lb/>
kann, ohne je zu einer festen Gestalt zu gelangen, so zeigt es<lb/>
sich auch, wenn ihm von der Poesie oder der Kunst Persön-<lb/>
lichkeit geliehen wird. An ihr Element gebannt, streben diese<lb/>
Meeresgestalten stets nach Vereinigung mit den Geschöpfen<lb/>
der Erde. Bald mit wehmüthiger Klage, bald mit wilder Ge-<lb/>
walt suchen sie dieselben zu locken, zu bezwingen; und nie<lb/>
wird ihre Sehnsucht auf die Dauer gestillt: nie verschwindet<lb/>
daher auch dieser Ausdruck der Sehnsucht. Künstlerisch<lb/>
sehen wir denselben in den griechischen und den von ihnen<lb/>
abgeleiteten römischen Werken in klarster und sprechendster<lb/>
Weise durchgebildet. Vergleichen wir aber die ihm zu Grunde<lb/>
liegenden Formen mit denen der olympischen Götter eines Phi-<lb/>
dias, so lässt sich eine wesentliche Verschiedenheit im Grund-<lb/>
charakter nicht verkennen. Bei den Olympiern herrscht in dem<lb/>
Ausdrucke Klarheit und Ruhe, welche darin begründet sind,<lb/>
dass das Bestimmende des Charakters in denjenigen Theilen<lb/>
ausgeprägt ist, welche durch ihre feste Form den Zweck haben,<lb/>
den weichen und beweglichen Theilen als Grundlage zu dienen,<lb/>
nämlich in dem Bau des Knochengerüstes, welchem die flei-<lb/>
schigen Theile gewissermassen nur zur Umhüllung dienen. Bei<lb/>
den Gestalten des Meeres dagegen treten gerade diese letzte-<lb/>
ren in einer weit bestimmteren, durchaus selbstständigen Gel-<lb/>
tung hervor. Namentlich der Mund und die weichen, das Auge<lb/>
umgebenden Theile offenbaren sich als der Sitz jenes Schmer-<lb/>
zes und jener Sehnsucht. Haben wir nun in dieser neuen Be-<lb/>
handlung der Form etwas Zufälliges, etwas Willkürliches zu<lb/>
sehen, für welches es keinen anderen, tieferen Grund gäbe, als<lb/>
die Subjectivität des Künstlers? In dem menschlichen Orga-<lb/>
nismus, dessen Gesetze doch der Bildung auch dieser Wesen zu<lb/>
Grunde liegen müssen, sind Schmerz und Sehnsucht nicht etwas<lb/>
nothwendig, bleibend Vorhandenes, setzen deshalb auch keinen<lb/>
festen, in gewissen Formen verharrenden Träger dieser See-<lb/>
lenzustände voraus. Sie sind Leiden, πάϑη, welche vorüber-<lb/>
gehen oder wenigstens vorübergehen können, ja sogar häufig und<lb/>
schnell in das Gegentheil umschlagen. Sie können daher nur in<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[331/0344]
fachste Weise durchgeführt hatte. Das Wasser und besonders
das Meer hat in der Poesie aller Völker den Charakter der
Schwermuth, der Sehnsucht. Wie es in der Natur wohl mo-
mentan ruhen, von jedem Hauche aber in leise Schwingungen,
vom Sturm sogar in die wildeste Bewegung versetzt werden
kann, ohne je zu einer festen Gestalt zu gelangen, so zeigt es
sich auch, wenn ihm von der Poesie oder der Kunst Persön-
lichkeit geliehen wird. An ihr Element gebannt, streben diese
Meeresgestalten stets nach Vereinigung mit den Geschöpfen
der Erde. Bald mit wehmüthiger Klage, bald mit wilder Ge-
walt suchen sie dieselben zu locken, zu bezwingen; und nie
wird ihre Sehnsucht auf die Dauer gestillt: nie verschwindet
daher auch dieser Ausdruck der Sehnsucht. Künstlerisch
sehen wir denselben in den griechischen und den von ihnen
abgeleiteten römischen Werken in klarster und sprechendster
Weise durchgebildet. Vergleichen wir aber die ihm zu Grunde
liegenden Formen mit denen der olympischen Götter eines Phi-
dias, so lässt sich eine wesentliche Verschiedenheit im Grund-
charakter nicht verkennen. Bei den Olympiern herrscht in dem
Ausdrucke Klarheit und Ruhe, welche darin begründet sind,
dass das Bestimmende des Charakters in denjenigen Theilen
ausgeprägt ist, welche durch ihre feste Form den Zweck haben,
den weichen und beweglichen Theilen als Grundlage zu dienen,
nämlich in dem Bau des Knochengerüstes, welchem die flei-
schigen Theile gewissermassen nur zur Umhüllung dienen. Bei
den Gestalten des Meeres dagegen treten gerade diese letzte-
ren in einer weit bestimmteren, durchaus selbstständigen Gel-
tung hervor. Namentlich der Mund und die weichen, das Auge
umgebenden Theile offenbaren sich als der Sitz jenes Schmer-
zes und jener Sehnsucht. Haben wir nun in dieser neuen Be-
handlung der Form etwas Zufälliges, etwas Willkürliches zu
sehen, für welches es keinen anderen, tieferen Grund gäbe, als
die Subjectivität des Künstlers? In dem menschlichen Orga-
nismus, dessen Gesetze doch der Bildung auch dieser Wesen zu
Grunde liegen müssen, sind Schmerz und Sehnsucht nicht etwas
nothwendig, bleibend Vorhandenes, setzen deshalb auch keinen
festen, in gewissen Formen verharrenden Träger dieser See-
lenzustände voraus. Sie sind Leiden, πάϑη, welche vorüber-
gehen oder wenigstens vorübergehen können, ja sogar häufig und
schnell in das Gegentheil umschlagen. Sie können daher nur in
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/344>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.