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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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dürfen wir gewiss weniger den Charakter einer leidenschaftli-
chen Ausgelassenheit, als einer muntern, gemüthlichen Behaglich-
keit voraussetzen. Die Nymphen in einem andern Epigramme
heissen gelosai und unter ihnen befindet sich die kale Danae.
Mochten aber auch diese Nymphen den Pan umfangen, moch-
ten die Maenaden und Thyiaden nicht weniger in lebendiger
Bewegung erscheinen, so werden wir nirgends übersehen dür-
fen, welcher Art der geistige Antrieb ist, von welchem die
Bewegung ausgeht. Ich erinnere hier an die häufig, auch in
Gesellschaft des Pan wiederkehrenden Relieffiguren von Tän-
zerinnen, welche man gewöhnlich Horen nennt 1), um zu zei-
gen, wie eine schöne, lebendige Bewegung ohne geistige Er-
regung recht wohl bestehen kann. Und um hier nicht noch-
mals den Beweis dafür an der formellen Durchführung im
Einzelnen liefern zu müssen, möge es mir gestattet sein, auf
die anderwärts 2) von mir gegebene Analyse zweier bacchi-
schen Figuren eines Marmordiskos zu verweisen, welche, wie
um diesen Gegensatz der Kunst eines Skopas und Praxiteles
recht offenbar zu machen, auf einem und demselben Monumente
vereinigt erscheinen. Den Ausdruck Diodors 3), Praxiteles
habe dem Steine ta tes psukhes pathe beigemischt, werden wir
hiernach nicht in seinem strengsten Sinne gelten lassen dürfen.
Richtiger bezeichnet Plinius, worin das innerste Wesen aller
dieser Gestalten des Praxiteles beruhe, wenn er sagt, in den
Bildern der Matrone und der Buhlerin habe der Künstler diver-
sos affectus ausgedrückt. Denn die Affecte scheiden sich nach
Quintilian 4) in zwei Klassen: einer Seits nemlich sei affectus
die treffende Uebersetzung des griechischen pathos, anderer Seits
erscheinen sie dem ethos verwandter und könnten als mores,
oder besser als morum quaedam proprietas bezeichnet werden.
Cautiores voluntatem complecti quam nomina interpretari ma-
luerunt: affectus igitur hos concitatos, illos mites atque compo-
sitos esse dixerunt; in altero vehementer commotos, in altero
lenes; denique hos imperare, illos persuadere; hos ad pertur-
bationem, illos ad benevolentiam praevalere. Diese milderen
Affecte, welche hier geschildert werden, bezeichnen vollkom-
men das Wesen praxitelischer Kunstgebilde. Es sind mehr

1) z. B. Mus. Chiaram. I, 44. Schöll Mitth. V, Fig. 12.
2) Ann. dell'
Inst. 1851, p. 123 etc.
3) Exc. Hoesch. lib. XXVI, 1.
4) VI, 2, 8.

dürfen wir gewiss weniger den Charakter einer leidenschaftli-
chen Ausgelassenheit, als einer muntern, gemüthlichen Behaglich-
keit voraussetzen. Die Nymphen in einem andern Epigramme
heissen γελῶσαι und unter ihnen befindet sich die καλὴ Δανάη.
Mochten aber auch diese Nymphen den Pan umfangen, moch-
ten die Maenaden und Thyiaden nicht weniger in lebendiger
Bewegung erscheinen, so werden wir nirgends übersehen dür-
fen, welcher Art der geistige Antrieb ist, von welchem die
Bewegung ausgeht. Ich erinnere hier an die häufig, auch in
Gesellschaft des Pan wiederkehrenden Relieffiguren von Tän-
zerinnen, welche man gewöhnlich Horen nennt 1), um zu zei-
gen, wie eine schöne, lebendige Bewegung ohne geistige Er-
regung recht wohl bestehen kann. Und um hier nicht noch-
mals den Beweis dafür an der formellen Durchführung im
Einzelnen liefern zu müssen, möge es mir gestattet sein, auf
die anderwärts 2) von mir gegebene Analyse zweier bacchi-
schen Figuren eines Marmordiskos zu verweisen, welche, wie
um diesen Gegensatz der Kunst eines Skopas und Praxiteles
recht offenbar zu machen, auf einem und demselben Monumente
vereinigt erscheinen. Den Ausdruck Diodors 3), Praxiteles
habe dem Steine τὰ τῆς ψυχῆς πάϑη beigemischt, werden wir
hiernach nicht in seinem strengsten Sinne gelten lassen dürfen.
Richtiger bezeichnet Plinius, worin das innerste Wesen aller
dieser Gestalten des Praxiteles beruhe, wenn er sagt, in den
Bildern der Matrone und der Buhlerin habe der Künstler diver-
sos affectus ausgedrückt. Denn die Affecte scheiden sich nach
Quintilian 4) in zwei Klassen: einer Seits nemlich sei affectus
die treffende Uebersetzung des griechischen πάϑος, anderer Seits
erscheinen sie dem ἦϑος verwandter und könnten als mores,
oder besser als morum quaedam proprietas bezeichnet werden.
Cautiores voluntatem complecti quam nomina interpretari ma-
luerunt: affectus igitur hos concitatos, illos mites atque compo-
sitos esse dixerunt; in altero vehementer commotos, in altero
lenes; denique hos imperare, illos persuadere; hos ad pertur-
bationem, illos ad benevolentiam praevalere. Diese milderen
Affecte, welche hier geschildert werden, bezeichnen vollkom-
men das Wesen praxitelischer Kunstgebilde. Es sind mehr

1) z. B. Mus. Chiaram. I, 44. Schöll Mitth. V, Fig. 12.
2) Ann. dell’
Inst. 1851, p. 123 etc.
3) Exc. Hoesch. lib. XXVI, 1.
4) VI, 2, 8.
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[356/0369] dürfen wir gewiss weniger den Charakter einer leidenschaftli- chen Ausgelassenheit, als einer muntern, gemüthlichen Behaglich- keit voraussetzen. Die Nymphen in einem andern Epigramme heissen γελῶσαι und unter ihnen befindet sich die καλὴ Δανάη. Mochten aber auch diese Nymphen den Pan umfangen, moch- ten die Maenaden und Thyiaden nicht weniger in lebendiger Bewegung erscheinen, so werden wir nirgends übersehen dür- fen, welcher Art der geistige Antrieb ist, von welchem die Bewegung ausgeht. Ich erinnere hier an die häufig, auch in Gesellschaft des Pan wiederkehrenden Relieffiguren von Tän- zerinnen, welche man gewöhnlich Horen nennt 1), um zu zei- gen, wie eine schöne, lebendige Bewegung ohne geistige Er- regung recht wohl bestehen kann. Und um hier nicht noch- mals den Beweis dafür an der formellen Durchführung im Einzelnen liefern zu müssen, möge es mir gestattet sein, auf die anderwärts 2) von mir gegebene Analyse zweier bacchi- schen Figuren eines Marmordiskos zu verweisen, welche, wie um diesen Gegensatz der Kunst eines Skopas und Praxiteles recht offenbar zu machen, auf einem und demselben Monumente vereinigt erscheinen. Den Ausdruck Diodors 3), Praxiteles habe dem Steine τὰ τῆς ψυχῆς πάϑη beigemischt, werden wir hiernach nicht in seinem strengsten Sinne gelten lassen dürfen. Richtiger bezeichnet Plinius, worin das innerste Wesen aller dieser Gestalten des Praxiteles beruhe, wenn er sagt, in den Bildern der Matrone und der Buhlerin habe der Künstler diver- sos affectus ausgedrückt. Denn die Affecte scheiden sich nach Quintilian 4) in zwei Klassen: einer Seits nemlich sei affectus die treffende Uebersetzung des griechischen πάϑος, anderer Seits erscheinen sie dem ἦϑος verwandter und könnten als mores, oder besser als morum quaedam proprietas bezeichnet werden. Cautiores voluntatem complecti quam nomina interpretari ma- luerunt: affectus igitur hos concitatos, illos mites atque compo- sitos esse dixerunt; in altero vehementer commotos, in altero lenes; denique hos imperare, illos persuadere; hos ad pertur- bationem, illos ad benevolentiam praevalere. Diese milderen Affecte, welche hier geschildert werden, bezeichnen vollkom- men das Wesen praxitelischer Kunstgebilde. Es sind mehr 1) z. B. Mus. Chiaram. I, 44. Schöll Mitth. V, Fig. 12. 2) Ann. dell’ Inst. 1851, p. 123 etc. 3) Exc. Hoesch. lib. XXVI, 1. 4) VI, 2, 8.

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 356. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/369>, abgerufen am 22.11.2024.