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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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also mit mehr Recht eine mythologische Darstellung des Zau-
derns, als eine Allegorie desselben nennen. Am Kairos des
Lysipp erblicken wir dagegen eine Reihe von Attributen, wel-
che sich nicht mit einer bestimmten Handlung verbinden, auch
nicht das, was sie sind, bedeuten, sondern durch die etwas
nicht in ihnen selbst liegendes angedeutet werden soll. Zeus
hat den Blitz, Apollo den Bogen, um ihn, je nachdem die
Handlung es erheischt, zu gebrauchen; der Kairos hält die
Waage, um anzudeuten, dass das Zünglein der Waage stets
schwankt; denn, wie Welcker passend citirt:
Auf des Glückes goldner Waage
Steht die Zunge selten ein,
Du musst steigen oder sinken.

Ein zweites Attribut bedeutet, dass das Glück auf der Schärfe
des Scheermessers steht; das lange Haar, dass man die Gele-
genheit beim Schopf ergreifen muss u. s. w. Allen diesen Be-
ziehungen liegt nicht etwas wirkliches, sondern lediglich ein
Vergleich zu Grunde. Dieser kann allerdings zuweilen sehr
geistreich und schlagend sein. Allein nicht ohne Grund sagt
das Sprichwort, dass jeder Vergleich hinke; und die Kunst
vermag daher auf diesem Wege nirgends in sich nothwendige
und dadurch allgemein gültige Formen zu erreichen. In das
Lob, welches Callistratus dieser Statue ertheilt, soweit es
sich auf die Erfindung und nicht auf die Ausführung bezieht,
können wir daher nicht einstimmen. Vielmehr erkennen wir
in derselben das Erzeugniss einer unkünstlerischen Reflexion:
unkünstlerisch, weil sie die Formen, durch welche die Kunst
sprechen soll, zur Bezeichnung von etwas anderem misbraucht
als diese durch sich selbst darzustellen vermögen.

Wir fragen jetzt: ist die Erfindung dieses Werkes eine
vereinzelte Verirrung? ist sie charakteristisch für die künst-
lerische Entwickelung des Lysipp? oder ist sie überhaupt nur
ein Zeichen der gänzlich veränderten Anschauung der Kunst
und des Lebens zu seiner Zeit? Seine Werke mögen ant-
worten. Plinius, dessen Absicht es war, gerade die vorzüg-
lichsten derselben anzuführen, nennt in der Hauptstelle nur
ein einziges Götterbild: den Sonnengott, und zwar ist dieses
eine quadriga cum Sole Rhodiorum, so dass sich die Behaup-
tung aufstellen liesse, das Gespann sei künstlerisch mindestens
eben so wichtig gewesen, als der Gott. Der Zeus und der

also mit mehr Recht eine mythologische Darstellung des Zau-
derns, als eine Allegorie desselben nennen. Am Kairos des
Lysipp erblicken wir dagegen eine Reihe von Attributen, wel-
che sich nicht mit einer bestimmten Handlung verbinden, auch
nicht das, was sie sind, bedeuten, sondern durch die etwas
nicht in ihnen selbst liegendes angedeutet werden soll. Zeus
hat den Blitz, Apollo den Bogen, um ihn, je nachdem die
Handlung es erheischt, zu gebrauchen; der Kairos hält die
Waage, um anzudeuten, dass das Zünglein der Waage stets
schwankt; denn, wie Welcker passend citirt:
Auf des Glückes goldner Waage
Steht die Zunge selten ein,
Du musst steigen oder sinken.

Ein zweites Attribut bedeutet, dass das Glück auf der Schärfe
des Scheermessers steht; das lange Haar, dass man die Gele-
genheit beim Schopf ergreifen muss u. s. w. Allen diesen Be-
ziehungen liegt nicht etwas wirkliches, sondern lediglich ein
Vergleich zu Grunde. Dieser kann allerdings zuweilen sehr
geistreich und schlagend sein. Allein nicht ohne Grund sagt
das Sprichwort, dass jeder Vergleich hinke; und die Kunst
vermag daher auf diesem Wege nirgends in sich nothwendige
und dadurch allgemein gültige Formen zu erreichen. In das
Lob, welches Callistratus dieser Statue ertheilt, soweit es
sich auf die Erfindung und nicht auf die Ausführung bezieht,
können wir daher nicht einstimmen. Vielmehr erkennen wir
in derselben das Erzeugniss einer unkünstlerischen Reflexion:
unkünstlerisch, weil sie die Formen, durch welche die Kunst
sprechen soll, zur Bezeichnung von etwas anderem misbraucht
als diese durch sich selbst darzustellen vermögen.

Wir fragen jetzt: ist die Erfindung dieses Werkes eine
vereinzelte Verirrung? ist sie charakteristisch für die künst-
lerische Entwickelung des Lysipp? oder ist sie überhaupt nur
ein Zeichen der gänzlich veränderten Anschauung der Kunst
und des Lebens zu seiner Zeit? Seine Werke mögen ant-
worten. Plinius, dessen Absicht es war, gerade die vorzüg-
lichsten derselben anzuführen, nennt in der Hauptstelle nur
ein einziges Götterbild: den Sonnengott, und zwar ist dieses
eine quadriga cum Sole Rhodiorum, so dass sich die Behaup-
tung aufstellen liesse, das Gespann sei künstlerisch mindestens
eben so wichtig gewesen, als der Gott. Der Zeus und der

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[367/0380] also mit mehr Recht eine mythologische Darstellung des Zau- derns, als eine Allegorie desselben nennen. Am Kairos des Lysipp erblicken wir dagegen eine Reihe von Attributen, wel- che sich nicht mit einer bestimmten Handlung verbinden, auch nicht das, was sie sind, bedeuten, sondern durch die etwas nicht in ihnen selbst liegendes angedeutet werden soll. Zeus hat den Blitz, Apollo den Bogen, um ihn, je nachdem die Handlung es erheischt, zu gebrauchen; der Kairos hält die Waage, um anzudeuten, dass das Zünglein der Waage stets schwankt; denn, wie Welcker passend citirt: Auf des Glückes goldner Waage Steht die Zunge selten ein, Du musst steigen oder sinken. Ein zweites Attribut bedeutet, dass das Glück auf der Schärfe des Scheermessers steht; das lange Haar, dass man die Gele- genheit beim Schopf ergreifen muss u. s. w. Allen diesen Be- ziehungen liegt nicht etwas wirkliches, sondern lediglich ein Vergleich zu Grunde. Dieser kann allerdings zuweilen sehr geistreich und schlagend sein. Allein nicht ohne Grund sagt das Sprichwort, dass jeder Vergleich hinke; und die Kunst vermag daher auf diesem Wege nirgends in sich nothwendige und dadurch allgemein gültige Formen zu erreichen. In das Lob, welches Callistratus dieser Statue ertheilt, soweit es sich auf die Erfindung und nicht auf die Ausführung bezieht, können wir daher nicht einstimmen. Vielmehr erkennen wir in derselben das Erzeugniss einer unkünstlerischen Reflexion: unkünstlerisch, weil sie die Formen, durch welche die Kunst sprechen soll, zur Bezeichnung von etwas anderem misbraucht als diese durch sich selbst darzustellen vermögen. Wir fragen jetzt: ist die Erfindung dieses Werkes eine vereinzelte Verirrung? ist sie charakteristisch für die künst- lerische Entwickelung des Lysipp? oder ist sie überhaupt nur ein Zeichen der gänzlich veränderten Anschauung der Kunst und des Lebens zu seiner Zeit? Seine Werke mögen ant- worten. Plinius, dessen Absicht es war, gerade die vorzüg- lichsten derselben anzuführen, nennt in der Hauptstelle nur ein einziges Götterbild: den Sonnengott, und zwar ist dieses eine quadriga cum Sole Rhodiorum, so dass sich die Behaup- tung aufstellen liesse, das Gespann sei künstlerisch mindestens eben so wichtig gewesen, als der Gott. Der Zeus und der

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 367. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/380>, abgerufen am 22.11.2024.