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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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wir überall die körperliche Gebrechlichkeit mehr oder minder
angedeutet und mit ihr den geistigen Charakter nicht nur in
Harmonie, sondern eigentlich erst aus ihr entwickelt. Dass
Lysipp den Aesop nicht nach dem Leben bilden konnte', thut
hier nichts zur Sache. Ja, wir müssen gerade deshalb um so
mehr die feine Individualisirung des Ausdrucks bewundern.
Vergleichen wir nur das ebenfalls erdichtete Portrait des Ho-
mer, so wird uns dieses an die Bemerkung des Plinius bei
Gelegenheit des Perikles von Kresilas erinnern, dass in solcher
Auffassung die Kunst nobiles viros nobiliores bilde: so durch-
aus ideal ist dieses Portrait erfasst. Bei dem Aesop dagegen
glauben wir einen jener fein- und scharfsinnigen Köpfe wirk-
lich vor uns zu sehen, wie sie diesen krüppelhaften Gestalten
nicht selten im Leben eigen sind. An diese Bemerkungen
liessen sich leicht ähnliche über die Thierbildungen des Lysipp
anreihen, deren lebensvoller Ausdruck die Bewunderung des
Alterthums erregte. Doch genügt auch das Gesagte, um auf
den Satz hinzuleiten: dass wir als den Grundzug in dem
künstlerischen Charakter des Lysipp die schärfste Beobachtung
und Auffassung aller Erscheinungen der Wirklichkeit anerken-
nen müssen. Wie aber derselbe für das Wesen seiner Kunst
so durchaus entscheidend werden konnte, das wird sich voll-
ständig erst dann erklären lassen, wenn wir uns nochmals
erinnern, auf welchem Wege er sich zu so hoher Vortrefflich-
keit emporarbeitete.

Es ist eine häufiger wiederkehrende Thatsache, dass der
Autodidakt bei der Betrachtung der Natur weniger auf die in-
neren Bildungsgesetze derselben, als auf die äussere Erschei-
nung, und, besonders in den ersten Stadien seiner Entwicke-
lung, weniger auf diese in ihrer Gesammtheit, als auf Einzeln-
heiten derselben seine Aufmerksamkeit richtet. Er wird
seine künstlerische Aufgabe um so vollständiger zu erfüllen
meinen, je mehr er die Summe dessen, was er in der Natur
im Einzelnen beobachtet hat, in seinen Werken wirklich dar-
stellt. Es kann daher keineswegs gewagt erscheinen, wenn
wir auch bei Lysipp die Möglichkeit eines ähnlichen Entwicke-
lungsganges annehmen. Bringen wir aber damit die Schärfe
seiner Auffassungsgabe in Verbindung, so erklärt sich uns zu-
erst in der ungezwungensten Weise, wie die argutiae operum

wir überall die körperliche Gebrechlichkeit mehr oder minder
angedeutet und mit ihr den geistigen Charakter nicht nur in
Harmonie, sondern eigentlich erst aus ihr entwickelt. Dass
Lysipp den Aesop nicht nach dem Leben bilden konnte’, thut
hier nichts zur Sache. Ja, wir müssen gerade deshalb um so
mehr die feine Individualisirung des Ausdrucks bewundern.
Vergleichen wir nur das ebenfalls erdichtete Portrait des Ho-
mer, so wird uns dieses an die Bemerkung des Plinius bei
Gelegenheit des Perikles von Kresilas erinnern, dass in solcher
Auffassung die Kunst nobiles viros nobiliores bilde: so durch-
aus ideal ist dieses Portrait erfasst. Bei dem Aesop dagegen
glauben wir einen jener fein- und scharfsinnigen Köpfe wirk-
lich vor uns zu sehen, wie sie diesen krüppelhaften Gestalten
nicht selten im Leben eigen sind. An diese Bemerkungen
liessen sich leicht ähnliche über die Thierbildungen des Lysipp
anreihen, deren lebensvoller Ausdruck die Bewunderung des
Alterthums erregte. Doch genügt auch das Gesagte, um auf
den Satz hinzuleiten: dass wir als den Grundzug in dem
künstlerischen Charakter des Lysipp die schärfste Beobachtung
und Auffassung aller Erscheinungen der Wirklichkeit anerken-
nen müssen. Wie aber derselbe für das Wesen seiner Kunst
so durchaus entscheidend werden konnte, das wird sich voll-
ständig erst dann erklären lassen, wenn wir uns nochmals
erinnern, auf welchem Wege er sich zu so hoher Vortrefflich-
keit emporarbeitete.

Es ist eine häufiger wiederkehrende Thatsache, dass der
Autodidakt bei der Betrachtung der Natur weniger auf die in-
neren Bildungsgesetze derselben, als auf die äussere Erschei-
nung, und, besonders in den ersten Stadien seiner Entwicke-
lung, weniger auf diese in ihrer Gesammtheit, als auf Einzeln-
heiten derselben seine Aufmerksamkeit richtet. Er wird
seine künstlerische Aufgabe um so vollständiger zu erfüllen
meinen, je mehr er die Summe dessen, was er in der Natur
im Einzelnen beobachtet hat, in seinen Werken wirklich dar-
stellt. Es kann daher keineswegs gewagt erscheinen, wenn
wir auch bei Lysipp die Möglichkeit eines ähnlichen Entwicke-
lungsganges annehmen. Bringen wir aber damit die Schärfe
seiner Auffassungsgabe in Verbindung, so erklärt sich uns zu-
erst in der ungezwungensten Weise, wie die argutiae operum

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[380/0393] wir überall die körperliche Gebrechlichkeit mehr oder minder angedeutet und mit ihr den geistigen Charakter nicht nur in Harmonie, sondern eigentlich erst aus ihr entwickelt. Dass Lysipp den Aesop nicht nach dem Leben bilden konnte’, thut hier nichts zur Sache. Ja, wir müssen gerade deshalb um so mehr die feine Individualisirung des Ausdrucks bewundern. Vergleichen wir nur das ebenfalls erdichtete Portrait des Ho- mer, so wird uns dieses an die Bemerkung des Plinius bei Gelegenheit des Perikles von Kresilas erinnern, dass in solcher Auffassung die Kunst nobiles viros nobiliores bilde: so durch- aus ideal ist dieses Portrait erfasst. Bei dem Aesop dagegen glauben wir einen jener fein- und scharfsinnigen Köpfe wirk- lich vor uns zu sehen, wie sie diesen krüppelhaften Gestalten nicht selten im Leben eigen sind. An diese Bemerkungen liessen sich leicht ähnliche über die Thierbildungen des Lysipp anreihen, deren lebensvoller Ausdruck die Bewunderung des Alterthums erregte. Doch genügt auch das Gesagte, um auf den Satz hinzuleiten: dass wir als den Grundzug in dem künstlerischen Charakter des Lysipp die schärfste Beobachtung und Auffassung aller Erscheinungen der Wirklichkeit anerken- nen müssen. Wie aber derselbe für das Wesen seiner Kunst so durchaus entscheidend werden konnte, das wird sich voll- ständig erst dann erklären lassen, wenn wir uns nochmals erinnern, auf welchem Wege er sich zu so hoher Vortrefflich- keit emporarbeitete. Es ist eine häufiger wiederkehrende Thatsache, dass der Autodidakt bei der Betrachtung der Natur weniger auf die in- neren Bildungsgesetze derselben, als auf die äussere Erschei- nung, und, besonders in den ersten Stadien seiner Entwicke- lung, weniger auf diese in ihrer Gesammtheit, als auf Einzeln- heiten derselben seine Aufmerksamkeit richtet. Er wird seine künstlerische Aufgabe um so vollständiger zu erfüllen meinen, je mehr er die Summe dessen, was er in der Natur im Einzelnen beobachtet hat, in seinen Werken wirklich dar- stellt. Es kann daher keineswegs gewagt erscheinen, wenn wir auch bei Lysipp die Möglichkeit eines ähnlichen Entwicke- lungsganges annehmen. Bringen wir aber damit die Schärfe seiner Auffassungsgabe in Verbindung, so erklärt sich uns zu- erst in der ungezwungensten Weise, wie die argutiae operum

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 380. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/393>, abgerufen am 22.11.2024.