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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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und dieselbe in typischer Weise durchzubilden. Ein weiterer
Schritt auf der Bahn dieser zugleich psychologischen und pa-
thetischen Entwickelung musste aber dahin führen, die Per-
sönlichkeit einer einzelnen, bestimmten Situation unterzuordnen.
Dass dies schon jetzt der Fall war, lehrt z. B. die sterbende
Iokaste des Silanion, ein Bild, in welchem der pathetische
Ausdruck des Todes so sehr die Hauptsache war, dass der
Künstler ihn sogar durch die Farbe zu unterstützen suchte;
und noch jetzt ist uns in dem sterbenden Alexander der Floren-
tiner Gallerie 1) ein Werk erhalten, welches wenigstens in
seinem Urbilde als die Frucht eben dieser Geistesrichtung be-
trachtet werden muss. Zu ihrer vollen Blüthe entwickelt sich
dieselbe jedoch erst in der nächsten Periode.

Die eben erwähnten Werke sind vor allem geeignet, uns
an die Bemerkung zu erinnern, mit welcher wir den Rückblick
auf die vorige Periode beschlossen haben: dass nemlich jetzt
die Malerei auf die Sculptur einen sichtbaren Einfluss auszu-
üben beginne. Denn offenbar hat der, man möchte sagen,
schillernde Charakter des Paris sein Vorbild in dem wetter-
wendischen Demos der Athener von Parrhasios, das Pathos
der sterbenden Iokaste in der zum Tode verwundeten Mutter
von Aristides, welche ihr Kind von der Brust abhält, um es
nicht statt der Milch das Blut einer Sterbenden einsaugen zu
lassen. Jener Einfluss aber bleibt nicht auf die Wahl und die
geistige oder poetische Auffassung des Gegenstandes beschränkt,
sondern äussert sich ebenso nachdrücklich in Hinsicht auf die
formelle Behandlung. Die Malerei zur Zeit des Zeuxis und
Parrhasios tritt zu der älteren des Polygnot vornehmlich da-
durch in einen scharfen Gegensatz, dass sie sich dem Streben
nach Illusion hingiebt: den sprechendsten Beweis dafür liefert
der bekannte Wettstreit der beiden Meister, deren einer durch
gemalte Trauben die Vögel, der andere durch einen gemalten
Vorhang seinen Nebenbuhler selbst täuscht. Worin aber be-
stand nach dem Urtheile der Alten das charakteristische Ver-
dienst des Praxiteles und Lysipp? In der veritas, derjenigen
Wahrheit, welche uns ein getreues Bild der Natur weniger
nach ihren tieferen Gesetzen, als nach ihrer äusseren Erschei-
nung giebt. In diesem einen Streben erkennen wir sogar den

1) Müll. u. Oest. D. a. K. I, 39, Fig. 160.

und dieselbe in typischer Weise durchzubilden. Ein weiterer
Schritt auf der Bahn dieser zugleich psychologischen und pa-
thetischen Entwickelung musste aber dahin führen, die Per-
sönlichkeit einer einzelnen, bestimmten Situation unterzuordnen.
Dass dies schon jetzt der Fall war, lehrt z. B. die sterbende
Iokaste des Silanion, ein Bild, in welchem der pathetische
Ausdruck des Todes so sehr die Hauptsache war, dass der
Künstler ihn sogar durch die Farbe zu unterstützen suchte;
und noch jetzt ist uns in dem sterbenden Alexander der Floren-
tiner Gallerie 1) ein Werk erhalten, welches wenigstens in
seinem Urbilde als die Frucht eben dieser Geistesrichtung be-
trachtet werden muss. Zu ihrer vollen Blüthe entwickelt sich
dieselbe jedoch erst in der nächsten Periode.

Die eben erwähnten Werke sind vor allem geeignet, uns
an die Bemerkung zu erinnern, mit welcher wir den Rückblick
auf die vorige Periode beschlossen haben: dass nemlich jetzt
die Malerei auf die Sculptur einen sichtbaren Einfluss auszu-
üben beginne. Denn offenbar hat der, man möchte sagen,
schillernde Charakter des Paris sein Vorbild in dem wetter-
wendischen Demos der Athener von Parrhasios, das Pathos
der sterbenden Iokaste in der zum Tode verwundeten Mutter
von Aristides, welche ihr Kind von der Brust abhält, um es
nicht statt der Milch das Blut einer Sterbenden einsaugen zu
lassen. Jener Einfluss aber bleibt nicht auf die Wahl und die
geistige oder poetische Auffassung des Gegenstandes beschränkt,
sondern äussert sich ebenso nachdrücklich in Hinsicht auf die
formelle Behandlung. Die Malerei zur Zeit des Zeuxis und
Parrhasios tritt zu der älteren des Polygnot vornehmlich da-
durch in einen scharfen Gegensatz, dass sie sich dem Streben
nach Illusion hingiebt: den sprechendsten Beweis dafür liefert
der bekannte Wettstreit der beiden Meister, deren einer durch
gemalte Trauben die Vögel, der andere durch einen gemalten
Vorhang seinen Nebenbuhler selbst täuscht. Worin aber be-
stand nach dem Urtheile der Alten das charakteristische Ver-
dienst des Praxiteles und Lysipp? In der veritas, derjenigen
Wahrheit, welche uns ein getreues Bild der Natur weniger
nach ihren tieferen Gesetzen, als nach ihrer äusseren Erschei-
nung giebt. In diesem einen Streben erkennen wir sogar den

1) Müll. u. Oest. D. a. K. I, 39, Fig. 160.
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[438/0451] und dieselbe in typischer Weise durchzubilden. Ein weiterer Schritt auf der Bahn dieser zugleich psychologischen und pa- thetischen Entwickelung musste aber dahin führen, die Per- sönlichkeit einer einzelnen, bestimmten Situation unterzuordnen. Dass dies schon jetzt der Fall war, lehrt z. B. die sterbende Iokaste des Silanion, ein Bild, in welchem der pathetische Ausdruck des Todes so sehr die Hauptsache war, dass der Künstler ihn sogar durch die Farbe zu unterstützen suchte; und noch jetzt ist uns in dem sterbenden Alexander der Floren- tiner Gallerie 1) ein Werk erhalten, welches wenigstens in seinem Urbilde als die Frucht eben dieser Geistesrichtung be- trachtet werden muss. Zu ihrer vollen Blüthe entwickelt sich dieselbe jedoch erst in der nächsten Periode. Die eben erwähnten Werke sind vor allem geeignet, uns an die Bemerkung zu erinnern, mit welcher wir den Rückblick auf die vorige Periode beschlossen haben: dass nemlich jetzt die Malerei auf die Sculptur einen sichtbaren Einfluss auszu- üben beginne. Denn offenbar hat der, man möchte sagen, schillernde Charakter des Paris sein Vorbild in dem wetter- wendischen Demos der Athener von Parrhasios, das Pathos der sterbenden Iokaste in der zum Tode verwundeten Mutter von Aristides, welche ihr Kind von der Brust abhält, um es nicht statt der Milch das Blut einer Sterbenden einsaugen zu lassen. Jener Einfluss aber bleibt nicht auf die Wahl und die geistige oder poetische Auffassung des Gegenstandes beschränkt, sondern äussert sich ebenso nachdrücklich in Hinsicht auf die formelle Behandlung. Die Malerei zur Zeit des Zeuxis und Parrhasios tritt zu der älteren des Polygnot vornehmlich da- durch in einen scharfen Gegensatz, dass sie sich dem Streben nach Illusion hingiebt: den sprechendsten Beweis dafür liefert der bekannte Wettstreit der beiden Meister, deren einer durch gemalte Trauben die Vögel, der andere durch einen gemalten Vorhang seinen Nebenbuhler selbst täuscht. Worin aber be- stand nach dem Urtheile der Alten das charakteristische Ver- dienst des Praxiteles und Lysipp? In der veritas, derjenigen Wahrheit, welche uns ein getreues Bild der Natur weniger nach ihren tieferen Gesetzen, als nach ihrer äusseren Erschei- nung giebt. In diesem einen Streben erkennen wir sogar den 1) Müll. u. Oest. D. a. K. I, 39, Fig. 160.

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 438. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/451>, abgerufen am 24.11.2024.