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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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worfen. Dadurch ist aber zugleich die Erklärung für die frü-
her Arria und Paetus genannte Gruppe gegeben: sie stellt ei-
nen Gallier dar, welcher, um der Schmach der Gefangenschaft
zu entgehen, zuerst sein Weib und darauf sich selbst tödtet;
wie ja auch Pausanias (c. 23) berichtet, dass sie in dem Kampfe
bei Delphi diejenigen, welche auf der Flucht wegen ihrer
Wunden und ihrer Schwäche nicht zu folgen vermochten,
selbst niedermachten. Die richtige Deutung ist als Vermuthung
schon von Visconti 1) ausgesprochen, von Raoul-Rochette 2)
aber zuerst ausführlich begründet worden. Nur hätte dieser
Gelehrte noch einen Schritt weiter gehen, und, wenn er Analo-
gien für den Styl der Gruppe suchte, nicht auf den sogenann-
ten borghesischen Fechter verweisen sollen, welcher sich von
ihr in der ganzen Behandlung wesentlich unterscheidet: nur
eine Statue durfte zur Vergleichung herbeigezogen werden,
und diese ist keine andere, als der sterbende Fechter selbst.
Er zeigt nicht nur Analogien des Styls, sondern eine voll-
ständige Uebereinstimmung: er ist nicht nur das Product einer
verwandten Geistesrichtung, sondern desselben Geistes, ja viel-
leicht derselben Hand, wie er aus demselben Material, dem
gleichen, von dem gewöhnlichen sich nicht unwesentlich unter-
scheidenden Marmor, gebildet ist. Es ist überflüssig, dafür
noch weitere Beweise beizubringen, wo ein Jeder durch den
Augenschein sich leicht selbst überzeugen kann. Nur einen
Einwand will ich beseitigen, den man aus der Betrachtung
der Vorderansicht der zusammensinkenden Frau hernehmen
möchte: die hier bemerkbare Verschiedenheit des Styls ist
lediglich auf Rechnung einer modernen ungeschickten Ueber-
arbeitung und Glättung zu setzen, während die Rückseite in
voller Frische die Uebereinstimmung hinlänglich verbürgt. --
Die Erkenntniss aber, dass Statue und Gruppe eng zu einan-
der gehören, ist von hoher Wichtigkeit. Denn es fällt damit
die Hypothese weg, dass die erste nur eine in römischer Zeit
gemachte und etwa zum Schmucke einer Trophäe bestimmte
Copie sei. Sie ist Original, wie die Gruppe: und über diesen
Punkt hätte man nie sollen in Zweifel sein; denn der eigen-
thümliche Zauber, welchen sie mehr als die meisten in Rom
noch erhaltenen Antiken auf den Beschauer ausübt, beruht

1) Op. var. IV, p. 326.
2) Bullet. de Ferussac; 1830, T. XV, p. 365 sqq.

worfen. Dadurch ist aber zugleich die Erklärung für die frü-
her Arria und Paetus genannte Gruppe gegeben: sie stellt ei-
nen Gallier dar, welcher, um der Schmach der Gefangenschaft
zu entgehen, zuerst sein Weib und darauf sich selbst tödtet;
wie ja auch Pausanias (c. 23) berichtet, dass sie in dem Kampfe
bei Delphi diejenigen, welche auf der Flucht wegen ihrer
Wunden und ihrer Schwäche nicht zu folgen vermochten,
selbst niedermachten. Die richtige Deutung ist als Vermuthung
schon von Visconti 1) ausgesprochen, von Raoul-Rochette 2)
aber zuerst ausführlich begründet worden. Nur hätte dieser
Gelehrte noch einen Schritt weiter gehen, und, wenn er Analo-
gien für den Styl der Gruppe suchte, nicht auf den sogenann-
ten borghesischen Fechter verweisen sollen, welcher sich von
ihr in der ganzen Behandlung wesentlich unterscheidet: nur
eine Statue durfte zur Vergleichung herbeigezogen werden,
und diese ist keine andere, als der sterbende Fechter selbst.
Er zeigt nicht nur Analogien des Styls, sondern eine voll-
ständige Uebereinstimmung: er ist nicht nur das Product einer
verwandten Geistesrichtung, sondern desselben Geistes, ja viel-
leicht derselben Hand, wie er aus demselben Material, dem
gleichen, von dem gewöhnlichen sich nicht unwesentlich unter-
scheidenden Marmor, gebildet ist. Es ist überflüssig, dafür
noch weitere Beweise beizubringen, wo ein Jeder durch den
Augenschein sich leicht selbst überzeugen kann. Nur einen
Einwand will ich beseitigen, den man aus der Betrachtung
der Vorderansicht der zusammensinkenden Frau hernehmen
möchte: die hier bemerkbare Verschiedenheit des Styls ist
lediglich auf Rechnung einer modernen ungeschickten Ueber-
arbeitung und Glättung zu setzen, während die Rückseite in
voller Frische die Uebereinstimmung hinlänglich verbürgt. —
Die Erkenntniss aber, dass Statue und Gruppe eng zu einan-
der gehören, ist von hoher Wichtigkeit. Denn es fällt damit
die Hypothese weg, dass die erste nur eine in römischer Zeit
gemachte und etwa zum Schmucke einer Trophäe bestimmte
Copie sei. Sie ist Original, wie die Gruppe: und über diesen
Punkt hätte man nie sollen in Zweifel sein; denn der eigen-
thümliche Zauber, welchen sie mehr als die meisten in Rom
noch erhaltenen Antiken auf den Beschauer ausübt, beruht

1) Op. var. IV, p. 326.
2) Bullet. de Férussac; 1830, T. XV, p. 365 sqq.
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[446/0459] worfen. Dadurch ist aber zugleich die Erklärung für die frü- her Arria und Paetus genannte Gruppe gegeben: sie stellt ei- nen Gallier dar, welcher, um der Schmach der Gefangenschaft zu entgehen, zuerst sein Weib und darauf sich selbst tödtet; wie ja auch Pausanias (c. 23) berichtet, dass sie in dem Kampfe bei Delphi diejenigen, welche auf der Flucht wegen ihrer Wunden und ihrer Schwäche nicht zu folgen vermochten, selbst niedermachten. Die richtige Deutung ist als Vermuthung schon von Visconti 1) ausgesprochen, von Raoul-Rochette 2) aber zuerst ausführlich begründet worden. Nur hätte dieser Gelehrte noch einen Schritt weiter gehen, und, wenn er Analo- gien für den Styl der Gruppe suchte, nicht auf den sogenann- ten borghesischen Fechter verweisen sollen, welcher sich von ihr in der ganzen Behandlung wesentlich unterscheidet: nur eine Statue durfte zur Vergleichung herbeigezogen werden, und diese ist keine andere, als der sterbende Fechter selbst. Er zeigt nicht nur Analogien des Styls, sondern eine voll- ständige Uebereinstimmung: er ist nicht nur das Product einer verwandten Geistesrichtung, sondern desselben Geistes, ja viel- leicht derselben Hand, wie er aus demselben Material, dem gleichen, von dem gewöhnlichen sich nicht unwesentlich unter- scheidenden Marmor, gebildet ist. Es ist überflüssig, dafür noch weitere Beweise beizubringen, wo ein Jeder durch den Augenschein sich leicht selbst überzeugen kann. Nur einen Einwand will ich beseitigen, den man aus der Betrachtung der Vorderansicht der zusammensinkenden Frau hernehmen möchte: die hier bemerkbare Verschiedenheit des Styls ist lediglich auf Rechnung einer modernen ungeschickten Ueber- arbeitung und Glättung zu setzen, während die Rückseite in voller Frische die Uebereinstimmung hinlänglich verbürgt. — Die Erkenntniss aber, dass Statue und Gruppe eng zu einan- der gehören, ist von hoher Wichtigkeit. Denn es fällt damit die Hypothese weg, dass die erste nur eine in römischer Zeit gemachte und etwa zum Schmucke einer Trophäe bestimmte Copie sei. Sie ist Original, wie die Gruppe: und über diesen Punkt hätte man nie sollen in Zweifel sein; denn der eigen- thümliche Zauber, welchen sie mehr als die meisten in Rom noch erhaltenen Antiken auf den Beschauer ausübt, beruht 1) Op. var. IV, p. 326. 2) Bullet. de Férussac; 1830, T. XV, p. 365 sqq.

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 446. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/459>, abgerufen am 25.11.2024.