formellen Behandlung zu verfolgen. Doch würde dazu eine wiederholte Prüfung des Werkes selbst nöthig sein. Winckel- mann, der hierauf noch am meisten eingeht1), lobt Einzelnes sehr, die grosse Freiheit und Fertigkeit des Meissels in Neben- sachen, wie der Cista, die Antiope und die sitzende Neben- figur, deren Kopf er dem Styl nach mit dem der Söhne des Laokoon vergleicht. Ganz damit übereinstimmend lautete das von Winckelmann durchaus unabhängige Urtheil eines mit fei- nem Kunstsinn begabten Freundes, welcher, anfangs durch die vielfachen Restaurationen etwas abgestossen, doch später sei- ne Ansicht dahin aussprach, dass in den erhaltenen Theilen, wie namentlich dem sitzenden Knaben, die Gruppe in Hinsicht auf Durchführung sich mit dem Besten messen könne, was wir in dieser Gattung griechischer Sculptur besitzen. -- Blicken wir jetzt auf Gruppirung und Composition des Ganzen, so ver- räth sich die Analogie mit dem Laokoon schon in der Weise, wie Plinius beide Gruppen erwähnt: das Auffallendste ist ihm beide Male die Meisterschaft, mit welcher viele und schwierige Probleme gelöst und zu einer künstlerischen Einheit verarbei- tet sind. Was wir daher über dieses Lob und das Verdienst, durch welches es hervorgerufen ward, bei Gelegenheit des Laokoon bemerkt haben, erleidet seine Anwendung auch auf den Stier, und zwar in mancher Beziehung bei diesem in noch verstärkter Weise. Denn die Elemente der Composition sind hier noch zahlreicher, die Handlung in ihren verschiedenen Motiven noch complicirter; und während die Künstler des Lao- koon einen Theil der Schwierigkeiten dadurch zu beseitigen vermochten, dass sie ihr Werk nur für die Betrachtung von einer Seite, die Vorderansicht, berechneten, erscheint die Gruppe des Stiers bestimmt von allen Seiten gesehen zu werden, so vielleicht, dass sie ursprünglich auf einem öffentlichen Platze aufgestellt war, wo sie rings umgangen werden konnte. So schön zusammengeschlossen, wie der Laokoon, erscheint sie freilich nicht; und wir dürfen nicht ganz ableugnen, dass die Künstler hin und wieder zu kleinen Kunstgriffen ihre Zuflucht genommen haben, um gewisse Lücken der Composition wenig- stens dem äusseren Auge zu verbergen. Die Anordnung der Basis mit ihren Unebenheiten und ihrem vielfältigen Beiwerk,
1) Werke VI, 1, S. 131.
formellen Behandlung zu verfolgen. Doch würde dazu eine wiederholte Prüfung des Werkes selbst nöthig sein. Winckel- mann, der hierauf noch am meisten eingeht1), lobt Einzelnes sehr, die grosse Freiheit und Fertigkeit des Meissels in Neben- sachen, wie der Cista, die Antiope und die sitzende Neben- figur, deren Kopf er dem Styl nach mit dem der Söhne des Laokoon vergleicht. Ganz damit übereinstimmend lautete das von Winckelmann durchaus unabhängige Urtheil eines mit fei- nem Kunstsinn begabten Freundes, welcher, anfangs durch die vielfachen Restaurationen etwas abgestossen, doch später sei- ne Ansicht dahin aussprach, dass in den erhaltenen Theilen, wie namentlich dem sitzenden Knaben, die Gruppe in Hinsicht auf Durchführung sich mit dem Besten messen könne, was wir in dieser Gattung griechischer Sculptur besitzen. — Blicken wir jetzt auf Gruppirung und Composition des Ganzen, so ver- räth sich die Analogie mit dem Laokoon schon in der Weise, wie Plinius beide Gruppen erwähnt: das Auffallendste ist ihm beide Male die Meisterschaft, mit welcher viele und schwierige Probleme gelöst und zu einer künstlerischen Einheit verarbei- tet sind. Was wir daher über dieses Lob und das Verdienst, durch welches es hervorgerufen ward, bei Gelegenheit des Laokoon bemerkt haben, erleidet seine Anwendung auch auf den Stier, und zwar in mancher Beziehung bei diesem in noch verstärkter Weise. Denn die Elemente der Composition sind hier noch zahlreicher, die Handlung in ihren verschiedenen Motiven noch complicirter; und während die Künstler des Lao- koon einen Theil der Schwierigkeiten dadurch zu beseitigen vermochten, dass sie ihr Werk nur für die Betrachtung von einer Seite, die Vorderansicht, berechneten, erscheint die Gruppe des Stiers bestimmt von allen Seiten gesehen zu werden, so vielleicht, dass sie ursprünglich auf einem öffentlichen Platze aufgestellt war, wo sie rings umgangen werden konnte. So schön zusammengeschlossen, wie der Laokoon, erscheint sie freilich nicht; und wir dürfen nicht ganz ableugnen, dass die Künstler hin und wieder zu kleinen Kunstgriffen ihre Zuflucht genommen haben, um gewisse Lücken der Composition wenig- stens dem äusseren Auge zu verbergen. Die Anordnung der Basis mit ihren Unebenheiten und ihrem vielfältigen Beiwerk,
1) Werke VI, 1, S. 131.
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formellen Behandlung zu verfolgen. Doch würde dazu eine
wiederholte Prüfung des Werkes selbst nöthig sein. Winckel-
mann, der hierauf noch am meisten eingeht 1), lobt Einzelnes
sehr, die grosse Freiheit und Fertigkeit des Meissels in Neben-
sachen, wie der Cista, die Antiope und die sitzende Neben-
figur, deren Kopf er dem Styl nach mit dem der Söhne des
Laokoon vergleicht. Ganz damit übereinstimmend lautete das
von Winckelmann durchaus unabhängige Urtheil eines mit fei-
nem Kunstsinn begabten Freundes, welcher, anfangs durch die
vielfachen Restaurationen etwas abgestossen, doch später sei-
ne Ansicht dahin aussprach, dass in den erhaltenen Theilen,
wie namentlich dem sitzenden Knaben, die Gruppe in Hinsicht
auf Durchführung sich mit dem Besten messen könne, was
wir in dieser Gattung griechischer Sculptur besitzen. — Blicken
wir jetzt auf Gruppirung und Composition des Ganzen, so ver-
räth sich die Analogie mit dem Laokoon schon in der Weise,
wie Plinius beide Gruppen erwähnt: das Auffallendste ist ihm
beide Male die Meisterschaft, mit welcher viele und schwierige
Probleme gelöst und zu einer künstlerischen Einheit verarbei-
tet sind. Was wir daher über dieses Lob und das Verdienst,
durch welches es hervorgerufen ward, bei Gelegenheit des
Laokoon bemerkt haben, erleidet seine Anwendung auch auf
den Stier, und zwar in mancher Beziehung bei diesem in noch
verstärkter Weise. Denn die Elemente der Composition sind
hier noch zahlreicher, die Handlung in ihren verschiedenen
Motiven noch complicirter; und während die Künstler des Lao-
koon einen Theil der Schwierigkeiten dadurch zu beseitigen
vermochten, dass sie ihr Werk nur für die Betrachtung von
einer Seite, die Vorderansicht, berechneten, erscheint die Gruppe
des Stiers bestimmt von allen Seiten gesehen zu werden, so
vielleicht, dass sie ursprünglich auf einem öffentlichen Platze
aufgestellt war, wo sie rings umgangen werden konnte. So
schön zusammengeschlossen, wie der Laokoon, erscheint sie
freilich nicht; und wir dürfen nicht ganz ableugnen, dass die
Künstler hin und wieder zu kleinen Kunstgriffen ihre Zuflucht
genommen haben, um gewisse Lücken der Composition wenig-
stens dem äusseren Auge zu verbergen. Die Anordnung der
Basis mit ihren Unebenheiten und ihrem vielfältigen Beiwerk,
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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 496. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/509>, abgerufen am 24.11.2024.
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