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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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Ganzes macht, das man für eine selbstständige Composition
nehmen möchte."

Ich kann nicht umhin, auch in dem Folgendem fast nichts
als Welckers eigene Worte anzuführen, da ich mich doch in
der ganzen Auffassung diesem meinem Lehrer anschliessen
muss. Die Seele der Erfindung nun in diesem Werke der höch-
sten Virtuosität setzt er in die Wahl des prägnanten Moments,
welcher den nächstfolgenden unmittelbar hervorruft und fast
mit Nothwendigkeit denken lässt. Wir erkennen in der Gruppe
mehr, als was das äussere Auge sieht, nicht bloss die Vorbe-
reitung zur rächenden That, sondern eigentlich schon die That
selbst. "Es ist wie eine Mine, die im Losgehn begriffen ist:
mit grösster Kunst ist die Gruppe wie gewaltsam in den Augen-
blick zusammengefasst, wo sie sich auf die regelloseste, wil-
deste Art entfalten soll. Der Contrast dieser Scenen, furcht-
bare, rascheste, endlose Bewegung als unausbleibliche Folge
eines durch Kraft und Gewandtheit herbeigeführten und glück-
lich benutzten flüchtigen Augenblicks des Stillhaltens geben
dem Bilde Leben und Energie in wunderbarem Maasse. Und
es ist in dieser gewissermassen in die Gruppe eingeschlosse-
nen Darstellung der Entwickelung selbst eine gewisse Ent-
schuldigung für ihre kühne Aufgipfelung gegeben. Denn das
Höchste in einer gewissen Richtung lässt sich oft nicht errei-
chen, ohne zugleich die eine oder die andere sonst beobach-
tete Rücksicht hintanzusetzen" (S. 357). War nun der dar-
gestellte Moment sicherlich der fruchtbarste, welcher für die
Composition gewählt werden konnte, indem er in allen Theilen
den Moment vor der höchsten Anspannung, nirgends ein Nach-
lassen oder einen Abschluss zeigt, so war auch in Hinsicht
auf den geistigen Inhalt eine Steigerung nicht wohl möglich.
Ich erkenne gern mit Welcker den Unterschied zwischen un-
serer Auffassung moralischer Begriffe und "dem Sinne eines
harten, gegen Frevel unbarmherzigen, in der Rache grausa-
men Alterthums, das den Sohn nur pries, dem es an Muth
und Zorn nicht gebrach, die Verletzung der Eltern blutig zu
ahnden" (S. 361). Die Schleifung der Dirke selbst aber in der
Sculptur verewigt zu sehen, würde trotzdem dem Sinne der
Griechen wahrscheinlich noch anstössiger gewesen sein, als
manchem unserer Zeitgenossen. Wir dürfen das Schrecklich-
ste voraussehen, aber nicht wirklich schauen. Ja, in der Tra-

Ganzes macht, das man für eine selbstständige Composition
nehmen möchte.”

Ich kann nicht umhin, auch in dem Folgendem fast nichts
als Welckers eigene Worte anzuführen, da ich mich doch in
der ganzen Auffassung diesem meinem Lehrer anschliessen
muss. Die Seele der Erfindung nun in diesem Werke der höch-
sten Virtuosität setzt er in die Wahl des prägnanten Moments,
welcher den nächstfolgenden unmittelbar hervorruft und fast
mit Nothwendigkeit denken lässt. Wir erkennen in der Gruppe
mehr, als was das äussere Auge sieht, nicht bloss die Vorbe-
reitung zur rächenden That, sondern eigentlich schon die That
selbst. „Es ist wie eine Mine, die im Losgehn begriffen ist:
mit grösster Kunst ist die Gruppe wie gewaltsam in den Augen-
blick zusammengefasst, wo sie sich auf die regelloseste, wil-
deste Art entfalten soll. Der Contrast dieser Scenen, furcht-
bare, rascheste, endlose Bewegung als unausbleibliche Folge
eines durch Kraft und Gewandtheit herbeigeführten und glück-
lich benutzten flüchtigen Augenblicks des Stillhaltens geben
dem Bilde Leben und Energie in wunderbarem Maasse. Und
es ist in dieser gewissermassen in die Gruppe eingeschlosse-
nen Darstellung der Entwickelung selbst eine gewisse Ent-
schuldigung für ihre kühne Aufgipfelung gegeben. Denn das
Höchste in einer gewissen Richtung lässt sich oft nicht errei-
chen, ohne zugleich die eine oder die andere sonst beobach-
tete Rücksicht hintanzusetzen” (S. 357). War nun der dar-
gestellte Moment sicherlich der fruchtbarste, welcher für die
Composition gewählt werden konnte, indem er in allen Theilen
den Moment vor der höchsten Anspannung, nirgends ein Nach-
lassen oder einen Abschluss zeigt, so war auch in Hinsicht
auf den geistigen Inhalt eine Steigerung nicht wohl möglich.
Ich erkenne gern mit Welcker den Unterschied zwischen un-
serer Auffassung moralischer Begriffe und „dem Sinne eines
harten, gegen Frevel unbarmherzigen, in der Rache grausa-
men Alterthums, das den Sohn nur pries, dem es an Muth
und Zorn nicht gebrach, die Verletzung der Eltern blutig zu
ahnden” (S. 361). Die Schleifung der Dirke selbst aber in der
Sculptur verewigt zu sehen, würde trotzdem dem Sinne der
Griechen wahrscheinlich noch anstössiger gewesen sein, als
manchem unserer Zeitgenossen. Wir dürfen das Schrecklich-
ste voraussehen, aber nicht wirklich schauen. Ja, in der Tra-

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[498/0511] Ganzes macht, das man für eine selbstständige Composition nehmen möchte.” Ich kann nicht umhin, auch in dem Folgendem fast nichts als Welckers eigene Worte anzuführen, da ich mich doch in der ganzen Auffassung diesem meinem Lehrer anschliessen muss. Die Seele der Erfindung nun in diesem Werke der höch- sten Virtuosität setzt er in die Wahl des prägnanten Moments, welcher den nächstfolgenden unmittelbar hervorruft und fast mit Nothwendigkeit denken lässt. Wir erkennen in der Gruppe mehr, als was das äussere Auge sieht, nicht bloss die Vorbe- reitung zur rächenden That, sondern eigentlich schon die That selbst. „Es ist wie eine Mine, die im Losgehn begriffen ist: mit grösster Kunst ist die Gruppe wie gewaltsam in den Augen- blick zusammengefasst, wo sie sich auf die regelloseste, wil- deste Art entfalten soll. Der Contrast dieser Scenen, furcht- bare, rascheste, endlose Bewegung als unausbleibliche Folge eines durch Kraft und Gewandtheit herbeigeführten und glück- lich benutzten flüchtigen Augenblicks des Stillhaltens geben dem Bilde Leben und Energie in wunderbarem Maasse. Und es ist in dieser gewissermassen in die Gruppe eingeschlosse- nen Darstellung der Entwickelung selbst eine gewisse Ent- schuldigung für ihre kühne Aufgipfelung gegeben. Denn das Höchste in einer gewissen Richtung lässt sich oft nicht errei- chen, ohne zugleich die eine oder die andere sonst beobach- tete Rücksicht hintanzusetzen” (S. 357). War nun der dar- gestellte Moment sicherlich der fruchtbarste, welcher für die Composition gewählt werden konnte, indem er in allen Theilen den Moment vor der höchsten Anspannung, nirgends ein Nach- lassen oder einen Abschluss zeigt, so war auch in Hinsicht auf den geistigen Inhalt eine Steigerung nicht wohl möglich. Ich erkenne gern mit Welcker den Unterschied zwischen un- serer Auffassung moralischer Begriffe und „dem Sinne eines harten, gegen Frevel unbarmherzigen, in der Rache grausa- men Alterthums, das den Sohn nur pries, dem es an Muth und Zorn nicht gebrach, die Verletzung der Eltern blutig zu ahnden” (S. 361). Die Schleifung der Dirke selbst aber in der Sculptur verewigt zu sehen, würde trotzdem dem Sinne der Griechen wahrscheinlich noch anstössiger gewesen sein, als manchem unserer Zeitgenossen. Wir dürfen das Schrecklich- ste voraussehen, aber nicht wirklich schauen. Ja, in der Tra-

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 498. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/511>, abgerufen am 24.11.2024.