Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brunn, Heinrich: Geschichte der griechischen Künstler. T. 2, Abt. 1. Braunschweig, 1856.

Bild:
<< vorherige Seite

Plinius (35, 79) sagt: er allein habe der Malerei fast
mehr genützt, als alle andern, obwohl zu seiner Zeit
die bedeutendsten Maler gelebt; so werden wir darin
nicht blos ein allgemeines Lob seiner Vortrefflichkeit, son-
dern eine Hinweisung auf die mannigfaltigen Fortschritte er-
kennen dürfen, welche die Ausübung der Kunst dem Apelles
verdankte. 1)

Trotzdem, und namentlich, wenn wir der Beschränkun-
gen gedenken, denen sich die Kunst des Apelles in Hinsicht
auf das poetische Schöpfungsvermögen unterworfen zeigte,
würde uns die einstimmige Bewunderung des Alterthums
doch kaum gerechtfertigt erscheinen, wenn seinen Werken
nicht ausser den bisher betrachteten Vorzügen noch ein be-
sonderer, man möchte sagen, unwiderstehlicher Zauber eigen
gewesen wäre. Diesen bezeichnen die Alten nach dem Vor-
gange des Apelles selbst durch ein einziges Wort: "Wäh-
rend er die Werke seiner vorzüglichsten Zeitgenossen sonst
in jeder Beziehung bewunderte, hielt er doch daran fest,
dass ihnen jene seine Anmuth (Venerem) fehle, welche die
Griechen als Charis bezeichnen, in allem Uebrigen hätten
sie ihn erreicht, hierin allein sei ihm niemand gleich." 2)
Worauf nun diese Anmuth ihrer äusseren Erscheinung nach
beruhe, das lehrt uns wiederum Apelles selbst. Beim An-
blick des Jalysos von Protogenes soll er nemlich über die
mit unsäglicher Sorgfalt durchgeführte Vollendung wahrhaft
betroffen gewesen sein und gern dem Protogenes den Vor-
rang vor sich eingeräumt haben: nur in einem Punkte müsse
er diesen für sich selbst in Anspruch nehmen, darin nemlich,
dass er verstehe, die Hand zur rechten Zeit von der Arbeit
zurückzuziehen; denn eine zu grosse Sorgfalt thue der An-
muth Eintrag. 3) Nicht also die Vollendung an sich, sondern
das Maass der Vollendung wird hiermit als das Höchste in
der Kunst hingestellt. Wenn aber Protogenes zu diesem
Ziele trotz der angestrengtesten Sorgfalt nicht zu gelangen

1) Ich verbinde nämlich: picturae plura solus prope quam ceteri omnes
contulit, cum eadem aetate maxumi pictores essent, indem ich von den da-
zwischen geschobenen Sätzen den ersten: voluminibus etiam editis, quae doc-
trinam eam continent, für einen Zusatz der zweiten Redaction, den zweiten:
praecipua eius in arte venustas fuit, für eine Randglosse zu der folgenden
Bemerkung über die Charis des Apelles halte.
2) Plin. 35, 79.
3) Plin. 35,
80; Plut. Demet. 22; Ael. v. h. XII, 41; vgl. Cic. orat. 22, §. 73.

Plinius (35, 79) sagt: er allein habe der Malerei fast
mehr genützt, als alle andern, obwohl zu seiner Zeit
die bedeutendsten Maler gelebt; so werden wir darin
nicht blos ein allgemeines Lob seiner Vortrefflichkeit, son-
dern eine Hinweisung auf die mannigfaltigen Fortschritte er-
kennen dürfen, welche die Ausübung der Kunst dem Apelles
verdankte. 1)

Trotzdem, und namentlich, wenn wir der Beschränkun-
gen gedenken, denen sich die Kunst des Apelles in Hinsicht
auf das poetische Schöpfungsvermögen unterworfen zeigte,
würde uns die einstimmige Bewunderung des Alterthums
doch kaum gerechtfertigt erscheinen, wenn seinen Werken
nicht ausser den bisher betrachteten Vorzügen noch ein be-
sonderer, man möchte sagen, unwiderstehlicher Zauber eigen
gewesen wäre. Diesen bezeichnen die Alten nach dem Vor-
gange des Apelles selbst durch ein einziges Wort: „Wäh-
rend er die Werke seiner vorzüglichsten Zeitgenossen sonst
in jeder Beziehung bewunderte, hielt er doch daran fest,
dass ihnen jene seine Anmuth (Venerem) fehle, welche die
Griechen als Charis bezeichnen, in allem Uebrigen hätten
sie ihn erreicht, hierin allein sei ihm niemand gleich.“ 2)
Worauf nun diese Anmuth ihrer äusseren Erscheinung nach
beruhe, das lehrt uns wiederum Apelles selbst. Beim An-
blick des Jalysos von Protogenes soll er nemlich über die
mit unsäglicher Sorgfalt durchgeführte Vollendung wahrhaft
betroffen gewesen sein und gern dem Protogenes den Vor-
rang vor sich eingeräumt haben: nur in einem Punkte müsse
er diesen für sich selbst in Anspruch nehmen, darin nemlich,
dass er verstehe, die Hand zur rechten Zeit von der Arbeit
zurückzuziehen; denn eine zu grosse Sorgfalt thue der An-
muth Eintrag. 3) Nicht also die Vollendung an sich, sondern
das Maass der Vollendung wird hiermit als das Höchste in
der Kunst hingestellt. Wenn aber Protogenes zu diesem
Ziele trotz der angestrengtesten Sorgfalt nicht zu gelangen

1) Ich verbinde nämlich: picturae plura solus prope quam ceteri omnes
contulit, cum eadem aetate maxumi pictores essent, indem ich von den da-
zwischen geschobenen Sätzen den ersten: voluminibus etiam editis, quae doc-
trinam eam continent, für einen Zusatz der zweiten Redaction, den zweiten:
praecipua eius in arte venustas fuit, für eine Randglosse zu der folgenden
Bemerkung über die Charis des Apelles halte.
2) Plin. 35, 79.
3) Plin. 35,
80; Plut. Demet. 22; Ael. v. h. XII, 41; vgl. Cic. orat. 22, §. 73.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0239" n="231"/>
Plinius (35, 79) sagt: er allein habe der Malerei fast<lb/>
mehr genützt, als alle andern, obwohl zu seiner Zeit<lb/>
die bedeutendsten Maler gelebt; so werden wir darin<lb/>
nicht blos ein allgemeines Lob seiner Vortrefflichkeit, son-<lb/>
dern eine Hinweisung auf die mannigfaltigen Fortschritte er-<lb/>
kennen dürfen, welche die Ausübung der Kunst dem Apelles<lb/>
verdankte. <note place="foot" n="1)">Ich verbinde nämlich: picturae plura solus prope quam ceteri omnes<lb/>
contulit, cum eadem aetate maxumi pictores essent, indem ich von den da-<lb/>
zwischen geschobenen Sätzen den ersten: voluminibus etiam editis, quae doc-<lb/>
trinam eam continent, für einen Zusatz der zweiten Redaction, den zweiten:<lb/>
praecipua eius in arte venustas fuit, für eine Randglosse zu der folgenden<lb/>
Bemerkung über die Charis des Apelles halte.</note></p><lb/>
              <p>Trotzdem, und namentlich, wenn wir der Beschränkun-<lb/>
gen gedenken, denen sich die Kunst des Apelles in Hinsicht<lb/>
auf das poetische Schöpfungsvermögen unterworfen zeigte,<lb/>
würde uns die einstimmige Bewunderung des Alterthums<lb/>
doch kaum gerechtfertigt erscheinen, wenn seinen Werken<lb/>
nicht ausser den bisher betrachteten Vorzügen noch ein be-<lb/>
sonderer, man möchte sagen, unwiderstehlicher Zauber eigen<lb/>
gewesen wäre. Diesen bezeichnen die Alten nach dem Vor-<lb/>
gange des Apelles selbst durch ein einziges Wort: &#x201E;Wäh-<lb/>
rend er die Werke seiner vorzüglichsten Zeitgenossen sonst<lb/>
in jeder Beziehung bewunderte, hielt er doch daran fest,<lb/>
dass ihnen jene seine Anmuth (Venerem) fehle, welche die<lb/>
Griechen als Charis bezeichnen, in allem Uebrigen hätten<lb/>
sie ihn erreicht, hierin allein sei ihm niemand gleich.&#x201C; <note place="foot" n="2)">Plin. 35, 79.</note><lb/>
Worauf nun diese Anmuth ihrer äusseren Erscheinung nach<lb/>
beruhe, das lehrt uns wiederum Apelles selbst. Beim An-<lb/>
blick des Jalysos von Protogenes soll er nemlich über die<lb/>
mit unsäglicher Sorgfalt durchgeführte Vollendung wahrhaft<lb/>
betroffen gewesen sein und gern dem Protogenes den Vor-<lb/>
rang vor sich eingeräumt haben: nur in einem Punkte müsse<lb/>
er diesen für sich selbst in Anspruch nehmen, darin nemlich,<lb/>
dass er verstehe, die Hand zur rechten Zeit von der Arbeit<lb/>
zurückzuziehen; denn eine zu grosse Sorgfalt thue der An-<lb/>
muth Eintrag. <note place="foot" n="3)">Plin. 35,<lb/>
80; Plut. Demet. 22; Ael. v. h. XII, 41; vgl. Cic. orat. 22, §. 73.</note> Nicht also die Vollendung an sich, sondern<lb/>
das Maass der Vollendung wird hiermit als das Höchste in<lb/>
der Kunst hingestellt. Wenn aber Protogenes zu diesem<lb/>
Ziele trotz der angestrengtesten Sorgfalt nicht zu gelangen<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[231/0239] Plinius (35, 79) sagt: er allein habe der Malerei fast mehr genützt, als alle andern, obwohl zu seiner Zeit die bedeutendsten Maler gelebt; so werden wir darin nicht blos ein allgemeines Lob seiner Vortrefflichkeit, son- dern eine Hinweisung auf die mannigfaltigen Fortschritte er- kennen dürfen, welche die Ausübung der Kunst dem Apelles verdankte. 1) Trotzdem, und namentlich, wenn wir der Beschränkun- gen gedenken, denen sich die Kunst des Apelles in Hinsicht auf das poetische Schöpfungsvermögen unterworfen zeigte, würde uns die einstimmige Bewunderung des Alterthums doch kaum gerechtfertigt erscheinen, wenn seinen Werken nicht ausser den bisher betrachteten Vorzügen noch ein be- sonderer, man möchte sagen, unwiderstehlicher Zauber eigen gewesen wäre. Diesen bezeichnen die Alten nach dem Vor- gange des Apelles selbst durch ein einziges Wort: „Wäh- rend er die Werke seiner vorzüglichsten Zeitgenossen sonst in jeder Beziehung bewunderte, hielt er doch daran fest, dass ihnen jene seine Anmuth (Venerem) fehle, welche die Griechen als Charis bezeichnen, in allem Uebrigen hätten sie ihn erreicht, hierin allein sei ihm niemand gleich.“ 2) Worauf nun diese Anmuth ihrer äusseren Erscheinung nach beruhe, das lehrt uns wiederum Apelles selbst. Beim An- blick des Jalysos von Protogenes soll er nemlich über die mit unsäglicher Sorgfalt durchgeführte Vollendung wahrhaft betroffen gewesen sein und gern dem Protogenes den Vor- rang vor sich eingeräumt haben: nur in einem Punkte müsse er diesen für sich selbst in Anspruch nehmen, darin nemlich, dass er verstehe, die Hand zur rechten Zeit von der Arbeit zurückzuziehen; denn eine zu grosse Sorgfalt thue der An- muth Eintrag. 3) Nicht also die Vollendung an sich, sondern das Maass der Vollendung wird hiermit als das Höchste in der Kunst hingestellt. Wenn aber Protogenes zu diesem Ziele trotz der angestrengtesten Sorgfalt nicht zu gelangen 1) Ich verbinde nämlich: picturae plura solus prope quam ceteri omnes contulit, cum eadem aetate maxumi pictores essent, indem ich von den da- zwischen geschobenen Sätzen den ersten: voluminibus etiam editis, quae doc- trinam eam continent, für einen Zusatz der zweiten Redaction, den zweiten: praecipua eius in arte venustas fuit, für eine Randglosse zu der folgenden Bemerkung über die Charis des Apelles halte. 2) Plin. 35, 79. 3) Plin. 35, 80; Plut. Demet. 22; Ael. v. h. XII, 41; vgl. Cic. orat. 22, §. 73.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen0201_1856
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen0201_1856/239
Zitationshilfe: Brunn, Heinrich: Geschichte der griechischen Künstler. T. 2, Abt. 1. Braunschweig, 1856, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen0201_1856/239>, abgerufen am 21.11.2024.