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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 13. Die Sippe.

Wergeld wird nicht bloss durch Totschlag, sondern auch in
anderen Fällen verwirkt27. Selbst bei Bussen im eigentlichen Sinne
scheint einst eine Haftung der Magen bestanden zu haben. Jüngere
Quellen kennen sie als allgemeine Regel28 oder bei Bussen für
Körperverletzungen. Nicht unwahrscheinlich ist es, dass in ältester
Zeit die Fälle der Magenhaftung sich mit den Unthaten deckten, bei
welchen die Fehde zulässig war.

Selbst im Rechtsgange steht die Sippe ihren Genossen helfend
zur Seite. In Begleitung der Magen erscheinen die Parteien vor
Gericht. Bei der Totschlagsklage erheben nach jüngeren nieder-
fränkischen Quellen vier Magen des Toten, die von den vier Vierteln
der Sippe gekoren sind, als Vertreter der Sippe den Waffenruf, das
rechtsförmliche Klagegeschrei, mit welchem das Verfahren um Totschlag
vor Gericht eingeleitet wird. Wenn an die Prozesspartei die Notwendig-
keit herantritt, für ein von ihr abgelegtes Versprechen Bürgschaft zu
leisten, so sind es ihre Sippegenossen, die es verbürgen. Noch be-
zeichnender ist die Stellung der Sippe zum Eide. Hat eine Prozess-
partei einen Eid zu leisten, so stehen ihr von altersher die Männer
ihrer Sippe als Eideshelfer zur Seite, indem sie die Wahrheit des von
jener abgelegten Eides beschwören. Die enge Gemeinschaft der
Lebensbeziehungen liess bei den Sippegenossen die genaue Kenntnis
der Thatsachen und Verhältnisse voraussetzen, auf welche sich der
Eid der Eideshelfer stützen sollte. Künne (Geschlecht) und Kund-
schaft sind sprachlich nahe verwandt29. Der Fremde, der nicht zur
Künne gehörige Mann ist unkundig; Kunde nur bei der Sippe zu
finden30. Der mit der Eideshilfe der Geschlechtsgenossen geschworene
Eid ist ein solidarischer Eid. Die Strafe der Gottheiten, bei welchen
geschworen wird, soll durch den Meineid nicht bloss auf das Haupt
der Prozesspartei, sondern auch auf die Häupter der schwörenden
Sippegenossen herabgerufen werden31. So lange man felsenfest daran

27 Vgl. unten § 21.
28 So friesische Quellen, ausgenommen den Fall des Diebstahls. v. Amira,
Erbenfolge S 154 f.
29 Grimm, WB V 2635 f. Kuntschaft kommt geradezu in der Bedeutung
gens vor.
30 Eine ahd. Glosse, Steinmeyer II 618, 9, giebt peregrinas mit unchundvn.
Dazu Leges Edwardi Confessoris (Textus Rogeri de Hoveden) c. 21: si quis hospitatur
privatum vel extraneum (quod anglice dicitur cuth other uncuth) ... Künde findet
sich mhd. in der Bedeutung von Künne: Grimm, WB V 2664. Ags. cydde heisst
zugleich Kunde und Verwandtschaft.
31 Vgl. Kohler, Z f. vgl. RW V 375. Im Stadtrecht von Gortyn auf Kreta
II 40 schwören die Partei und die Eideshelfer, indem jeder einzelne den Fluch der
§ 13. Die Sippe.

Wergeld wird nicht bloſs durch Totschlag, sondern auch in
anderen Fällen verwirkt27. Selbst bei Buſsen im eigentlichen Sinne
scheint einst eine Haftung der Magen bestanden zu haben. Jüngere
Quellen kennen sie als allgemeine Regel28 oder bei Buſsen für
Körperverletzungen. Nicht unwahrscheinlich ist es, daſs in ältester
Zeit die Fälle der Magenhaftung sich mit den Unthaten deckten, bei
welchen die Fehde zulässig war.

Selbst im Rechtsgange steht die Sippe ihren Genossen helfend
zur Seite. In Begleitung der Magen erscheinen die Parteien vor
Gericht. Bei der Totschlagsklage erheben nach jüngeren nieder-
fränkischen Quellen vier Magen des Toten, die von den vier Vierteln
der Sippe gekoren sind, als Vertreter der Sippe den Waffenruf, das
rechtsförmliche Klagegeschrei, mit welchem das Verfahren um Totschlag
vor Gericht eingeleitet wird. Wenn an die Prozeſspartei die Notwendig-
keit herantritt, für ein von ihr abgelegtes Versprechen Bürgschaft zu
leisten, so sind es ihre Sippegenossen, die es verbürgen. Noch be-
zeichnender ist die Stellung der Sippe zum Eide. Hat eine Prozeſs-
partei einen Eid zu leisten, so stehen ihr von altersher die Männer
ihrer Sippe als Eideshelfer zur Seite, indem sie die Wahrheit des von
jener abgelegten Eides beschwören. Die enge Gemeinschaft der
Lebensbeziehungen lieſs bei den Sippegenossen die genaue Kenntnis
der Thatsachen und Verhältnisse voraussetzen, auf welche sich der
Eid der Eideshelfer stützen sollte. Künne (Geschlecht) und Kund-
schaft sind sprachlich nahe verwandt29. Der Fremde, der nicht zur
Künne gehörige Mann ist unkundig; Kunde nur bei der Sippe zu
finden30. Der mit der Eideshilfe der Geschlechtsgenossen geschworene
Eid ist ein solidarischer Eid. Die Strafe der Gottheiten, bei welchen
geschworen wird, soll durch den Meineid nicht bloſs auf das Haupt
der Prozeſspartei, sondern auch auf die Häupter der schwörenden
Sippegenossen herabgerufen werden31. So lange man felsenfest daran

27 Vgl. unten § 21.
28 So friesische Quellen, ausgenommen den Fall des Diebstahls. v. Amira,
Erbenfolge S 154 f.
29 Grimm, WB V 2635 f. Kuntschaft kommt geradezu in der Bedeutung
gens vor.
30 Eine ahd. Glosse, Steinmeyer II 618, 9, giebt peregrinas mit unchundvn.
Dazu Leges Edwardi Confessoris (Textus Rogeri de Hoveden) c. 21: si quis hospitatur
privatum vel extraneum (quod anglice dicitur cuth other uncuth) … Künde findet
sich mhd. in der Bedeutung von Künne: Grimm, WB V 2664. Ags. cyđđe heiſst
zugleich Kunde und Verwandtschaft.
31 Vgl. Kohler, Z f. vgl. RW V 375. Im Stadtrecht von Gortyn auf Kreta
II 40 schwören die Partei und die Eideshelfer, indem jeder einzelne den Fluch der
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[88/0106] § 13. Die Sippe. Wergeld wird nicht bloſs durch Totschlag, sondern auch in anderen Fällen verwirkt 27. Selbst bei Buſsen im eigentlichen Sinne scheint einst eine Haftung der Magen bestanden zu haben. Jüngere Quellen kennen sie als allgemeine Regel 28 oder bei Buſsen für Körperverletzungen. Nicht unwahrscheinlich ist es, daſs in ältester Zeit die Fälle der Magenhaftung sich mit den Unthaten deckten, bei welchen die Fehde zulässig war. Selbst im Rechtsgange steht die Sippe ihren Genossen helfend zur Seite. In Begleitung der Magen erscheinen die Parteien vor Gericht. Bei der Totschlagsklage erheben nach jüngeren nieder- fränkischen Quellen vier Magen des Toten, die von den vier Vierteln der Sippe gekoren sind, als Vertreter der Sippe den Waffenruf, das rechtsförmliche Klagegeschrei, mit welchem das Verfahren um Totschlag vor Gericht eingeleitet wird. Wenn an die Prozeſspartei die Notwendig- keit herantritt, für ein von ihr abgelegtes Versprechen Bürgschaft zu leisten, so sind es ihre Sippegenossen, die es verbürgen. Noch be- zeichnender ist die Stellung der Sippe zum Eide. Hat eine Prozeſs- partei einen Eid zu leisten, so stehen ihr von altersher die Männer ihrer Sippe als Eideshelfer zur Seite, indem sie die Wahrheit des von jener abgelegten Eides beschwören. Die enge Gemeinschaft der Lebensbeziehungen lieſs bei den Sippegenossen die genaue Kenntnis der Thatsachen und Verhältnisse voraussetzen, auf welche sich der Eid der Eideshelfer stützen sollte. Künne (Geschlecht) und Kund- schaft sind sprachlich nahe verwandt 29. Der Fremde, der nicht zur Künne gehörige Mann ist unkundig; Kunde nur bei der Sippe zu finden 30. Der mit der Eideshilfe der Geschlechtsgenossen geschworene Eid ist ein solidarischer Eid. Die Strafe der Gottheiten, bei welchen geschworen wird, soll durch den Meineid nicht bloſs auf das Haupt der Prozeſspartei, sondern auch auf die Häupter der schwörenden Sippegenossen herabgerufen werden 31. So lange man felsenfest daran 27 Vgl. unten § 21. 28 So friesische Quellen, ausgenommen den Fall des Diebstahls. v. Amira, Erbenfolge S 154 f. 29 Grimm, WB V 2635 f. Kuntschaft kommt geradezu in der Bedeutung gens vor. 30 Eine ahd. Glosse, Steinmeyer II 618, 9, giebt peregrinas mit unchundvn. Dazu Leges Edwardi Confessoris (Textus Rogeri de Hoveden) c. 21: si quis hospitatur privatum vel extraneum (quod anglice dicitur cuth other uncuth) … Künde findet sich mhd. in der Bedeutung von Künne: Grimm, WB V 2664. Ags. cyđđe heiſst zugleich Kunde und Verwandtschaft. 31 Vgl. Kohler, Z f. vgl. RW V 375. Im Stadtrecht von Gortyn auf Kreta II 40 schwören die Partei und die Eideshelfer, indem jeder einzelne den Fluch der

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/106>, abgerufen am 23.11.2024.