Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite
§ 17. Königtum und Fürstentum.

Die Leitung und Führung der civitas stand ursprünglich allent-
halben bei herrschenden Geschlechtern vornehmster Abkunft, deren
Stammbaum man an die Götter anzuknüpfen pflegte. Hinsichtlich
der reges besteht in dieser Beziehung kein Zweifel. Das Königtum
ist erblich, die Erblichkeit aber eine solche, dass sie die Wahl des
Volkes nicht ausschliesst. Das Volk wählt den König aus dem
herrschenden Geschlechte 17. Die Wahl entscheidet unter den ver-
schiedenen Mitgliedern der königlichen Sippe und dient, da eine
feste Erbfolgeordnung fehlt, als Ersatz derselben. Sie erscheint
formell als ein Urtheil des versammelten Volkes, dass dem Gewählten
die Herrschaft gebühre. War das alte Königsgeschlecht erloschen
oder lag sonst ein Anlass vor, die Wahl zu accentuieren, so wurde der
Gewählte auf den Schild erhoben, um dem Volke gezeigt zu werden 18.
Die Völkerschaft konnte sich auch mehrere Abkömmlinge oder Ver-
wandte des verstorbenen Königs zu Führern setzen, sei es damit
diese gemeinschaftlich regierten oder dass sie sich nach dem Willen des
Volkes räumlich in die Herrschaft teilten. Ein Rechtssatz, dass die
Wahl, welche das vorhandene Königsgeschlecht überspringt, ungiltig sei,
hat nicht bestanden. Doch nur im Drange der Not ging man davon
ab. Nur wenn die königliche Sippe keinen tauglichen Mann enthielt,
wählte man, ohne sich an die Erblichkeit zu binden 19. Bezüglich
der principes lauten die Nachrichten etwas anders. Von ihnen sagt
Tacitus ausdrücklich, dass sie durch die Landesgemeinde gewählt
worden seien 20. Allein die Zeugnisse, die uns über die Herkunft von
principes erhalten sind, lassen sie durchgängig als Mitglieder edler
Geschlechter erscheinen 21. Bei den Cheruskern finden wir an der
Spitze der einzelnen Gaue principes, deren gegenseitige Verwandt-
schaft entweder ausdrücklich bezeugt ist oder aus der Ähnlichkeit der

Namen langobardischer Stämme will v. Sybel, Entstehung des deutschen König-
thums S 214 f. die langobardischen Königsgeschlechter der Gugingen und Lethingen
in Verbindung bringen.
17 Tacitus, Germ. c. 7: reges ex nobilitate sumunt. Siehe die Stellen, welche
Waitz, VG I 320 über die Mitwirkung des Volkes bei der Erhebung der Könige
zusammengestellt hat. Über Schweden v. Amira, Schwed. Obligationenrecht S 18;
Lehmann, Königsfriede S 8; über Norwegen a. O. S 168. 175. Über Wahl
und Erbrecht im Beovulf Scherer, Z f. d. österr. Gymn. 1869 S 95 ff.
18 Grimm, RA S 234. In einem Nachtrage verweist er u. a. noch auf Heliand
(Sievers Vers 2883): that sie ine gihobin te herosten, gicurin ine te cuninge.
19 S. oben S. 107.
20 Germ. c. 12. 22.
21 Erhardt, Staatenbildung S 58 f.
§ 17. Königtum und Fürstentum.

Die Leitung und Führung der civitas stand ursprünglich allent-
halben bei herrschenden Geschlechtern vornehmster Abkunft, deren
Stammbaum man an die Götter anzuknüpfen pflegte. Hinsichtlich
der reges besteht in dieser Beziehung kein Zweifel. Das Königtum
ist erblich, die Erblichkeit aber eine solche, daſs sie die Wahl des
Volkes nicht ausschlieſst. Das Volk wählt den König aus dem
herrschenden Geschlechte 17. Die Wahl entscheidet unter den ver-
schiedenen Mitgliedern der königlichen Sippe und dient, da eine
feste Erbfolgeordnung fehlt, als Ersatz derselben. Sie erscheint
formell als ein Urtheil des versammelten Volkes, daſs dem Gewählten
die Herrschaft gebühre. War das alte Königsgeschlecht erloschen
oder lag sonst ein Anlaſs vor, die Wahl zu accentuieren, so wurde der
Gewählte auf den Schild erhoben, um dem Volke gezeigt zu werden 18.
Die Völkerschaft konnte sich auch mehrere Abkömmlinge oder Ver-
wandte des verstorbenen Königs zu Führern setzen, sei es damit
diese gemeinschaftlich regierten oder daſs sie sich nach dem Willen des
Volkes räumlich in die Herrschaft teilten. Ein Rechtssatz, daſs die
Wahl, welche das vorhandene Königsgeschlecht überspringt, ungiltig sei,
hat nicht bestanden. Doch nur im Drange der Not ging man davon
ab. Nur wenn die königliche Sippe keinen tauglichen Mann enthielt,
wählte man, ohne sich an die Erblichkeit zu binden 19. Bezüglich
der principes lauten die Nachrichten etwas anders. Von ihnen sagt
Tacitus ausdrücklich, daſs sie durch die Landesgemeinde gewählt
worden seien 20. Allein die Zeugnisse, die uns über die Herkunft von
principes erhalten sind, lassen sie durchgängig als Mitglieder edler
Geschlechter erscheinen 21. Bei den Cheruskern finden wir an der
Spitze der einzelnen Gaue principes, deren gegenseitige Verwandt-
schaft entweder ausdrücklich bezeugt ist oder aus der Ähnlichkeit der

Namen langobardischer Stämme will v. Sybel, Entstehung des deutschen König-
thums S 214 f. die langobardischen Königsgeschlechter der Gugingen und Lethingen
in Verbindung bringen.
17 Tacitus, Germ. c. 7: reges ex nobilitate sumunt. Siehe die Stellen, welche
Waitz, VG I 320 über die Mitwirkung des Volkes bei der Erhebung der Könige
zusammengestellt hat. Über Schweden v. Amira, Schwed. Obligationenrecht S 18;
Lehmann, Königsfriede S 8; über Norwegen a. O. S 168. 175. Über Wahl
und Erbrecht im Beóvulf Scherer, Z f. d. österr. Gymn. 1869 S 95 ff.
18 Grimm, RA S 234. In einem Nachtrage verweist er u. a. noch auf Heliand
(Sievers Vers 2883): that sie ine gihôbin te herosten, gicurin ine te cuninge.
19 S. oben S. 107.
20 Germ. c. 12. 22.
21 Erhardt, Staatenbildung S 58 f.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0140" n="122"/>
          <fw place="top" type="header">§ 17. Königtum und Fürstentum.</fw><lb/>
          <p>Die Leitung und Führung der civitas stand ursprünglich allent-<lb/>
halben bei herrschenden Geschlechtern vornehmster Abkunft, deren<lb/>
Stammbaum man an die Götter anzuknüpfen pflegte. Hinsichtlich<lb/>
der reges besteht in dieser Beziehung kein Zweifel. Das Königtum<lb/>
ist erblich, die Erblichkeit aber eine solche, da&#x017F;s sie die Wahl des<lb/>
Volkes nicht ausschlie&#x017F;st. Das Volk wählt den König aus dem<lb/>
herrschenden Geschlechte <note place="foot" n="17">Tacitus, Germ. c. 7: reges ex nobilitate sumunt. Siehe die Stellen, welche<lb/><hi rendition="#g">Waitz</hi>, VG I 320 über die Mitwirkung des Volkes bei der Erhebung der Könige<lb/>
zusammengestellt hat. Über Schweden v. <hi rendition="#g">Amira</hi>, Schwed. Obligationenrecht S 18;<lb/><hi rendition="#g">Lehmann</hi>, Königsfriede S 8; über Norwegen a. O. S 168. 175. Über Wahl<lb/>
und Erbrecht im Beóvulf <hi rendition="#g">Scherer</hi>, Z f. d. österr. Gymn. 1869 S 95 ff.</note>. Die Wahl entscheidet unter den ver-<lb/>
schiedenen Mitgliedern der königlichen Sippe und dient, da eine<lb/>
feste Erbfolgeordnung fehlt, als Ersatz derselben. Sie erscheint<lb/>
formell als ein Urtheil des versammelten Volkes, da&#x017F;s dem Gewählten<lb/>
die Herrschaft gebühre. War das alte Königsgeschlecht erloschen<lb/>
oder lag sonst ein Anla&#x017F;s vor, die Wahl zu accentuieren, so wurde der<lb/>
Gewählte auf den Schild erhoben, um dem Volke gezeigt zu werden <note place="foot" n="18"><hi rendition="#g">Grimm</hi>, RA S 234. In einem Nachtrage verweist er u. a. noch auf Heliand<lb/>
(Sievers Vers 2883): that sie ine gihôbin te herosten, gicurin ine te cuninge.</note>.<lb/>
Die Völkerschaft konnte sich auch mehrere Abkömmlinge oder Ver-<lb/>
wandte des verstorbenen Königs zu Führern setzen, sei es damit<lb/>
diese gemeinschaftlich regierten oder da&#x017F;s sie sich nach dem Willen des<lb/>
Volkes räumlich in die Herrschaft teilten. Ein Rechtssatz, da&#x017F;s die<lb/>
Wahl, welche das vorhandene Königsgeschlecht überspringt, ungiltig sei,<lb/>
hat nicht bestanden. Doch nur im Drange der Not ging man davon<lb/>
ab. Nur wenn die königliche Sippe keinen tauglichen Mann enthielt,<lb/>
wählte man, ohne sich an die Erblichkeit zu binden <note place="foot" n="19">S. oben S. 107.</note>. Bezüglich<lb/>
der principes lauten die Nachrichten etwas anders. Von ihnen sagt<lb/>
Tacitus ausdrücklich, da&#x017F;s sie durch die Landesgemeinde gewählt<lb/>
worden seien <note place="foot" n="20">Germ. c. 12. 22.</note>. Allein die Zeugnisse, die uns über die Herkunft von<lb/>
principes erhalten sind, lassen sie durchgängig als Mitglieder edler<lb/>
Geschlechter erscheinen <note place="foot" n="21"><hi rendition="#g">Erhardt</hi>, Staatenbildung S 58 f.</note>. Bei den Cheruskern finden wir an der<lb/>
Spitze der einzelnen Gaue principes, deren gegenseitige Verwandt-<lb/>
schaft entweder ausdrücklich bezeugt ist oder aus der Ähnlichkeit der<lb/><note xml:id="note-0140" prev="#note-0139" place="foot" n="16">Namen langobardischer Stämme will v. <hi rendition="#g">Sybel</hi>, Entstehung des deutschen König-<lb/>
thums S 214 f. die langobardischen Königsgeschlechter der Gugingen und Lethingen<lb/>
in Verbindung bringen.</note><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[122/0140] § 17. Königtum und Fürstentum. Die Leitung und Führung der civitas stand ursprünglich allent- halben bei herrschenden Geschlechtern vornehmster Abkunft, deren Stammbaum man an die Götter anzuknüpfen pflegte. Hinsichtlich der reges besteht in dieser Beziehung kein Zweifel. Das Königtum ist erblich, die Erblichkeit aber eine solche, daſs sie die Wahl des Volkes nicht ausschlieſst. Das Volk wählt den König aus dem herrschenden Geschlechte 17. Die Wahl entscheidet unter den ver- schiedenen Mitgliedern der königlichen Sippe und dient, da eine feste Erbfolgeordnung fehlt, als Ersatz derselben. Sie erscheint formell als ein Urtheil des versammelten Volkes, daſs dem Gewählten die Herrschaft gebühre. War das alte Königsgeschlecht erloschen oder lag sonst ein Anlaſs vor, die Wahl zu accentuieren, so wurde der Gewählte auf den Schild erhoben, um dem Volke gezeigt zu werden 18. Die Völkerschaft konnte sich auch mehrere Abkömmlinge oder Ver- wandte des verstorbenen Königs zu Führern setzen, sei es damit diese gemeinschaftlich regierten oder daſs sie sich nach dem Willen des Volkes räumlich in die Herrschaft teilten. Ein Rechtssatz, daſs die Wahl, welche das vorhandene Königsgeschlecht überspringt, ungiltig sei, hat nicht bestanden. Doch nur im Drange der Not ging man davon ab. Nur wenn die königliche Sippe keinen tauglichen Mann enthielt, wählte man, ohne sich an die Erblichkeit zu binden 19. Bezüglich der principes lauten die Nachrichten etwas anders. Von ihnen sagt Tacitus ausdrücklich, daſs sie durch die Landesgemeinde gewählt worden seien 20. Allein die Zeugnisse, die uns über die Herkunft von principes erhalten sind, lassen sie durchgängig als Mitglieder edler Geschlechter erscheinen 21. Bei den Cheruskern finden wir an der Spitze der einzelnen Gaue principes, deren gegenseitige Verwandt- schaft entweder ausdrücklich bezeugt ist oder aus der Ähnlichkeit der 16 17 Tacitus, Germ. c. 7: reges ex nobilitate sumunt. Siehe die Stellen, welche Waitz, VG I 320 über die Mitwirkung des Volkes bei der Erhebung der Könige zusammengestellt hat. Über Schweden v. Amira, Schwed. Obligationenrecht S 18; Lehmann, Königsfriede S 8; über Norwegen a. O. S 168. 175. Über Wahl und Erbrecht im Beóvulf Scherer, Z f. d. österr. Gymn. 1869 S 95 ff. 18 Grimm, RA S 234. In einem Nachtrage verweist er u. a. noch auf Heliand (Sievers Vers 2883): that sie ine gihôbin te herosten, gicurin ine te cuninge. 19 S. oben S. 107. 20 Germ. c. 12. 22. 21 Erhardt, Staatenbildung S 58 f. 16 Namen langobardischer Stämme will v. Sybel, Entstehung des deutschen König- thums S 214 f. die langobardischen Königsgeschlechter der Gugingen und Lethingen in Verbindung bringen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/140
Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/140>, abgerufen am 24.11.2024.