Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.§ 20. Die Gerichtsverfassung. wir über den alamannischen Judex, der in der Lex Alamannorum alsUrteiler genannt wird und nicht ein Richter, sondern ein dem bai- rischen Judex verwandter Rechtsprecher gewesen sein dürfte37. Auch das friesische Gerichtswesen kennt neben dem Richter und Im altsächsischen Rechte waren es die vicinantes, pagenses, con- beck I 44, erwähnt. Sie gehören dem in der Lex Baiuw. genannten Adelsge- schlechte der Fagana an. S. das Personenregister bei Graf Hundt, Abhandl. der Münchener Akademie Hist. Kl. XII 1 unter Ragino und Anulo. Von den iudices der Freisinger Urkunden steigen mehrere (z. B. Salucho, Orendil, Kysalhart) später zur Grafenwürde auf. In den Zeugenreihen wird der iudex bald vor, bald nach dem comes, neben anderen Laien regelmässig zuerst genannt. 37 Lex Alam. Hlo. 42. Vgl. 41 mit 36. 38 v. Richthofen, Fries. WB S 609; ders., Untersuchungen zur fries. RG II 457 ff. v. Amira, Göttingische gelehrte Anzeigen vom 22. Aug. 1883 S 1063 ff. Schröder, Z2 f. RG IV 221. 39 Dass die Urteilsfällung formell Sache der Gerichtsgemeinde, ist zu folgern aus der 4. der 17 fries. Küren: quicunque inuadat possessiones alterius sine auctoritate asega et populi licentia (d. h. ohne gerichtliches Urteil), ferner aus Landr. 12 über Heimsuchung sine plebis uerbo et sine sculteti banno; Landr. 20: tunc stat ille in populi coetu (lyoda warve) et bannito placito; Landr. 24: debet uenire in gratiam coram plebe. Als Dingleute, mit welchen das Gerichtszeugnis erbracht wird, er- scheinen in den friesischen Rechtsquellen gelegentlich des Königs orkenen. So heissen die Zeugen, die bei dem Treueide aussagen, welchen sie dem König ge- schworen haben. Vgl. v. Richthofen, WB S 971. 40 Nach v. Richthofen, Untersuchungen II 478. 485 fällt der Asega nicht ein Urteil über den einzelnen Streitfall, sondern belehrt nur die Dingleute durch ein Weistum über das Recht, nach dem sie zu erkennen haben. Dagegen v. Amira a. O., dessen Ausführungen ich mich anschliesse. 41 Cap. Sax. v. J. 797 c. 4, I 71. Über die wargida in der Bedeutung von
Urteil s. unten S 217. Das Gesamturteil bezeugt Heliand 5418: tuo uuarth that cuth obhar all, huo thiu thiod habhda duomos adelid. Da ward das überall kund, wie das Volk das Urteil erteilt. § 20. Die Gerichtsverfassung. wir über den alamannischen Judex, der in der Lex Alamannorum alsUrteiler genannt wird und nicht ein Richter, sondern ein dem bai- rischen Judex verwandter Rechtsprecher gewesen sein dürfte37. Auch das friesische Gerichtswesen kennt neben dem Richter und Im altsächsischen Rechte waren es die vicinantes, pagenses, con- beck I 44, erwähnt. Sie gehören dem in der Lex Baiuw. genannten Adelsge- schlechte der Fagana an. S. das Personenregister bei Graf Hundt, Abhandl. der Münchener Akademie Hist. Kl. XII 1 unter Ragino und Anulo. Von den iudices der Freisinger Urkunden steigen mehrere (z. B. Salucho, Orendil, Kysalhart) später zur Grafenwürde auf. In den Zeugenreihen wird der iudex bald vor, bald nach dem comes, neben anderen Laien regelmäſsig zuerst genannt. 37 Lex Alam. Hlo. 42. Vgl. 41 mit 36. 38 v. Richthofen, Fries. WB S 609; ders., Untersuchungen zur fries. RG II 457 ff. v. Amira, Göttingische gelehrte Anzeigen vom 22. Aug. 1883 S 1063 ff. Schröder, Z2 f. RG IV 221. 39 Daſs die Urteilsfällung formell Sache der Gerichtsgemeinde, ist zu folgern aus der 4. der 17 fries. Küren: quicunque inuadat possessiones alterius sine auctoritate asega et populi licentia (d. h. ohne gerichtliches Urteil), ferner aus Landr. 12 über Heimsuchung sine plebis uerbo et sine sculteti banno; Landr. 20: tunc stat ille in populi coetu (lyoda warve) et bannito placito; Landr. 24: debet uenire in gratiam coram plebe. Als Dingleute, mit welchen das Gerichtszeugnis erbracht wird, er- scheinen in den friesischen Rechtsquellen gelegentlich des Königs orkenen. So heiſsen die Zeugen, die bei dem Treueide aussagen, welchen sie dem König ge- schworen haben. Vgl. v. Richthofen, WB S 971. 40 Nach v. Richthofen, Untersuchungen II 478. 485 fällt der Asega nicht ein Urteil über den einzelnen Streitfall, sondern belehrt nur die Dingleute durch ein Weistum über das Recht, nach dem sie zu erkennen haben. Dagegen v. Amira a. O., dessen Ausführungen ich mich anschlieſse. 41 Cap. Sax. v. J. 797 c. 4, I 71. Über die wargĭda in der Bedeutung von
Urteil s. unten S 217. Das Gesamturteil bezeugt Heliand 5418: tuo uuarth that cuth obhar all, huo thiu thiod habhda duomos adeliđ. Da ward das überall kund, wie das Volk das Urteil erteilt. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0169" n="151"/><fw place="top" type="header">§ 20. Die Gerichtsverfassung.</fw><lb/> wir über den alamannischen Judex, der in der Lex Alamannorum als<lb/> Urteiler genannt wird und nicht ein Richter, sondern ein dem bai-<lb/> rischen Judex verwandter Rechtsprecher gewesen sein dürfte<note place="foot" n="37">Lex Alam. Hlo. 42. Vgl. 41 mit 36.</note>.</p><lb/> <p>Auch das friesische Gerichtswesen kennt neben dem Richter und<lb/> neben der entscheidenden Gerichtsgemeinde einen besonderen Recht-<lb/> sprecher, iudex, asega<note place="foot" n="38">v. <hi rendition="#g">Richthofen</hi>, Fries. WB S 609; <hi rendition="#g">ders.</hi>, Untersuchungen zur fries. RG<lb/> II 457 ff. v. <hi rendition="#g">Amira</hi>, Göttingische gelehrte Anzeigen vom 22. Aug. 1883 S 1063 ff.<lb/><hi rendition="#g">Schröder</hi>, Z<hi rendition="#sup">2</hi> f. RG IV 221.</note>. Er ist nicht wie der bairische iudex bloſs<lb/> erster, sondern er ist einziger Urteilfinder. Er findet das Urteil,<lb/> nachdem er vom Richter dazu gebannt worden ist, nimmt Eide ab<lb/> und hat Anteil an den erkannten Buſsen. Der Urteilsvorschlag des<lb/> Asega bedarf des Vollworts der Gerichtsgemeinde<note place="foot" n="39">Daſs die Urteilsfällung formell Sache der Gerichtsgemeinde, ist zu folgern aus<lb/> der 4. der 17 fries. Küren: quicunque inuadat possessiones alterius sine auctoritate<lb/> asega et populi licentia (d. h. ohne gerichtliches Urteil), ferner aus Landr. 12 über<lb/> Heimsuchung sine plebis uerbo et sine sculteti banno; Landr. 20: tunc stat ille in<lb/> populi coetu (lyoda warve) et bannito placito; Landr. 24: debet uenire in gratiam<lb/> coram plebe. Als Dingleute, mit welchen das Gerichtszeugnis erbracht wird, er-<lb/> scheinen in den friesischen Rechtsquellen gelegentlich des Königs orkenen. So<lb/> heiſsen die Zeugen, die bei dem Treueide aussagen, welchen sie dem König ge-<lb/> schworen haben. Vgl. v. <hi rendition="#g">Richthofen</hi>, WB S 971.</note>. Sein Spruch ist<lb/> nicht als bloſse Rechtsbelehrung, als Weistum, sondern als Vorschlag<lb/> des Urteils über den verhandelten Rechtsfall aufzufassen<note place="foot" n="40">Nach v. <hi rendition="#g">Richthofen</hi>, Untersuchungen II 478. 485 fällt der Asega nicht<lb/> ein Urteil über den einzelnen Streitfall, sondern belehrt nur die Dingleute durch<lb/> ein Weistum über das Recht, nach dem sie zu erkennen haben. Dagegen v. <hi rendition="#g">Amira</hi><lb/> a. O., dessen Ausführungen ich mich anschlieſse.</note>. Der Asega<lb/> wird vom Volke vermutlich aus hervorragendem Geschlechte gewählt.</p><lb/> <p>Im altsächsischen Rechte waren es die vicinantes, pagenses, con-<lb/> vicini, also die Genossen der Gerichtsgemeinde, welche das Urteil<lb/> fällten und dafür eine Gebühr erhielten<note place="foot" n="41">Cap. Sax. v. J. 797 c. 4, I 71. Über die wargĭda in der Bedeutung von<lb/> Urteil s. unten S 217. Das Gesamturteil bezeugt Heliand 5418: tuo uuarth that<lb/> cuth obhar all, huo thiu thiod habhda duomos adeliđ. Da ward das überall kund,<lb/> wie das Volk das Urteil erteilt.</note>. Nur thatsächliche, nicht<lb/> rechtliche, gerichtsverfassungsmäſsige Bedeutung genossen auf den alt-<lb/><note xml:id="note-0169" prev="#note-0168" place="foot" n="36"><hi rendition="#g">beck</hi> I 44, erwähnt. Sie gehören dem in der Lex Baiuw. genannten Adelsge-<lb/> schlechte der Fagana an. S. das Personenregister bei Graf <hi rendition="#g">Hundt</hi>, Abhandl. der<lb/> Münchener Akademie Hist. Kl. XII 1 unter Ragino und Anulo. Von den iudices<lb/> der Freisinger Urkunden steigen mehrere (z. B. Salucho, Orendil, Kysalhart)<lb/> später zur Grafenwürde auf. In den Zeugenreihen wird der iudex bald vor, bald<lb/> nach dem comes, neben anderen Laien regelmäſsig zuerst genannt.</note><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [151/0169]
§ 20. Die Gerichtsverfassung.
wir über den alamannischen Judex, der in der Lex Alamannorum als
Urteiler genannt wird und nicht ein Richter, sondern ein dem bai-
rischen Judex verwandter Rechtsprecher gewesen sein dürfte 37.
Auch das friesische Gerichtswesen kennt neben dem Richter und
neben der entscheidenden Gerichtsgemeinde einen besonderen Recht-
sprecher, iudex, asega 38. Er ist nicht wie der bairische iudex bloſs
erster, sondern er ist einziger Urteilfinder. Er findet das Urteil,
nachdem er vom Richter dazu gebannt worden ist, nimmt Eide ab
und hat Anteil an den erkannten Buſsen. Der Urteilsvorschlag des
Asega bedarf des Vollworts der Gerichtsgemeinde 39. Sein Spruch ist
nicht als bloſse Rechtsbelehrung, als Weistum, sondern als Vorschlag
des Urteils über den verhandelten Rechtsfall aufzufassen 40. Der Asega
wird vom Volke vermutlich aus hervorragendem Geschlechte gewählt.
Im altsächsischen Rechte waren es die vicinantes, pagenses, con-
vicini, also die Genossen der Gerichtsgemeinde, welche das Urteil
fällten und dafür eine Gebühr erhielten 41. Nur thatsächliche, nicht
rechtliche, gerichtsverfassungsmäſsige Bedeutung genossen auf den alt-
36
37 Lex Alam. Hlo. 42. Vgl. 41 mit 36.
38 v. Richthofen, Fries. WB S 609; ders., Untersuchungen zur fries. RG
II 457 ff. v. Amira, Göttingische gelehrte Anzeigen vom 22. Aug. 1883 S 1063 ff.
Schröder, Z2 f. RG IV 221.
39 Daſs die Urteilsfällung formell Sache der Gerichtsgemeinde, ist zu folgern aus
der 4. der 17 fries. Küren: quicunque inuadat possessiones alterius sine auctoritate
asega et populi licentia (d. h. ohne gerichtliches Urteil), ferner aus Landr. 12 über
Heimsuchung sine plebis uerbo et sine sculteti banno; Landr. 20: tunc stat ille in
populi coetu (lyoda warve) et bannito placito; Landr. 24: debet uenire in gratiam
coram plebe. Als Dingleute, mit welchen das Gerichtszeugnis erbracht wird, er-
scheinen in den friesischen Rechtsquellen gelegentlich des Königs orkenen. So
heiſsen die Zeugen, die bei dem Treueide aussagen, welchen sie dem König ge-
schworen haben. Vgl. v. Richthofen, WB S 971.
40 Nach v. Richthofen, Untersuchungen II 478. 485 fällt der Asega nicht
ein Urteil über den einzelnen Streitfall, sondern belehrt nur die Dingleute durch
ein Weistum über das Recht, nach dem sie zu erkennen haben. Dagegen v. Amira
a. O., dessen Ausführungen ich mich anschlieſse.
41 Cap. Sax. v. J. 797 c. 4, I 71. Über die wargĭda in der Bedeutung von
Urteil s. unten S 217. Das Gesamturteil bezeugt Heliand 5418: tuo uuarth that
cuth obhar all, huo thiu thiod habhda duomos adeliđ. Da ward das überall kund,
wie das Volk das Urteil erteilt.
36 beck I 44, erwähnt. Sie gehören dem in der Lex Baiuw. genannten Adelsge-
schlechte der Fagana an. S. das Personenregister bei Graf Hundt, Abhandl. der
Münchener Akademie Hist. Kl. XII 1 unter Ragino und Anulo. Von den iudices
der Freisinger Urkunden steigen mehrere (z. B. Salucho, Orendil, Kysalhart)
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