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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 20. Die Gerichtsverfassung.
findenden Thätigkeit der richterlichen Beamten46 und scheint der
Richter des Hundertschaftsgerichtes in dem Gaugerichte (Shiregemot)
als erster Urteilfinder fungiert zu haben, ohne aber jede Teilnahme
der Gerichtsgemeinde an der Urteilfällung auszuschliessen47.

Den Langobarden ist die germanische Unterscheidung zwischen
Richter und Urteilfinder unbekannt. Das Urteil wird bei ihnen, so-
weit die langobardischen Quellen zurückreichen, von einem Einzel-
richter oder von mehreren vorsitzenden Richtern gefällt, wogegen die
Gerichtsgemeinde, wo sie überhaupt erwähnt wird, auf eine passive
Assistenz beschränkt ist48. Dass aber die Langobarden ursprünglich
ein Gesamturteil der Gerichtsgemeinde gekannt haben müssen, folgt
aus der dem nordischen vapnatak entsprechenden Anwendung des
gairethinx. Unerheblich, weil bereits romanisiert, sind für die Be-
trachtung der altgermanischen Verhältnisse die burgundische und die
westgotische Gerichtsverfassung.

Das ältere nordische Gerichtswesen beruht ursprünglich auf der
unter dem Vorsitz des Richters urteilenden Dingversammlung49. Eigen-
tümlich ist dem Norden -- von Dänemark abgesehen -- das Amt des
Gesetzsprechers, der verpflichtet ist, von Zeit zu Zeit über das gel-
tende Recht öffentliche Vorträge zu halten. Ausserdem ist er an
der Rechtsprechung beteiligt und hat insofern einige Ähnlichkeit mit

kann nicht das Urteil eines Einzelrichters sein. Auch sonst hat die Hundertschaft
Anteil an den Bussen. Knut II 15 § 2; Edgar I § 2.
46 Edgar III 5: Und es sei da (im Shiregemot) der Bischof der Shire und
der Ealdorman und jeder von ihnen weise göttliche und weltliche Rechte.
47 Kemble Nr 755. 898. Dass der Gerefa als Urteilfinder (wie ich vermute
im Shiregemot) fungierte, erklärt die Vorschrift in Edward I pr., worin der König
allen Gerefen gebietet, so gerechte Urteile zu sprechen, als sie irgend können und
wie es in dem Urteilsbuche steht. Die Stellung des Gerefa im Shiregemot wäre
sonach eine ähnliche gewesen, wie die des Schultheissen im Grafengericht des
Sachsenspiegels. Rechtfindende Thätigkeit der Gerichtsbeamten bekundet auch der
etwa 1000 entstandene Aufsatz vom gerechten Richter, den Liebermann, Z2 f.
RG V 207 abgedruckt hat.
48 Ficker, Forsch. zur Reichs- u. Rechtsgesch. Italiens III 178 ff. Beth-
mann-Hollweg,
Civilprozess IV 356 ff. Die astantes, circumstantes werden neben
den iudices nicht selten erwähnt. Regesto di Farfa Nr 22. 25. 34. 45. 46. 135. 154.
197. Aus Nr 45: (dux) deputavit iudices ... hoc est Cl. et A. sculdahis, D. no-
tarium, G. H. sculdahis, Ad. sculdahis et alios astantes, lässt sich entnehmen,
dass die astantes als Bestandteil des Gerichts betrachtet wurden.
49 Bei den Norwegern urteilt bis ins 13. Jahrh. die Gerichtsgemeinde im
heradsthing und im fylkisthing. Für das lögthing wird die lögretta, ein Ausschuss
(nach Analogie der fränk. Rachineburgen) ernannt, neben welchem aber die übrige
Gerichtsgemeinde formell noch am Spruche teilnimmt.

§ 20. Die Gerichtsverfassung.
findenden Thätigkeit der richterlichen Beamten46 und scheint der
Richter des Hundertschaftsgerichtes in dem Gaugerichte (Shiregemot)
als erster Urteilfinder fungiert zu haben, ohne aber jede Teilnahme
der Gerichtsgemeinde an der Urteilfällung auszuschlieſsen47.

Den Langobarden ist die germanische Unterscheidung zwischen
Richter und Urteilfinder unbekannt. Das Urteil wird bei ihnen, so-
weit die langobardischen Quellen zurückreichen, von einem Einzel-
richter oder von mehreren vorsitzenden Richtern gefällt, wogegen die
Gerichtsgemeinde, wo sie überhaupt erwähnt wird, auf eine passive
Assistenz beschränkt ist48. Daſs aber die Langobarden ursprünglich
ein Gesamturteil der Gerichtsgemeinde gekannt haben müssen, folgt
aus der dem nordischen vápnatak entsprechenden Anwendung des
gairethinx. Unerheblich, weil bereits romanisiert, sind für die Be-
trachtung der altgermanischen Verhältnisse die burgundische und die
westgotische Gerichtsverfassung.

Das ältere nordische Gerichtswesen beruht ursprünglich auf der
unter dem Vorsitz des Richters urteilenden Dingversammlung49. Eigen-
tümlich ist dem Norden — von Dänemark abgesehen — das Amt des
Gesetzsprechers, der verpflichtet ist, von Zeit zu Zeit über das gel-
tende Recht öffentliche Vorträge zu halten. Auſserdem ist er an
der Rechtsprechung beteiligt und hat insofern einige Ähnlichkeit mit

kann nicht das Urteil eines Einzelrichters sein. Auch sonst hat die Hundertschaft
Anteil an den Buſsen. Knut II 15 § 2; Edgar I § 2.
46 Edgar III 5: Und es sei da (im Shiregemot) der Bischof der Shire und
der Ealdorman und jeder von ihnen weise göttliche und weltliche Rechte.
47 Kemble Nr 755. 898. Daſs der Gerefa als Urteilfinder (wie ich vermute
im Shiregemot) fungierte, erklärt die Vorschrift in Edward I pr., worin der König
allen Gerefen gebietet, so gerechte Urteile zu sprechen, als sie irgend können und
wie es in dem Urteilsbuche steht. Die Stellung des Gerefa im Shiregemot wäre
sonach eine ähnliche gewesen, wie die des Schultheiſsen im Grafengericht des
Sachsenspiegels. Rechtfindende Thätigkeit der Gerichtsbeamten bekundet auch der
etwa 1000 entstandene Aufsatz vom gerechten Richter, den Liebermann, Z2 f.
RG V 207 abgedruckt hat.
48 Ficker, Forsch. zur Reichs- u. Rechtsgesch. Italiens III 178 ff. Beth-
mann-Hollweg,
Civilprozeſs IV 356 ff. Die astantes, circumstantes werden neben
den iudices nicht selten erwähnt. Regesto di Farfa Nr 22. 25. 34. 45. 46. 135. 154.
197. Aus Nr 45: (dux) deputavit iudices … hoc est Cl. et A. sculdahis, D. no-
tarium, G. H. sculdahis, Ad. sculdahis et alios astantes, läſst sich entnehmen,
daſs die astantes als Bestandteil des Gerichts betrachtet wurden.
49 Bei den Norwegern urteilt bis ins 13. Jahrh. die Gerichtsgemeinde im
herađsþíng und im fylkisþíng. Für das lögþíng wird die lögrètta, ein Ausschuſs
(nach Analogie der fränk. Rachineburgen) ernannt, neben welchem aber die übrige
Gerichtsgemeinde formell noch am Spruche teilnimmt.
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[153/0171] § 20. Die Gerichtsverfassung. findenden Thätigkeit der richterlichen Beamten 46 und scheint der Richter des Hundertschaftsgerichtes in dem Gaugerichte (Shiregemot) als erster Urteilfinder fungiert zu haben, ohne aber jede Teilnahme der Gerichtsgemeinde an der Urteilfällung auszuschlieſsen 47. Den Langobarden ist die germanische Unterscheidung zwischen Richter und Urteilfinder unbekannt. Das Urteil wird bei ihnen, so- weit die langobardischen Quellen zurückreichen, von einem Einzel- richter oder von mehreren vorsitzenden Richtern gefällt, wogegen die Gerichtsgemeinde, wo sie überhaupt erwähnt wird, auf eine passive Assistenz beschränkt ist 48. Daſs aber die Langobarden ursprünglich ein Gesamturteil der Gerichtsgemeinde gekannt haben müssen, folgt aus der dem nordischen vápnatak entsprechenden Anwendung des gairethinx. Unerheblich, weil bereits romanisiert, sind für die Be- trachtung der altgermanischen Verhältnisse die burgundische und die westgotische Gerichtsverfassung. Das ältere nordische Gerichtswesen beruht ursprünglich auf der unter dem Vorsitz des Richters urteilenden Dingversammlung 49. Eigen- tümlich ist dem Norden — von Dänemark abgesehen — das Amt des Gesetzsprechers, der verpflichtet ist, von Zeit zu Zeit über das gel- tende Recht öffentliche Vorträge zu halten. Auſserdem ist er an der Rechtsprechung beteiligt und hat insofern einige Ähnlichkeit mit 45 46 Edgar III 5: Und es sei da (im Shiregemot) der Bischof der Shire und der Ealdorman und jeder von ihnen weise göttliche und weltliche Rechte. 47 Kemble Nr 755. 898. Daſs der Gerefa als Urteilfinder (wie ich vermute im Shiregemot) fungierte, erklärt die Vorschrift in Edward I pr., worin der König allen Gerefen gebietet, so gerechte Urteile zu sprechen, als sie irgend können und wie es in dem Urteilsbuche steht. Die Stellung des Gerefa im Shiregemot wäre sonach eine ähnliche gewesen, wie die des Schultheiſsen im Grafengericht des Sachsenspiegels. Rechtfindende Thätigkeit der Gerichtsbeamten bekundet auch der etwa 1000 entstandene Aufsatz vom gerechten Richter, den Liebermann, Z2 f. RG V 207 abgedruckt hat. 48 Ficker, Forsch. zur Reichs- u. Rechtsgesch. Italiens III 178 ff. Beth- mann-Hollweg, Civilprozeſs IV 356 ff. Die astantes, circumstantes werden neben den iudices nicht selten erwähnt. Regesto di Farfa Nr 22. 25. 34. 45. 46. 135. 154. 197. Aus Nr 45: (dux) deputavit iudices … hoc est Cl. et A. sculdahis, D. no- tarium, G. H. sculdahis, Ad. sculdahis et alios astantes, läſst sich entnehmen, daſs die astantes als Bestandteil des Gerichts betrachtet wurden. 49 Bei den Norwegern urteilt bis ins 13. Jahrh. die Gerichtsgemeinde im herađsþíng und im fylkisþíng. Für das lögþíng wird die lögrètta, ein Ausschuſs (nach Analogie der fränk. Rachineburgen) ernannt, neben welchem aber die übrige Gerichtsgemeinde formell noch am Spruche teilnimmt. 45 kann nicht das Urteil eines Einzelrichters sein. Auch sonst hat die Hundertschaft Anteil an den Buſsen. Knut II 15 § 2; Edgar I § 2.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/171>, abgerufen am 21.11.2024.