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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 36. Volksrecht und Königsrecht.
zugesichert wird, wie ihn die Juden geniessen 24. Die strafrechtliche
Behandlung der Juden hatte in einem Kapitulare Ludwigs I., welches
uns verloren gegangen ist, ihre besondere Regelung erfahren. Es
waren darin die Fälle bestimmt, in welchen die Juden, wenn sie
überführt worden waren, gegeisselt werden durften 25. Das für Streitig-
keiten zwischen Schutzjuden und Christen geltende Zeugenverfahren
wurde durch die Anordnung ergänzt, dass eine amtliche Inquisitio
vorzunehmen sei, wenn die vorgeführten Zeugen das Zeugnis gegen
ihren Volks- und Glaubensgenossen verweigerten 26. Für den gewährten
Schutz waren den königlichen Schutzjuden Leistungen an die königliche
Kammer auferlegt 27.

§ 36. Volksrecht und Königsrecht.

Sohm, Die fränkische Reichs- und Gerichtsverfassung, 1871, S 102 ff. Vgl. Karl
Lehmann, Der Königsfriede der Nordgermanen, 1886.

Ein Rechtssatz entsteht entweder durch seine unmittelbare An-
wendung im Rechtsleben oder durch Satzung. Die unmittelbare An-
wendung von Rechtssätzen, die zuvor als solche nicht ausgesprochen
waren, geschah im fränkischen Reiche durch das Volk und die zur
Rechtsprechung berufenen Organe desselben. Ausserdem konnten aber
neue Rechtssätze auch durch den König und dessen Organe, die
königlichen Beamten, kraft der ihnen zustehenden Amtsgewalt zu un-
mittelbarer Anwendung gebracht werden. In diesem wie in jenem
Falle ergab erst die wiederholte, die gleichmässige Übung, also die
Gewohnheit, dass der angewendete Satz dem allgemeinen Rechts-
bewusstsein entspreche, dass also schon mit der ersten Anwendung
ein wirklicher Rechtssatz entstanden sei.

Neben dem Gewohnheitsrechte fliesst in dieser Periode die Satzung
als Quelle des Rechtes. Die Satzung kommt bei den deutschen
Stämmen anfänglich nur durch die ausdrückliche Erklärung des Volks-
willens zustande, dass etwas Rechtens sein solle, sei es nun dass sie
einen völlig neuen Rechtssatz einführt oder dass sie einem bereits

24 Form. imp. 32: liceat illi ... quieto ordine vivere ... sicut ipsi Judaei;
a. O. 37: liceat eis sicut Judaeis partibus palatii nostri fideliter deservire. Sickel,
Beiträge zur Diplomatik III 80.
25 Form. imp. 31: nemo saepe dictis Hebreis flagellis cedere praesumat, nisi
probati fuerint ... eos capitula, quae a nobis eis observanda promulgata sunt,
violasse atque irrita fecisse, in quibus similiter definitum est, pro quibus culpis
flagellis sint coercendi.
26 Brunner, Zeugen- und Inquisitionsbeweis S 108 ff.
27 Stobbe, Juden S 198 ff.

§ 36. Volksrecht und Königsrecht.
zugesichert wird, wie ihn die Juden genieſsen 24. Die strafrechtliche
Behandlung der Juden hatte in einem Kapitulare Ludwigs I., welches
uns verloren gegangen ist, ihre besondere Regelung erfahren. Es
waren darin die Fälle bestimmt, in welchen die Juden, wenn sie
überführt worden waren, gegeiſselt werden durften 25. Das für Streitig-
keiten zwischen Schutzjuden und Christen geltende Zeugenverfahren
wurde durch die Anordnung ergänzt, daſs eine amtliche Inquisitio
vorzunehmen sei, wenn die vorgeführten Zeugen das Zeugnis gegen
ihren Volks- und Glaubensgenossen verweigerten 26. Für den gewährten
Schutz waren den königlichen Schutzjuden Leistungen an die königliche
Kammer auferlegt 27.

§ 36. Volksrecht und Königsrecht.

Sohm, Die fränkische Reichs- und Gerichtsverfassung, 1871, S 102 ff. Vgl. Karl
Lehmann, Der Königsfriede der Nordgermanen, 1886.

Ein Rechtssatz entsteht entweder durch seine unmittelbare An-
wendung im Rechtsleben oder durch Satzung. Die unmittelbare An-
wendung von Rechtssätzen, die zuvor als solche nicht ausgesprochen
waren, geschah im fränkischen Reiche durch das Volk und die zur
Rechtsprechung berufenen Organe desselben. Auſserdem konnten aber
neue Rechtssätze auch durch den König und dessen Organe, die
königlichen Beamten, kraft der ihnen zustehenden Amtsgewalt zu un-
mittelbarer Anwendung gebracht werden. In diesem wie in jenem
Falle ergab erst die wiederholte, die gleichmäſsige Übung, also die
Gewohnheit, daſs der angewendete Satz dem allgemeinen Rechts-
bewuſstsein entspreche, daſs also schon mit der ersten Anwendung
ein wirklicher Rechtssatz entstanden sei.

Neben dem Gewohnheitsrechte flieſst in dieser Periode die Satzung
als Quelle des Rechtes. Die Satzung kommt bei den deutschen
Stämmen anfänglich nur durch die ausdrückliche Erklärung des Volks-
willens zustande, daſs etwas Rechtens sein solle, sei es nun daſs sie
einen völlig neuen Rechtssatz einführt oder daſs sie einem bereits

24 Form. imp. 32: liceat illi … quieto ordine vivere … sicut ipsi Judaei;
a. O. 37: liceat eis sicut Judaeis partibus palatii nostri fideliter deservire. Sickel,
Beiträge zur Diplomatik III 80.
25 Form. imp. 31: nemo saepe dictis Hebreis flagellis cedere praesumat, nisi
probati fuerint … eos capitula, quae a nobis eis observanda promulgata sunt,
violasse atque irrita fecisse, in quibus similiter definitum est, pro quibus culpis
flagellis sint coercendi.
26 Brunner, Zeugen- und Inquisitionsbeweis S 108 ff.
27 Stobbe, Juden S 198 ff.
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[277/0295] § 36. Volksrecht und Königsrecht. zugesichert wird, wie ihn die Juden genieſsen 24. Die strafrechtliche Behandlung der Juden hatte in einem Kapitulare Ludwigs I., welches uns verloren gegangen ist, ihre besondere Regelung erfahren. Es waren darin die Fälle bestimmt, in welchen die Juden, wenn sie überführt worden waren, gegeiſselt werden durften 25. Das für Streitig- keiten zwischen Schutzjuden und Christen geltende Zeugenverfahren wurde durch die Anordnung ergänzt, daſs eine amtliche Inquisitio vorzunehmen sei, wenn die vorgeführten Zeugen das Zeugnis gegen ihren Volks- und Glaubensgenossen verweigerten 26. Für den gewährten Schutz waren den königlichen Schutzjuden Leistungen an die königliche Kammer auferlegt 27. § 36. Volksrecht und Königsrecht. Sohm, Die fränkische Reichs- und Gerichtsverfassung, 1871, S 102 ff. Vgl. Karl Lehmann, Der Königsfriede der Nordgermanen, 1886. Ein Rechtssatz entsteht entweder durch seine unmittelbare An- wendung im Rechtsleben oder durch Satzung. Die unmittelbare An- wendung von Rechtssätzen, die zuvor als solche nicht ausgesprochen waren, geschah im fränkischen Reiche durch das Volk und die zur Rechtsprechung berufenen Organe desselben. Auſserdem konnten aber neue Rechtssätze auch durch den König und dessen Organe, die königlichen Beamten, kraft der ihnen zustehenden Amtsgewalt zu un- mittelbarer Anwendung gebracht werden. In diesem wie in jenem Falle ergab erst die wiederholte, die gleichmäſsige Übung, also die Gewohnheit, daſs der angewendete Satz dem allgemeinen Rechts- bewuſstsein entspreche, daſs also schon mit der ersten Anwendung ein wirklicher Rechtssatz entstanden sei. Neben dem Gewohnheitsrechte flieſst in dieser Periode die Satzung als Quelle des Rechtes. Die Satzung kommt bei den deutschen Stämmen anfänglich nur durch die ausdrückliche Erklärung des Volks- willens zustande, daſs etwas Rechtens sein solle, sei es nun daſs sie einen völlig neuen Rechtssatz einführt oder daſs sie einem bereits 24 Form. imp. 32: liceat illi … quieto ordine vivere … sicut ipsi Judaei; a. O. 37: liceat eis sicut Judaeis partibus palatii nostri fideliter deservire. Sickel, Beiträge zur Diplomatik III 80. 25 Form. imp. 31: nemo saepe dictis Hebreis flagellis cedere praesumat, nisi probati fuerint … eos capitula, quae a nobis eis observanda promulgata sunt, violasse atque irrita fecisse, in quibus similiter definitum est, pro quibus culpis flagellis sint coercendi. 26 Brunner, Zeugen- und Inquisitionsbeweis S 108 ff. 27 Stobbe, Juden S 198 ff.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/295>, abgerufen am 22.11.2024.