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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 57. Die Urkunden.
über gerichtliche Urteile oder Handlungen abgefasst wurden, sind
nicht vom Gericht, sondern vom Destinatär, also von der obsiegenden
Prozesspartei oder von dem, der durch das gerichtliche Rechtsgeschäft
ein Recht erworben hat, und zwar mit gerichtlicher Erlaubnis aus-
gestellt 30, welche in Form eines Urteils gewährt werden kann. Der
Aussteller darf sich des Gerichtsschreibers bedienen und die firmatio
des Richters und der Urteilfinder verlangen, die ihm nicht verweigert
werden kann.

Seit der Auflösung der fränkischen Monarchie beginnen in
Deutschland die cartae seltener zu werden. In nachfränkischer Zeit
ist die carta zuerst in Baiern, dann auch in Franken und Schwaben
durch die notitia oder durch völlig unbeglaubigte Privatakte fast voll-
ständig verdrängt worden 31, bis seit dem zwölften Jahrhundert das
Urkundensiegel eine Umwälzung im Privaturkundenwesen hervor-
brachte.

Weitaus die Mehrzahl der überlieferten Urkunden betrifft das
Rechtsleben der Kirchen. Im Geschäftsverkehr der Laien hat man --
namentlich in den ostrheinischen Gebieten des Frankenreiches -- weni-
ger Gewicht auf die Beurkundung gelegt als in kirchlichen Kreisen.
Dazu kommt, dass die in Laienhänden befindlichen Urkunden die
Stürme der Zeiten weit seltener überdauerten, als diejenigen, welche
in den kirchlichen Archiven eine schützende Stätte fanden. Nur ein
Teil der uns bekannten Urkunden ist im Original erhalten. Manche
Stücke haben wir in Einzelkopien; aber wohl die Mehrzahl der vor-
handenen Urkundentexte verdanken wir kirchlichen Sammlungen des
Urkundenstoffes. Im Laufe der Zeit schwoll nämlich der Urkunden-
bestand einzelner Kirchen so sehr an, dass es schwierig oder unmög-
lich wurde aus ihm eine Übersicht über die Besitztümer und Rechte
der Kirche zu gewinnen. Man sah sich daher veranlasst, zusammen-
fassende Aufzeichnungen der vorhandenen Rechtstitel anzufertigen.
Unter den Arbeiten dieser Art können wir zwei Hauptgruppen unter-
scheiden, nämlich Chartularien oder Kopialbücher einerseits, Register
oder Polyptycha andererseits. Bei der Anlage der ersteren trug man
Abschriften der Originale oder der Einzelkopien in ein Buch ein, in-

30 Brunner, RG der Urk. I 240 ff. In Bernard, Cluny I 242, Nr 251 v.
J. 925 hat eine von G. ad vicem cancellarii geschriebene Notitia die Dorsualbemer-
kung: Notitia quam domnus Berno abba (der Sieger im Rechtsstreit) de alodo S.
(über das Streitobjekt) fieri iussit.
31 Für die Freisinger Urkunden schildert den Übergang zur Vorherrschaft der
Notitia O. Redlich a. O. S 12 ff. Siehe Ficker, Beiträge I 83; Bresslau
a. O. S 59 ff.

§ 57. Die Urkunden.
über gerichtliche Urteile oder Handlungen abgefaſst wurden, sind
nicht vom Gericht, sondern vom Destinatär, also von der obsiegenden
Prozeſspartei oder von dem, der durch das gerichtliche Rechtsgeschäft
ein Recht erworben hat, und zwar mit gerichtlicher Erlaubnis aus-
gestellt 30, welche in Form eines Urteils gewährt werden kann. Der
Aussteller darf sich des Gerichtsschreibers bedienen und die firmatio
des Richters und der Urteilfinder verlangen, die ihm nicht verweigert
werden kann.

Seit der Auflösung der fränkischen Monarchie beginnen in
Deutschland die cartae seltener zu werden. In nachfränkischer Zeit
ist die carta zuerst in Baiern, dann auch in Franken und Schwaben
durch die notitia oder durch völlig unbeglaubigte Privatakte fast voll-
ständig verdrängt worden 31, bis seit dem zwölften Jahrhundert das
Urkundensiegel eine Umwälzung im Privaturkundenwesen hervor-
brachte.

Weitaus die Mehrzahl der überlieferten Urkunden betrifft das
Rechtsleben der Kirchen. Im Geschäftsverkehr der Laien hat man —
namentlich in den ostrheinischen Gebieten des Frankenreiches — weni-
ger Gewicht auf die Beurkundung gelegt als in kirchlichen Kreisen.
Dazu kommt, daſs die in Laienhänden befindlichen Urkunden die
Stürme der Zeiten weit seltener überdauerten, als diejenigen, welche
in den kirchlichen Archiven eine schützende Stätte fanden. Nur ein
Teil der uns bekannten Urkunden ist im Original erhalten. Manche
Stücke haben wir in Einzelkopien; aber wohl die Mehrzahl der vor-
handenen Urkundentexte verdanken wir kirchlichen Sammlungen des
Urkundenstoffes. Im Laufe der Zeit schwoll nämlich der Urkunden-
bestand einzelner Kirchen so sehr an, daſs es schwierig oder unmög-
lich wurde aus ihm eine Übersicht über die Besitztümer und Rechte
der Kirche zu gewinnen. Man sah sich daher veranlaſst, zusammen-
fassende Aufzeichnungen der vorhandenen Rechtstitel anzufertigen.
Unter den Arbeiten dieser Art können wir zwei Hauptgruppen unter-
scheiden, nämlich Chartularien oder Kopialbücher einerseits, Register
oder Polyptycha andererseits. Bei der Anlage der ersteren trug man
Abschriften der Originale oder der Einzelkopien in ein Buch ein, in-

30 Brunner, RG der Urk. I 240 ff. In Bernard, Cluny I 242, Nr 251 v.
J. 925 hat eine von G. ad vicem cancellarii geschriebene Notitia die Dorsualbemer-
kung: Notitia quam domnus Berno abba (der Sieger im Rechtsstreit) de alodo S.
(über das Streitobjekt) fieri iussit.
31 Für die Freisinger Urkunden schildert den Übergang zur Vorherrschaft der
Notitia O. Redlich a. O. S 12 ff. Siehe Ficker, Beiträge I 83; Breſslau
a. O. S 59 ff.
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[399/0417] § 57. Die Urkunden. über gerichtliche Urteile oder Handlungen abgefaſst wurden, sind nicht vom Gericht, sondern vom Destinatär, also von der obsiegenden Prozeſspartei oder von dem, der durch das gerichtliche Rechtsgeschäft ein Recht erworben hat, und zwar mit gerichtlicher Erlaubnis aus- gestellt 30, welche in Form eines Urteils gewährt werden kann. Der Aussteller darf sich des Gerichtsschreibers bedienen und die firmatio des Richters und der Urteilfinder verlangen, die ihm nicht verweigert werden kann. Seit der Auflösung der fränkischen Monarchie beginnen in Deutschland die cartae seltener zu werden. In nachfränkischer Zeit ist die carta zuerst in Baiern, dann auch in Franken und Schwaben durch die notitia oder durch völlig unbeglaubigte Privatakte fast voll- ständig verdrängt worden 31, bis seit dem zwölften Jahrhundert das Urkundensiegel eine Umwälzung im Privaturkundenwesen hervor- brachte. Weitaus die Mehrzahl der überlieferten Urkunden betrifft das Rechtsleben der Kirchen. Im Geschäftsverkehr der Laien hat man — namentlich in den ostrheinischen Gebieten des Frankenreiches — weni- ger Gewicht auf die Beurkundung gelegt als in kirchlichen Kreisen. Dazu kommt, daſs die in Laienhänden befindlichen Urkunden die Stürme der Zeiten weit seltener überdauerten, als diejenigen, welche in den kirchlichen Archiven eine schützende Stätte fanden. Nur ein Teil der uns bekannten Urkunden ist im Original erhalten. Manche Stücke haben wir in Einzelkopien; aber wohl die Mehrzahl der vor- handenen Urkundentexte verdanken wir kirchlichen Sammlungen des Urkundenstoffes. Im Laufe der Zeit schwoll nämlich der Urkunden- bestand einzelner Kirchen so sehr an, daſs es schwierig oder unmög- lich wurde aus ihm eine Übersicht über die Besitztümer und Rechte der Kirche zu gewinnen. Man sah sich daher veranlaſst, zusammen- fassende Aufzeichnungen der vorhandenen Rechtstitel anzufertigen. Unter den Arbeiten dieser Art können wir zwei Hauptgruppen unter- scheiden, nämlich Chartularien oder Kopialbücher einerseits, Register oder Polyptycha andererseits. Bei der Anlage der ersteren trug man Abschriften der Originale oder der Einzelkopien in ein Buch ein, in- 30 Brunner, RG der Urk. I 240 ff. In Bernard, Cluny I 242, Nr 251 v. J. 925 hat eine von G. ad vicem cancellarii geschriebene Notitia die Dorsualbemer- kung: Notitia quam domnus Berno abba (der Sieger im Rechtsstreit) de alodo S. (über das Streitobjekt) fieri iussit. 31 Für die Freisinger Urkunden schildert den Übergang zur Vorherrschaft der Notitia O. Redlich a. O. S 12 ff. Siehe Ficker, Beiträge I 83; Breſslau a. O. S 59 ff.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 399. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/417>, abgerufen am 21.11.2024.