Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

§ 6. Das deutsche Volk.
gewendet, um die an der Volkssprache festhaltenden Deutschen von
ihren verwälschten Stammesgenossen zu unterscheiden 4.

Trotz der politischen Zersplitterung bestand wenigstens bei den
Westgermanen ein Bewusstsein der Zusammengehörigkeit. Es äussert
sich in einer Sage über die Abstammung und Gliederung des Volkes,
laut welcher die Germanen nach den drei Söhnen des ersten Menschen
Mannus in die Hauptstämme der Ingväonen, Istväonen und Herminonen
zerfallen 5. Wie die vielen Völkerschaftsnamen, die uns bei den Alten
genannt werden, sich unter diese drei Gruppen verteilen, muss als
zweifelhaft dahingestellt bleiben. Die Ostgermanen sind in jener
Stammsage schwerlich inbegriffen. Für ziemlich sicher darf gelten,
dass die Ingväonen den Kern jener Völkerschaften in sich fassen, die
uns später als Sachsen und Friesen entgegentreten, während die Ist-
väonen am Rhein aus Völkerschaften bestanden, die nachmals in den
Stamm der Franken aufgingen, und den Herminonen u. a. die
Schwaben, Baiern und Thüringer zufallen.

Bei den römischen Schriftstellern, welche den Namen der Sueben
in vielfach schwankender Anwendung gebrauchen, begegnet uns eine
Scheidung der Germanen in suebische und nichtsuebische Völker-
schaften, von welchen jene als die älteren, diese als die jüngeren

4 Die älteste Fundstelle ist der Bericht der Annales Laurissenses zum Jahre
788, MG SS I 172, 29 über die Verurteilung Tassilos wegen des Verbrechens, quod
theodisca lingua harisliz dicitur. Der betreffende Teil der Annalen ist jedenfalls
noch bald nach 788 entstanden (Wattenbach, Geschichtsquellen 5 I 184) und der
Bericht vermutlich auf Grundlage eines amtlichen, über die Verurteilung Tassilos
aufgenommenen Aktenstückes abgefasst worden. Vgl. Barchewitz, Königsgericht
zur Zeit der Merowinger u. Karolinger, 1882, S 44 ff. -- Genau in derselben Wen-
dung begegnet uns das Wort in Karls d. Gr. Capit. ital. von 801 Nr 98 c. 3, I 205:
quod nos teudisca lingua dicimus herisliz. -- Als älteste Stelle zitieren Grimm,
Grammatik I 3, 1840, S 13 und Waitz, VG V 8 Anm 2 Conc. Turon. v. J. 813 c. 17,
Mansi 14, 85: transferre studeat in rusticam Romanam linguam aut Theotiscam. --
Zur Bezeichnung der Volksangehörigkeit Muratori, Ant. II 971, Urk. von 843:
vassi domnici tam Teutisci quam et Langobardi. -- Diutisc, alts. thiudisc, bedeutet
ursprünglich gentilis, popularis. Grimm, Grammatik I 3 12 und WB II 1043.
1048. 1144.
5 Tacitus, Germ. c. 2. Als andere Gruppennamen werden daselbst die der
Marser, Gambrivier, Sueben und Vandalen genannt. Plinius, Nat. hist. IV 28
nennt fünf genera Germanorum, nämlich die drei Stämme der Taciteischen Stamm-
sage, die Vandili und als quinta pars die Peucini und Bastarnae. Die Herminones
kennt bereits Pomponius Mela neben Kimbern und Teutonen als ultimi Germaniae.
Die tres fratres Erminus (Irmin), Inguo und Istio legt auch eine um 520 in Gallien
aufgezeichnete Völkerstammtafel zu Grunde. Das H in Herminonen ist nach
Müllenhoff, Z f. DA IX 245 ff. nicht wurzelhaft.

§ 6. Das deutsche Volk.
gewendet, um die an der Volkssprache festhaltenden Deutschen von
ihren verwälschten Stammesgenossen zu unterscheiden 4.

Trotz der politischen Zersplitterung bestand wenigstens bei den
Westgermanen ein Bewuſstsein der Zusammengehörigkeit. Es äuſsert
sich in einer Sage über die Abstammung und Gliederung des Volkes,
laut welcher die Germanen nach den drei Söhnen des ersten Menschen
Mannus in die Hauptstämme der Ingväonen, Istväonen und Herminonen
zerfallen 5. Wie die vielen Völkerschaftsnamen, die uns bei den Alten
genannt werden, sich unter diese drei Gruppen verteilen, muſs als
zweifelhaft dahingestellt bleiben. Die Ostgermanen sind in jener
Stammsage schwerlich inbegriffen. Für ziemlich sicher darf gelten,
daſs die Ingväonen den Kern jener Völkerschaften in sich fassen, die
uns später als Sachsen und Friesen entgegentreten, während die Ist-
väonen am Rhein aus Völkerschaften bestanden, die nachmals in den
Stamm der Franken aufgingen, und den Herminonen u. a. die
Schwaben, Baiern und Thüringer zufallen.

Bei den römischen Schriftstellern, welche den Namen der Sueben
in vielfach schwankender Anwendung gebrauchen, begegnet uns eine
Scheidung der Germanen in suebische und nichtsuebische Völker-
schaften, von welchen jene als die älteren, diese als die jüngeren

4 Die älteste Fundstelle ist der Bericht der Annales Laurissenses zum Jahre
788, MG SS I 172, 29 über die Verurteilung Tassilos wegen des Verbrechens, quod
theodisca lingua harisliz dicitur. Der betreffende Teil der Annalen ist jedenfalls
noch bald nach 788 entstanden (Wattenbach, Geschichtsquellen 5 I 184) und der
Bericht vermutlich auf Grundlage eines amtlichen, über die Verurteilung Tassilos
aufgenommenen Aktenstückes abgefaſst worden. Vgl. Barchewitz, Königsgericht
zur Zeit der Merowinger u. Karolinger, 1882, S 44 ff. — Genau in derselben Wen-
dung begegnet uns das Wort in Karls d. Gr. Capit. ital. von 801 Nr 98 c. 3, I 205:
quod nos teudisca lingua dicimus herisliz. — Als älteste Stelle zitieren Grimm,
Grammatik I 3, 1840, S 13 und Waitz, VG V 8 Anm 2 Conc. Turon. v. J. 813 c. 17,
Mansi 14, 85: transferre studeat in rusticam Romanam linguam aut Theotiscam. —
Zur Bezeichnung der Volksangehörigkeit Muratori, Ant. II 971, Urk. von 843:
vassi domnici tam Teutisci quam et Langobardi. — Diutisc, alts. thiudisc, bedeutet
ursprünglich gentilis, popularis. Grimm, Grammatik I 3 12 und WB II 1043.
1048. 1144.
5 Tacitus, Germ. c. 2. Als andere Gruppennamen werden daselbst die der
Marser, Gambrivier, Sueben und Vandalen genannt. Plinius, Nat. hist. IV 28
nennt fünf genera Germanorum, nämlich die drei Stämme der Taciteischen Stamm-
sage, die Vandili und als quinta pars die Peucini und Bastarnae. Die Herminones
kennt bereits Pomponius Mela neben Kimbern und Teutonen als ultimi Germaniae.
Die tres fratres Erminus (Irmin), Inguo und Istio legt auch eine um 520 in Gallien
aufgezeichnete Völkerstammtafel zu Grunde. Das H in Herminonen ist nach
Müllenhoff, Z f. DA IX 245 ff. nicht wurzelhaft.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0048" n="30"/><fw place="top" type="header">§ 6. Das deutsche Volk.</fw><lb/>
gewendet, um die an der Volkssprache festhaltenden Deutschen von<lb/>
ihren verwälschten Stammesgenossen zu unterscheiden <note place="foot" n="4">Die älteste Fundstelle ist der Bericht der Annales Laurissenses zum Jahre<lb/>
788, MG SS I 172, 29 über die Verurteilung Tassilos wegen des Verbrechens, quod<lb/>
theodisca lingua harisliz dicitur. Der betreffende Teil der Annalen ist jedenfalls<lb/>
noch bald nach 788 entstanden (<hi rendition="#g">Wattenbach</hi>, Geschichtsquellen <hi rendition="#sup">5</hi> I 184) und der<lb/>
Bericht vermutlich auf Grundlage eines amtlichen, über die Verurteilung Tassilos<lb/>
aufgenommenen Aktenstückes abgefa&#x017F;st worden. Vgl. <hi rendition="#g">Barchewitz</hi>, Königsgericht<lb/>
zur Zeit der Merowinger u. Karolinger, 1882, S 44 ff. &#x2014; Genau in derselben Wen-<lb/>
dung begegnet uns das Wort in Karls d. Gr. Capit. ital. von 801 Nr 98 c. 3, I 205:<lb/>
quod nos teudisca lingua dicimus herisliz. &#x2014; Als älteste Stelle zitieren <hi rendition="#g">Grimm</hi>,<lb/>
Grammatik I <hi rendition="#sup">3</hi>, 1840, S 13 und <hi rendition="#g">Waitz</hi>, VG V 8 Anm 2 Conc. Turon. v. J. 813 c. 17,<lb/>
Mansi 14, 85: transferre studeat in rusticam Romanam linguam aut Theotiscam. &#x2014;<lb/>
Zur Bezeichnung der Volksangehörigkeit <hi rendition="#g">Muratori</hi>, Ant. II 971, Urk. von 843:<lb/>
vassi domnici tam Teutisci quam et Langobardi. &#x2014; Diutisc, alts. thiudisc, bedeutet<lb/>
ursprünglich gentilis, popularis. <hi rendition="#g">Grimm</hi>, Grammatik I <hi rendition="#sup">3</hi> 12 und WB II 1043.<lb/>
1048. 1144.</note>.</p><lb/>
          <p>Trotz der politischen Zersplitterung bestand wenigstens bei den<lb/>
Westgermanen ein Bewu&#x017F;stsein der Zusammengehörigkeit. Es äu&#x017F;sert<lb/>
sich in einer Sage über die Abstammung und Gliederung des Volkes,<lb/>
laut welcher die Germanen nach den drei Söhnen des ersten Menschen<lb/>
Mannus in die Hauptstämme der Ingväonen, Istväonen und Herminonen<lb/>
zerfallen <note place="foot" n="5">Tacitus, Germ. c. 2. Als andere Gruppennamen werden daselbst die der<lb/>
Marser, Gambrivier, Sueben und Vandalen genannt. Plinius, Nat. hist. IV 28<lb/>
nennt fünf genera Germanorum, nämlich die drei Stämme der Taciteischen Stamm-<lb/>
sage, die Vandili und als quinta pars die Peucini und Bastarnae. Die Herminones<lb/>
kennt bereits Pomponius Mela neben Kimbern und Teutonen als ultimi Germaniae.<lb/>
Die tres fratres Erminus (Irmin), Inguo und Istio legt auch eine um 520 in Gallien<lb/>
aufgezeichnete Völkerstammtafel zu Grunde. Das H in Herminonen ist nach<lb/><hi rendition="#g">Müllenhoff</hi>, Z f. DA IX 245 ff. nicht wurzelhaft.</note>. Wie die vielen Völkerschaftsnamen, die uns bei den Alten<lb/>
genannt werden, sich unter diese drei Gruppen verteilen, mu&#x017F;s als<lb/>
zweifelhaft dahingestellt bleiben. Die Ostgermanen sind in jener<lb/>
Stammsage schwerlich inbegriffen. Für ziemlich sicher darf gelten,<lb/>
da&#x017F;s die Ingväonen den Kern jener Völkerschaften in sich fassen, die<lb/>
uns später als Sachsen und Friesen entgegentreten, während die Ist-<lb/>
väonen am Rhein aus Völkerschaften bestanden, die nachmals in den<lb/>
Stamm der Franken aufgingen, und den Herminonen u. a. die<lb/>
Schwaben, Baiern und Thüringer zufallen.</p><lb/>
          <p>Bei den römischen Schriftstellern, welche den Namen der Sueben<lb/>
in vielfach schwankender Anwendung gebrauchen, begegnet uns eine<lb/>
Scheidung der Germanen in suebische und nichtsuebische Völker-<lb/>
schaften, von welchen jene als die älteren, diese als die jüngeren<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[30/0048] § 6. Das deutsche Volk. gewendet, um die an der Volkssprache festhaltenden Deutschen von ihren verwälschten Stammesgenossen zu unterscheiden 4. Trotz der politischen Zersplitterung bestand wenigstens bei den Westgermanen ein Bewuſstsein der Zusammengehörigkeit. Es äuſsert sich in einer Sage über die Abstammung und Gliederung des Volkes, laut welcher die Germanen nach den drei Söhnen des ersten Menschen Mannus in die Hauptstämme der Ingväonen, Istväonen und Herminonen zerfallen 5. Wie die vielen Völkerschaftsnamen, die uns bei den Alten genannt werden, sich unter diese drei Gruppen verteilen, muſs als zweifelhaft dahingestellt bleiben. Die Ostgermanen sind in jener Stammsage schwerlich inbegriffen. Für ziemlich sicher darf gelten, daſs die Ingväonen den Kern jener Völkerschaften in sich fassen, die uns später als Sachsen und Friesen entgegentreten, während die Ist- väonen am Rhein aus Völkerschaften bestanden, die nachmals in den Stamm der Franken aufgingen, und den Herminonen u. a. die Schwaben, Baiern und Thüringer zufallen. Bei den römischen Schriftstellern, welche den Namen der Sueben in vielfach schwankender Anwendung gebrauchen, begegnet uns eine Scheidung der Germanen in suebische und nichtsuebische Völker- schaften, von welchen jene als die älteren, diese als die jüngeren 4 Die älteste Fundstelle ist der Bericht der Annales Laurissenses zum Jahre 788, MG SS I 172, 29 über die Verurteilung Tassilos wegen des Verbrechens, quod theodisca lingua harisliz dicitur. Der betreffende Teil der Annalen ist jedenfalls noch bald nach 788 entstanden (Wattenbach, Geschichtsquellen 5 I 184) und der Bericht vermutlich auf Grundlage eines amtlichen, über die Verurteilung Tassilos aufgenommenen Aktenstückes abgefaſst worden. Vgl. Barchewitz, Königsgericht zur Zeit der Merowinger u. Karolinger, 1882, S 44 ff. — Genau in derselben Wen- dung begegnet uns das Wort in Karls d. Gr. Capit. ital. von 801 Nr 98 c. 3, I 205: quod nos teudisca lingua dicimus herisliz. — Als älteste Stelle zitieren Grimm, Grammatik I 3, 1840, S 13 und Waitz, VG V 8 Anm 2 Conc. Turon. v. J. 813 c. 17, Mansi 14, 85: transferre studeat in rusticam Romanam linguam aut Theotiscam. — Zur Bezeichnung der Volksangehörigkeit Muratori, Ant. II 971, Urk. von 843: vassi domnici tam Teutisci quam et Langobardi. — Diutisc, alts. thiudisc, bedeutet ursprünglich gentilis, popularis. Grimm, Grammatik I 3 12 und WB II 1043. 1048. 1144. 5 Tacitus, Germ. c. 2. Als andere Gruppennamen werden daselbst die der Marser, Gambrivier, Sueben und Vandalen genannt. Plinius, Nat. hist. IV 28 nennt fünf genera Germanorum, nämlich die drei Stämme der Taciteischen Stamm- sage, die Vandili und als quinta pars die Peucini und Bastarnae. Die Herminones kennt bereits Pomponius Mela neben Kimbern und Teutonen als ultimi Germaniae. Die tres fratres Erminus (Irmin), Inguo und Istio legt auch eine um 520 in Gallien aufgezeichnete Völkerstammtafel zu Grunde. Das H in Herminonen ist nach Müllenhoff, Z f. DA IX 245 ff. nicht wurzelhaft.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/48
Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/48>, abgerufen am 21.11.2024.