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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 10. Das Wirtschaftsleben der Urzeit.

In der Zeit Cäsars 7 existiert weder ein Privateigentum noch ein
Sonderbesitz an Grund und Boden. Die einzelnen Gaue, pagi, Ab-
teilungen, in welche die Völkerschaft, civitas, zerfällt, dürfen als Eigen-
tümer des Gebietes betrachtet werden, über welches der Gau sich
erstreckt. Die Obrigkeiten und Fürsten weisen den einzelnen Ge-
schlechtsverbänden des Gaues alljährlich Land zur Nutzung zu. Die
Bewirtschaftung muss innerhalb der einzelnen gentes ac cognationes
eine gemeinschaftliche gewesen sein 8. Die Feldmarken wurden jähr-
lich gewechselt und damit war auch ein Wechsel der Wohnungen ver-
bunden 9, indem die Häuser entweder abgebrochen oder etwa mit den
neuen Siedlern getauscht wurden.

Das zur Zeit Cäsars noch fehlende Sondereigentum hat sich in
der Folge an den verschiedenen Bestandteilen der Bodenfläche zu ver-
schiedenen Zeiten ausgebildet, je nachdem sie früher oder später in
permanente Sondernutzung genommen wurden. Dabei sind die Hof-
stätte, das Ackerland und das Wald- und Weideland zu unterscheiden.

An dem umhegten Raum der Hofstätte, welche die Wohn- und
Wirtschaftsgebäude umfasst, besteht zur Zeit des Tacitus bereits ein
Sondereigentum. Der Wechsel der Wohnungen ist verschwunden.
Die herrschende Art des Wohnens bildet, soweit wir die Siedelungen
der Germanen zurückverfolgen können, das Dorfschaftssystem. Man
darf sich vorstellen, dass schon die Rücksicht auf die äussere Sicher-
heit die Siedler in Dörfer zusammendrängte. Daneben findet sich
in einzelnen Strichen Deutschlands die Siedelung in Einzelhöfen oder

7 Caesar, De bello gallico VI 22: Neque quisquam agri modum certum
aut fines habet proprios; sed magistratus ac principes in annos singulos gentibus
cognationibusque hominum, qui tum una coierunt, quantum et quo loco visum est,
agri attribuunt atque anno post alio transire cogunt. Ferner IV 1 von den Sueben:
Sed privati ac separati agri apud eos nihil est neque longius anno remanere uno in
loco incolendi causa licet.
8 Dass innerhalb der gens eine abermalige Verteilung der für ein Jahr zu-
gewiesenen Bodenfläche an ihre einzelnen Mitglieder stattgefunden habe, wird bei
Cäsar nicht gesagt. Auch würde dann der einzelne wenigstens für ein Jahr ein
bestimmtes Mass von Ackerland gehabt haben, was Cäsar schlechtweg verneint.
Das Verfahren der Sueben, bei welchem ein Teil des Volkes in den Krieg zieht,
während der andere zu Hause bleibt, um sich und jene zu ernähren, lässt sich mit
Individualwirtschaft schlecht vereinigen. Hanssen I 90 findet es sehr wahrschein-
lich, dass bei den Germanen die Genossen einer Feldmark die Äcker gemeinschaft-
lich bestellt, geerntet und erst die Ernte unter sich verteilt haben.
9 Denn Cäsars Germanen begründen VI 22 den Wechsel der Feldmarken
u. a. damit, ne accuratius ad frigora atque aestus vitandos aedificent. Das ist be-
schönigende Reflexion. Offenbar war mit dem Wechsel des Ackerlandes auch ein
Wechsel der gentilitischen Weideplätze verbunden.
§ 10. Das Wirtschaftsleben der Urzeit.

In der Zeit Cäsars 7 existiert weder ein Privateigentum noch ein
Sonderbesitz an Grund und Boden. Die einzelnen Gaue, pagi, Ab-
teilungen, in welche die Völkerschaft, civitas, zerfällt, dürfen als Eigen-
tümer des Gebietes betrachtet werden, über welches der Gau sich
erstreckt. Die Obrigkeiten und Fürsten weisen den einzelnen Ge-
schlechtsverbänden des Gaues alljährlich Land zur Nutzung zu. Die
Bewirtschaftung muſs innerhalb der einzelnen gentes ac cognationes
eine gemeinschaftliche gewesen sein 8. Die Feldmarken wurden jähr-
lich gewechselt und damit war auch ein Wechsel der Wohnungen ver-
bunden 9, indem die Häuser entweder abgebrochen oder etwa mit den
neuen Siedlern getauscht wurden.

Das zur Zeit Cäsars noch fehlende Sondereigentum hat sich in
der Folge an den verschiedenen Bestandteilen der Bodenfläche zu ver-
schiedenen Zeiten ausgebildet, je nachdem sie früher oder später in
permanente Sondernutzung genommen wurden. Dabei sind die Hof-
stätte, das Ackerland und das Wald- und Weideland zu unterscheiden.

An dem umhegten Raum der Hofstätte, welche die Wohn- und
Wirtschaftsgebäude umfaſst, besteht zur Zeit des Tacitus bereits ein
Sondereigentum. Der Wechsel der Wohnungen ist verschwunden.
Die herrschende Art des Wohnens bildet, soweit wir die Siedelungen
der Germanen zurückverfolgen können, das Dorfschaftssystem. Man
darf sich vorstellen, daſs schon die Rücksicht auf die äuſsere Sicher-
heit die Siedler in Dörfer zusammendrängte. Daneben findet sich
in einzelnen Strichen Deutschlands die Siedelung in Einzelhöfen oder

7 Caesar, De bello gallico VI 22: Neque quisquam agri modum certum
aut fines habet proprios; sed magistratus ac principes in annos singulos gentibus
cognationibusque hominum, qui tum una coierunt, quantum et quo loco visum est,
agri attribuunt atque anno post alio transire cogunt. Ferner IV 1 von den Sueben:
Sed privati ac separati agri apud eos nihil est neque longius anno remanere uno in
loco incolendi causa licet.
8 Daſs innerhalb der gens eine abermalige Verteilung der für ein Jahr zu-
gewiesenen Bodenfläche an ihre einzelnen Mitglieder stattgefunden habe, wird bei
Cäsar nicht gesagt. Auch würde dann der einzelne wenigstens für ein Jahr ein
bestimmtes Maſs von Ackerland gehabt haben, was Cäsar schlechtweg verneint.
Das Verfahren der Sueben, bei welchem ein Teil des Volkes in den Krieg zieht,
während der andere zu Hause bleibt, um sich und jene zu ernähren, läſst sich mit
Individualwirtschaft schlecht vereinigen. Hanssen I 90 findet es sehr wahrschein-
lich, daſs bei den Germanen die Genossen einer Feldmark die Äcker gemeinschaft-
lich bestellt, geerntet und erst die Ernte unter sich verteilt haben.
9 Denn Cäsars Germanen begründen VI 22 den Wechsel der Feldmarken
u. a. damit, ne accuratius ad frigora atque aestus vitandos aedificent. Das ist be-
schönigende Reflexion. Offenbar war mit dem Wechsel des Ackerlandes auch ein
Wechsel der gentilitischen Weideplätze verbunden.
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[59/0077] § 10. Das Wirtschaftsleben der Urzeit. In der Zeit Cäsars 7 existiert weder ein Privateigentum noch ein Sonderbesitz an Grund und Boden. Die einzelnen Gaue, pagi, Ab- teilungen, in welche die Völkerschaft, civitas, zerfällt, dürfen als Eigen- tümer des Gebietes betrachtet werden, über welches der Gau sich erstreckt. Die Obrigkeiten und Fürsten weisen den einzelnen Ge- schlechtsverbänden des Gaues alljährlich Land zur Nutzung zu. Die Bewirtschaftung muſs innerhalb der einzelnen gentes ac cognationes eine gemeinschaftliche gewesen sein 8. Die Feldmarken wurden jähr- lich gewechselt und damit war auch ein Wechsel der Wohnungen ver- bunden 9, indem die Häuser entweder abgebrochen oder etwa mit den neuen Siedlern getauscht wurden. Das zur Zeit Cäsars noch fehlende Sondereigentum hat sich in der Folge an den verschiedenen Bestandteilen der Bodenfläche zu ver- schiedenen Zeiten ausgebildet, je nachdem sie früher oder später in permanente Sondernutzung genommen wurden. Dabei sind die Hof- stätte, das Ackerland und das Wald- und Weideland zu unterscheiden. An dem umhegten Raum der Hofstätte, welche die Wohn- und Wirtschaftsgebäude umfaſst, besteht zur Zeit des Tacitus bereits ein Sondereigentum. Der Wechsel der Wohnungen ist verschwunden. Die herrschende Art des Wohnens bildet, soweit wir die Siedelungen der Germanen zurückverfolgen können, das Dorfschaftssystem. Man darf sich vorstellen, daſs schon die Rücksicht auf die äuſsere Sicher- heit die Siedler in Dörfer zusammendrängte. Daneben findet sich in einzelnen Strichen Deutschlands die Siedelung in Einzelhöfen oder 7 Caesar, De bello gallico VI 22: Neque quisquam agri modum certum aut fines habet proprios; sed magistratus ac principes in annos singulos gentibus cognationibusque hominum, qui tum una coierunt, quantum et quo loco visum est, agri attribuunt atque anno post alio transire cogunt. Ferner IV 1 von den Sueben: Sed privati ac separati agri apud eos nihil est neque longius anno remanere uno in loco incolendi causa licet. 8 Daſs innerhalb der gens eine abermalige Verteilung der für ein Jahr zu- gewiesenen Bodenfläche an ihre einzelnen Mitglieder stattgefunden habe, wird bei Cäsar nicht gesagt. Auch würde dann der einzelne wenigstens für ein Jahr ein bestimmtes Maſs von Ackerland gehabt haben, was Cäsar schlechtweg verneint. Das Verfahren der Sueben, bei welchem ein Teil des Volkes in den Krieg zieht, während der andere zu Hause bleibt, um sich und jene zu ernähren, läſst sich mit Individualwirtschaft schlecht vereinigen. Hanssen I 90 findet es sehr wahrschein- lich, daſs bei den Germanen die Genossen einer Feldmark die Äcker gemeinschaft- lich bestellt, geerntet und erst die Ernte unter sich verteilt haben. 9 Denn Cäsars Germanen begründen VI 22 den Wechsel der Feldmarken u. a. damit, ne accuratius ad frigora atque aestus vitandos aedificent. Das ist be- schönigende Reflexion. Offenbar war mit dem Wechsel des Ackerlandes auch ein Wechsel der gentilitischen Weideplätze verbunden.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/77>, abgerufen am 21.11.2024.