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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 74. Die königliche Kanzlei.
zoge gleich den alamannischen und bairischen Herzogen Geistliche als
Kanzleibeamte zu verwenden11. Auch war das karolingische König-
tum wenigstens in seinen Anfängen vorzugsweise auf Geistliche an-
gewiesen, wenn es die Vertrauensposten der Kanzlei nicht mit Ro-
manen, sondern mit unverwälschten Deutschen besetzen wollte12. Mit
jener Änderung geht eine andere Hand in Hand, welche der könig-
lichen Kanzlei die Ausstellung der Gerichtsurkunden entzieht und
einer besonderen Gerichtsschreiberei überweist13. Diese steht unter
der Leitung des Pfalzgrafen14 und wird wenigstens teilweise mit Laien
besetzt15.

Die von der Gerichtsschreiberei entlastete Verwaltungskanzlei er-
hielt unter Pippin eine einheitliche Organisation. Während in mero-
wingischer Zeit jeder einzelne Referendar berechtigt war, Königs-
urkunden im eigenen Namen zu rekognoscieren, und auch in Pippins
erster Königszeit mehrere selbständige Rekognoscenten nebeneinander
thätig waren, fungiert seit 760 einer der Kanzleibeamten als Kanzlei-
vorstand, welcher ausschliesslich ermächtigt ist, im eigenen Namen zu
rekognoscieren. Die übrigen haben nur Vertretungsvollmacht und
rekognoscieren ad vicem, an Stelle ihres Vorgesetzten, der im Ver-
hältnis zu ihnen magister heisst.

Der Titel Referendar ist in karolingischer Zeit verschwunden.
Der Kanzleivorstand wird amtlich cancellarius16, unter den ersten

11 Th. Sickel, Acta I 74. Graf Hundt in den Abhandl. der bayr. Akademie
XII 1, S. 34 ff.
12 Bresslau, Urkundenlehre I 276.
13 Th. Sickel, Acta I 359. Ficker, Forschungen I 20. Bresslau, Ur-
kundenlehre I 282.
14 Siehe oben S. 110. Auch diese Einrichtung hat schon in der Hausmeier-
zeit Pippins ihr Vorbild. Die Gerichtsurkunden, Mühlbacher Nr. 56. 57, sind
von Wineramn recognosciert, der in Nr. 57 den Pfalzgrafen vertritt. Nachmals
scheint er in die Verwaltungskanzlei eingetreten zu sein. Mühlbacher Nr. 69.
Den Recognoscenten Eius in Nr. 71. 76. 87 möchte ich mit Rücksicht auf den
Inhalt dieser drei Urkunden für einen pfalzgräflichen Notar halten.
15 Denn der Pfalzgraf brauchte Kanzleibeamte, die der Gerichtssitzung als
Gerichtsschreiber beiwohnen konnten, wenn er nicht jedesmal selbst Verlauf und
Ausgang der Verhandlung einem seiner Notare sollte referieren müssen. Die Ur-
kunde Thevenin Nr. 71 v. J. 834 führt in dem Gerichte, das der Pfalzgraf zu
Aachen abhält, neben ihm und den Urteilfindern auch den notarius Archibaldus
als gegenwärtig an.
16 Der römische cancellarius war der Subalternbeamte, der an den Gittern
(cancelli) des secretum stand, d. h. des Raumes, in welchem der amtierende Magistrat
sich befand, und den Parteien, die das secretum nicht betreten durften, die dar-
gereichten Schriftstücke abnahm, um sie dem Beamten vorzulegen. Mommsen,
8*

§ 74. Die königliche Kanzlei.
zoge gleich den alamannischen und bairischen Herzogen Geistliche als
Kanzleibeamte zu verwenden11. Auch war das karolingische König-
tum wenigstens in seinen Anfängen vorzugsweise auf Geistliche an-
gewiesen, wenn es die Vertrauensposten der Kanzlei nicht mit Ro-
manen, sondern mit unverwälschten Deutschen besetzen wollte12. Mit
jener Änderung geht eine andere Hand in Hand, welche der könig-
lichen Kanzlei die Ausstellung der Gerichtsurkunden entzieht und
einer besonderen Gerichtsschreiberei überweist13. Diese steht unter
der Leitung des Pfalzgrafen14 und wird wenigstens teilweise mit Laien
besetzt15.

Die von der Gerichtsschreiberei entlastete Verwaltungskanzlei er-
hielt unter Pippin eine einheitliche Organisation. Während in mero-
wingischer Zeit jeder einzelne Referendar berechtigt war, Königs-
urkunden im eigenen Namen zu rekognoscieren, und auch in Pippins
erster Königszeit mehrere selbständige Rekognoscenten nebeneinander
thätig waren, fungiert seit 760 einer der Kanzleibeamten als Kanzlei-
vorstand, welcher ausschlieſslich ermächtigt ist, im eigenen Namen zu
rekognoscieren. Die übrigen haben nur Vertretungsvollmacht und
rekognoscieren ad vicem, an Stelle ihres Vorgesetzten, der im Ver-
hältnis zu ihnen magister heiſst.

Der Titel Referendar ist in karolingischer Zeit verschwunden.
Der Kanzleivorstand wird amtlich cancellarius16, unter den ersten

11 Th. Sickel, Acta I 74. Graf Hundt in den Abhandl. der bayr. Akademie
XII 1, S. 34 ff.
12 Breſslau, Urkundenlehre I 276.
13 Th. Sickel, Acta I 359. Ficker, Forschungen I 20. Breſslau, Ur-
kundenlehre I 282.
14 Siehe oben S. 110. Auch diese Einrichtung hat schon in der Hausmeier-
zeit Pippins ihr Vorbild. Die Gerichtsurkunden, Mühlbacher Nr. 56. 57, sind
von Wineramn recognosciert, der in Nr. 57 den Pfalzgrafen vertritt. Nachmals
scheint er in die Verwaltungskanzlei eingetreten zu sein. Mühlbacher Nr. 69.
Den Recognoscenten Eius in Nr. 71. 76. 87 möchte ich mit Rücksicht auf den
Inhalt dieser drei Urkunden für einen pfalzgräflichen Notar halten.
15 Denn der Pfalzgraf brauchte Kanzleibeamte, die der Gerichtssitzung als
Gerichtsschreiber beiwohnen konnten, wenn er nicht jedesmal selbst Verlauf und
Ausgang der Verhandlung einem seiner Notare sollte referieren müssen. Die Ur-
kunde Thévenin Nr. 71 v. J. 834 führt in dem Gerichte, das der Pfalzgraf zu
Aachen abhält, neben ihm und den Urteilfindern auch den notarius Archibaldus
als gegenwärtig an.
16 Der römische cancellarius war der Subalternbeamte, der an den Gittern
(cancelli) des secretum stand, d. h. des Raumes, in welchem der amtierende Magistrat
sich befand, und den Parteien, die das secretum nicht betreten durften, die dar-
gereichten Schriftstücke abnahm, um sie dem Beamten vorzulegen. Mommsen,
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[115/0133] § 74. Die königliche Kanzlei. zoge gleich den alamannischen und bairischen Herzogen Geistliche als Kanzleibeamte zu verwenden 11. Auch war das karolingische König- tum wenigstens in seinen Anfängen vorzugsweise auf Geistliche an- gewiesen, wenn es die Vertrauensposten der Kanzlei nicht mit Ro- manen, sondern mit unverwälschten Deutschen besetzen wollte 12. Mit jener Änderung geht eine andere Hand in Hand, welche der könig- lichen Kanzlei die Ausstellung der Gerichtsurkunden entzieht und einer besonderen Gerichtsschreiberei überweist 13. Diese steht unter der Leitung des Pfalzgrafen 14 und wird wenigstens teilweise mit Laien besetzt 15. Die von der Gerichtsschreiberei entlastete Verwaltungskanzlei er- hielt unter Pippin eine einheitliche Organisation. Während in mero- wingischer Zeit jeder einzelne Referendar berechtigt war, Königs- urkunden im eigenen Namen zu rekognoscieren, und auch in Pippins erster Königszeit mehrere selbständige Rekognoscenten nebeneinander thätig waren, fungiert seit 760 einer der Kanzleibeamten als Kanzlei- vorstand, welcher ausschlieſslich ermächtigt ist, im eigenen Namen zu rekognoscieren. Die übrigen haben nur Vertretungsvollmacht und rekognoscieren ad vicem, an Stelle ihres Vorgesetzten, der im Ver- hältnis zu ihnen magister heiſst. Der Titel Referendar ist in karolingischer Zeit verschwunden. Der Kanzleivorstand wird amtlich cancellarius 16, unter den ersten 11 Th. Sickel, Acta I 74. Graf Hundt in den Abhandl. der bayr. Akademie XII 1, S. 34 ff. 12 Breſslau, Urkundenlehre I 276. 13 Th. Sickel, Acta I 359. Ficker, Forschungen I 20. Breſslau, Ur- kundenlehre I 282. 14 Siehe oben S. 110. Auch diese Einrichtung hat schon in der Hausmeier- zeit Pippins ihr Vorbild. Die Gerichtsurkunden, Mühlbacher Nr. 56. 57, sind von Wineramn recognosciert, der in Nr. 57 den Pfalzgrafen vertritt. Nachmals scheint er in die Verwaltungskanzlei eingetreten zu sein. Mühlbacher Nr. 69. Den Recognoscenten Eius in Nr. 71. 76. 87 möchte ich mit Rücksicht auf den Inhalt dieser drei Urkunden für einen pfalzgräflichen Notar halten. 15 Denn der Pfalzgraf brauchte Kanzleibeamte, die der Gerichtssitzung als Gerichtsschreiber beiwohnen konnten, wenn er nicht jedesmal selbst Verlauf und Ausgang der Verhandlung einem seiner Notare sollte referieren müssen. Die Ur- kunde Thévenin Nr. 71 v. J. 834 führt in dem Gerichte, das der Pfalzgraf zu Aachen abhält, neben ihm und den Urteilfindern auch den notarius Archibaldus als gegenwärtig an. 16 Der römische cancellarius war der Subalternbeamte, der an den Gittern (cancelli) des secretum stand, d. h. des Raumes, in welchem der amtierende Magistrat sich befand, und den Parteien, die das secretum nicht betreten durften, die dar- gereichten Schriftstücke abnahm, um sie dem Beamten vorzulegen. Mommsen, 8*

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/133>, abgerufen am 21.11.2024.