Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

Bild:
<< vorherige Seite

§ 78. Die Verwaltungsbezirke.
erklären 31 und wird in karolingischer Zeit als gleichbedeutend mit
centena und vicaria gebraucht 32. In Burgund bezeichnen ager und
finis, in der Auvergne, Rovergue und in Septimanien bedeutet das
Wort aicis 33 einen Unterbezirk des Gaues.

Nichts ist unwahrscheinlicher, als dass die fränkische Staatsgewalt
in ganz Gallien sofort nach der Eroberung die fränkische Hundert-
schaftsverfassung eingeführt habe. Im Südwesten des Landes ist sie
auch später nicht heimisch geworden. Das Friedensgesetz Chlothars I.
und Childeberts I. von 511--558 lässt ersehen, dass damals den ro-
manischen Gebieten beider Könige die Hundertschaftsverfassung fremd
war 34. Denn das Gesetz ordnet die Errichtung von Centenen 35 und
die Wahl von Centenaren 36 als Vorstehern dieser Verbände an, wel-
chen die Verfolgung von Dieben und die Haftung für Diebstähle auf-
erlegt wird 37. Ob die Polizei- und Haftungsbezirke, die das Gesetz
ebenso wie den persönlichen Verband der Haftenden als Centenen

31 Vom Stamme knto, kymr. cant, breton. kant. Vgl. candetum, cantredus,
condis bei Du Cange (Henschel) II 89. 114. 520.
32 Sohm a. O. S. 192.
33 Longnon S. 28 f. Waitz, VG II 1, S. 402, Anm. 1. Sohm a. O.
S. 211. Schröder, Z2 f. RG IV 86 ff.
34 Über die vielbestrittene Auslegung von Pactus Childeb. I. et Chloth. I.
c. 8, c. 16 siehe Waitz, VG I 493 ff.; II 1, S. 399. 405. Sohm S. 183 ff.
Geppert, Beiträge zur Lehre von der Gerichtsverfassung der Lex Sal. 1878,
S. 17 f. H. Brunner, Z2 f. RG XI 65.
35 Pactus c. 8: ut .. centenas fierent. Die centena ist dabei nicht als ört-
licher Bezirk gemeint. Die Vorschrift enthält aber eine Neuerung, mag man das
Wort wie Sohm als die trustis, die Centschar, oder als die für den Polizeidienst
geschaffene Hundertschaftsgemeinde auffassen. Denn hätte der Hundertschafts-
verband schon existiert, so wäre es nicht nötig gewesen, die Bildung von trustes
anzuordnen. Die trustis besteht aus der aufgebotsfähigen Mannschaft der Centene;
jeder, der dem Aufgebot nicht folgt, verwirkt 5 Solidi; die trustis wird selbst cen-
tena genannt (c. 9 vgl. mit c. 16). Sie war also mit der Centene bereits gegeben.
Die Behauptung Sohms, dass die Centschar nur aus zehn Mann bestanden hätte,
die aus den Centgemeindeleuten ausgehoben wurden, schwebt in der Luft.
36 Unter den electi centenarii die Mitglieder der trustis zu verstehen, geht
schlechterdings nicht an. Centenarius wird niemals in diesem Sinne genommen.
Auch würde dann c. 16 dasselbe sagen wie c. 8.
37 Die Verfolgung von Verbrechern war nach germanischen Rechten von je
allgemeine Pflicht. Um die Ausführung dieser Pflicht sicherzustellen, wird be-
stimmt, dass die Centene, in deren Gebiet der Diebstal verübt worden, beziehungs-
weise diejenige, in welche der Dieb sich nachweislich geflüchtet hat, für den Dieb-
stal dem Beschädigten Ersatz leisten müsse, sich aber, wenn sie den Dieb fängt,
an diesem schadlos halten und ausserdem die Hälfte der Diebstalsbusse beanspruchen
könne. Über verwandte Haftungsverhältnisse in schwedischen Rechten siehe Wilda,
Strafrecht S. 217. Über die englische Friedensbürgschaft Waitz, VG I 458 ff.
10*

§ 78. Die Verwaltungsbezirke.
erklären 31 und wird in karolingischer Zeit als gleichbedeutend mit
centena und vicaria gebraucht 32. In Burgund bezeichnen ager und
finis, in der Auvergne, Rovergue und in Septimanien bedeutet das
Wort aicis 33 einen Unterbezirk des Gaues.

Nichts ist unwahrscheinlicher, als daſs die fränkische Staatsgewalt
in ganz Gallien sofort nach der Eroberung die fränkische Hundert-
schaftsverfassung eingeführt habe. Im Südwesten des Landes ist sie
auch später nicht heimisch geworden. Das Friedensgesetz Chlothars I.
und Childeberts I. von 511—558 läſst ersehen, daſs damals den ro-
manischen Gebieten beider Könige die Hundertschaftsverfassung fremd
war 34. Denn das Gesetz ordnet die Errichtung von Centenen 35 und
die Wahl von Centenaren 36 als Vorstehern dieser Verbände an, wel-
chen die Verfolgung von Dieben und die Haftung für Diebstähle auf-
erlegt wird 37. Ob die Polizei- und Haftungsbezirke, die das Gesetz
ebenso wie den persönlichen Verband der Haftenden als Centenen

31 Vom Stamme kntó, kymr. cant, breton. kant. Vgl. candetum, cantredus,
condis bei Du Cange (Henschel) II 89. 114. 520.
32 Sohm a. O. S. 192.
33 Longnon S. 28 f. Waitz, VG II 1, S. 402, Anm. 1. Sohm a. O.
S. 211. Schröder, Z2 f. RG IV 86 ff.
34 Über die vielbestrittene Auslegung von Pactus Childeb. I. et Chloth. I.
c. 8, c. 16 siehe Waitz, VG I 493 ff.; II 1, S. 399. 405. Sohm S. 183 ff.
Geppert, Beiträge zur Lehre von der Gerichtsverfassung der Lex Sal. 1878,
S. 17 f. H. Brunner, Z2 f. RG XI 65.
35 Pactus c. 8: ut .. centenas fierent. Die centena ist dabei nicht als ört-
licher Bezirk gemeint. Die Vorschrift enthält aber eine Neuerung, mag man das
Wort wie Sohm als die trustis, die Centschar, oder als die für den Polizeidienst
geschaffene Hundertschaftsgemeinde auffassen. Denn hätte der Hundertschafts-
verband schon existiert, so wäre es nicht nötig gewesen, die Bildung von trustes
anzuordnen. Die trustis besteht aus der aufgebotsfähigen Mannschaft der Centene;
jeder, der dem Aufgebot nicht folgt, verwirkt 5 Solidi; die trustis wird selbst cen-
tena genannt (c. 9 vgl. mit c. 16). Sie war also mit der Centene bereits gegeben.
Die Behauptung Sohms, daſs die Centschar nur aus zehn Mann bestanden hätte,
die aus den Centgemeindeleuten ausgehoben wurden, schwebt in der Luft.
36 Unter den electi centenarii die Mitglieder der trustis zu verstehen, geht
schlechterdings nicht an. Centenarius wird niemals in diesem Sinne genommen.
Auch würde dann c. 16 dasselbe sagen wie c. 8.
37 Die Verfolgung von Verbrechern war nach germanischen Rechten von je
allgemeine Pflicht. Um die Ausführung dieser Pflicht sicherzustellen, wird be-
stimmt, daſs die Centene, in deren Gebiet der Diebstal verübt worden, beziehungs-
weise diejenige, in welche der Dieb sich nachweislich geflüchtet hat, für den Dieb-
stal dem Beschädigten Ersatz leisten müsse, sich aber, wenn sie den Dieb fängt,
an diesem schadlos halten und auſserdem die Hälfte der Diebstalsbuſse beanspruchen
könne. Über verwandte Haftungsverhältnisse in schwedischen Rechten siehe Wilda,
Strafrecht S. 217. Über die englische Friedensbürgschaft Waitz, VG I 458 ff.
10*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0165" n="147"/><fw place="top" type="header">§ 78. Die Verwaltungsbezirke.</fw><lb/>
erklären <note place="foot" n="31">Vom Stamme kntó, kymr. cant, breton. kant. Vgl. candetum, cantredus,<lb/>
condis bei Du Cange (Henschel) II 89. 114. 520.</note> und wird in karolingischer Zeit als gleichbedeutend mit<lb/>
centena und vicaria gebraucht <note place="foot" n="32"><hi rendition="#g">Sohm</hi> a. O. S. 192.</note>. In Burgund bezeichnen ager und<lb/>
finis, in der Auvergne, Rovergue und in Septimanien bedeutet das<lb/>
Wort aicis <note place="foot" n="33"><hi rendition="#g">Longnon</hi> S. 28 f. <hi rendition="#g">Waitz</hi>, VG II 1, S. 402, Anm. 1. <hi rendition="#g">Sohm</hi> a. O.<lb/>
S. 211. <hi rendition="#g">Schröder</hi>, Z<hi rendition="#sup">2</hi> f. RG IV 86 ff.</note> einen Unterbezirk des Gaues.</p><lb/>
            <p>Nichts ist unwahrscheinlicher, als da&#x017F;s die fränkische Staatsgewalt<lb/>
in ganz Gallien sofort nach der Eroberung die fränkische Hundert-<lb/>
schaftsverfassung eingeführt habe. Im Südwesten des Landes ist sie<lb/>
auch später nicht heimisch geworden. Das Friedensgesetz Chlothars I.<lb/>
und Childeberts I. von 511&#x2014;558 lä&#x017F;st ersehen, da&#x017F;s damals den ro-<lb/>
manischen Gebieten beider Könige die Hundertschaftsverfassung fremd<lb/>
war <note place="foot" n="34">Über die vielbestrittene Auslegung von Pactus Childeb. I. et Chloth. I.<lb/>
c. 8, c. 16 siehe <hi rendition="#g">Waitz</hi>, VG I 493 ff.; II 1, S. 399. 405. <hi rendition="#g">Sohm</hi> S. 183 ff.<lb/><hi rendition="#g">Geppert</hi>, Beiträge zur Lehre von der Gerichtsverfassung der Lex Sal. 1878,<lb/>
S. 17 f. H. <hi rendition="#g">Brunner</hi>, Z<hi rendition="#sup">2</hi> f. RG XI 65.</note>. Denn das Gesetz ordnet die Errichtung von Centenen <note place="foot" n="35">Pactus c. 8: ut .. centenas fierent. Die centena ist dabei nicht als ört-<lb/>
licher Bezirk gemeint. Die Vorschrift enthält aber eine Neuerung, mag man das<lb/>
Wort wie Sohm als die trustis, die Centschar, oder als die für den Polizeidienst<lb/>
geschaffene Hundertschaftsgemeinde auffassen. Denn hätte der Hundertschafts-<lb/>
verband schon existiert, so wäre es nicht nötig gewesen, die Bildung von trustes<lb/>
anzuordnen. Die trustis besteht aus der aufgebotsfähigen Mannschaft der Centene;<lb/>
jeder, der dem Aufgebot nicht folgt, verwirkt 5 Solidi; die trustis wird selbst cen-<lb/>
tena genannt (c. 9 vgl. mit c. 16). Sie war also mit der Centene bereits gegeben.<lb/>
Die Behauptung Sohms, da&#x017F;s die Centschar nur aus zehn Mann bestanden hätte,<lb/>
die aus den Centgemeindeleuten ausgehoben wurden, schwebt in der Luft.</note> und<lb/>
die Wahl von Centenaren <note place="foot" n="36">Unter den electi centenarii die Mitglieder der trustis zu verstehen, geht<lb/>
schlechterdings nicht an. Centenarius wird niemals in diesem Sinne genommen.<lb/>
Auch würde dann c. 16 dasselbe sagen wie c. 8.</note> als Vorstehern dieser Verbände an, wel-<lb/>
chen die Verfolgung von Dieben und die Haftung für Diebstähle auf-<lb/>
erlegt wird <note place="foot" n="37">Die Verfolgung von Verbrechern war nach germanischen Rechten von je<lb/>
allgemeine Pflicht. Um die Ausführung dieser Pflicht sicherzustellen, wird be-<lb/>
stimmt, da&#x017F;s die Centene, in deren Gebiet der Diebstal verübt worden, beziehungs-<lb/>
weise diejenige, in welche der Dieb sich nachweislich geflüchtet hat, für den Dieb-<lb/>
stal dem Beschädigten Ersatz leisten müsse, sich aber, wenn sie den Dieb fängt,<lb/>
an diesem schadlos halten und au&#x017F;serdem die Hälfte der Diebstalsbu&#x017F;se beanspruchen<lb/>
könne. Über verwandte Haftungsverhältnisse in schwedischen Rechten siehe <hi rendition="#g">Wilda</hi>,<lb/>
Strafrecht S. 217. Über die englische Friedensbürgschaft <hi rendition="#g">Waitz</hi>, VG I 458 ff.</note>. Ob die Polizei- und Haftungsbezirke, die das Gesetz<lb/>
ebenso wie den persönlichen Verband der Haftenden als Centenen<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">10*</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[147/0165] § 78. Die Verwaltungsbezirke. erklären 31 und wird in karolingischer Zeit als gleichbedeutend mit centena und vicaria gebraucht 32. In Burgund bezeichnen ager und finis, in der Auvergne, Rovergue und in Septimanien bedeutet das Wort aicis 33 einen Unterbezirk des Gaues. Nichts ist unwahrscheinlicher, als daſs die fränkische Staatsgewalt in ganz Gallien sofort nach der Eroberung die fränkische Hundert- schaftsverfassung eingeführt habe. Im Südwesten des Landes ist sie auch später nicht heimisch geworden. Das Friedensgesetz Chlothars I. und Childeberts I. von 511—558 läſst ersehen, daſs damals den ro- manischen Gebieten beider Könige die Hundertschaftsverfassung fremd war 34. Denn das Gesetz ordnet die Errichtung von Centenen 35 und die Wahl von Centenaren 36 als Vorstehern dieser Verbände an, wel- chen die Verfolgung von Dieben und die Haftung für Diebstähle auf- erlegt wird 37. Ob die Polizei- und Haftungsbezirke, die das Gesetz ebenso wie den persönlichen Verband der Haftenden als Centenen 31 Vom Stamme kntó, kymr. cant, breton. kant. Vgl. candetum, cantredus, condis bei Du Cange (Henschel) II 89. 114. 520. 32 Sohm a. O. S. 192. 33 Longnon S. 28 f. Waitz, VG II 1, S. 402, Anm. 1. Sohm a. O. S. 211. Schröder, Z2 f. RG IV 86 ff. 34 Über die vielbestrittene Auslegung von Pactus Childeb. I. et Chloth. I. c. 8, c. 16 siehe Waitz, VG I 493 ff.; II 1, S. 399. 405. Sohm S. 183 ff. Geppert, Beiträge zur Lehre von der Gerichtsverfassung der Lex Sal. 1878, S. 17 f. H. Brunner, Z2 f. RG XI 65. 35 Pactus c. 8: ut .. centenas fierent. Die centena ist dabei nicht als ört- licher Bezirk gemeint. Die Vorschrift enthält aber eine Neuerung, mag man das Wort wie Sohm als die trustis, die Centschar, oder als die für den Polizeidienst geschaffene Hundertschaftsgemeinde auffassen. Denn hätte der Hundertschafts- verband schon existiert, so wäre es nicht nötig gewesen, die Bildung von trustes anzuordnen. Die trustis besteht aus der aufgebotsfähigen Mannschaft der Centene; jeder, der dem Aufgebot nicht folgt, verwirkt 5 Solidi; die trustis wird selbst cen- tena genannt (c. 9 vgl. mit c. 16). Sie war also mit der Centene bereits gegeben. Die Behauptung Sohms, daſs die Centschar nur aus zehn Mann bestanden hätte, die aus den Centgemeindeleuten ausgehoben wurden, schwebt in der Luft. 36 Unter den electi centenarii die Mitglieder der trustis zu verstehen, geht schlechterdings nicht an. Centenarius wird niemals in diesem Sinne genommen. Auch würde dann c. 16 dasselbe sagen wie c. 8. 37 Die Verfolgung von Verbrechern war nach germanischen Rechten von je allgemeine Pflicht. Um die Ausführung dieser Pflicht sicherzustellen, wird be- stimmt, daſs die Centene, in deren Gebiet der Diebstal verübt worden, beziehungs- weise diejenige, in welche der Dieb sich nachweislich geflüchtet hat, für den Dieb- stal dem Beschädigten Ersatz leisten müsse, sich aber, wenn sie den Dieb fängt, an diesem schadlos halten und auſserdem die Hälfte der Diebstalsbuſse beanspruchen könne. Über verwandte Haftungsverhältnisse in schwedischen Rechten siehe Wilda, Strafrecht S. 217. Über die englische Friedensbürgschaft Waitz, VG I 458 ff. 10*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/165
Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/165>, abgerufen am 18.05.2024.