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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 81. Die Grafen.
des verstorbenen Inhabers durch. In den Akten des Reichstages, wel-
chen Karl II. 877 zu Kiersy abhielt, wird der Übergang der Graf-
schaft vom Vater auf den Sohn als Regel vorausgesetzt 69. Zur Aus-
bildung der rechtlichen Erblichkeit ist das Grafenamt erst in nach-
fränkischer Zeit durchgedrungen.

Die Macht der Grafen entwickelt sich während der fränkischen
Periode in merklich aufsteigender Linie. Es ist ein weiter Schritt
von dem grafio der Lex Salica, der es mit dem Leben büsst, wenn
er die verlangte Auspfändung unterlässt, von dem puer regis der Lex
Ribuaria, den die Huld des Königs zum Grafen erhob, von dem comes
der Zeiten Gregors von Tours, dessen Ungehorsam der König mit
Tod oder Verstümmelung bestraft, bis zu dem westfränkischen Grafen
der letzten Karolinger, der sich Dei gratia comes nennt, auf grossen
Grundbesitz und zahlreiche freie und unfreie Vassallen eine wohl-
begründete Hausmacht stützt und wie ein angestammter Häuptling
des Gaues die von den Vorfahren besessene Amtsgewalt erwirbt,
deren Verleihung der König füglich nicht verweigern kann, weil er
sich die mächtige Sippe nicht verfeinden darf und die Stimmung des
Gauvolkes, sowie das Standesgefühl der Amtsaristokratie schonen
muss. Offenbar ist die von den Karolingern durchgeführte Beseitigung
des Herzogtums schliesslich der Grafengewalt zu statten gekommen,
als die einschneidende Wirksamkeit, welche die Missi Karls des Grossen
ausgeübt hatten, unter Ludwig I. und seinen Nachfolgern erlahmte.

Um eine wirksame Verteidigung und Überwachung gefährdeter
Reichsgrenzen herzustellen, ergab sich nach Beseitigung des Herzogtums
die Notwendigkeit, hier eine grössere Macht in die Hand eines ein-
zelnen Grafen zu legen. Die zur Organisierung des Grenzschutzes
bestimmten Gebiete bildeten eine Mark in staatsrechtlichem Sinne
(marca, limes). Sie war ein den Feinden abgewonnenes, durch Burgen
geschütztes und mit Militärposten besetztes Vorland, in welchem die
ordentlichen Einrichtungen der fränkischen Verwaltung nicht durch-
geführt waren, und wurde daher nicht als ein eigentlicher Bestandteil,
sondern als ein Zubehör des Reiches angesehen. Die Mark war regel-
mässig dem Grafen eines benachbarten Grafschaftsgaues unterstellt.
Der Grund und Boden der Mark gilt in der folgenden Periode als
Eigentum des Königs, soweit dieser nicht zu Gunsten anderer dar-
über verfügt hat 70, ein Grundsatz, der schon in fränkischer Zeit be-

69 Pertz, LL I 537 ff. Capitula proposita c. 9. Adnuntiatio c. 3. Vgl.
Emile Bourgeois, Le Capitulaire de Kiersy-sur-Oise, 1885, S. 127.
70 Waitz, VG VII 88.

§ 81. Die Grafen.
des verstorbenen Inhabers durch. In den Akten des Reichstages, wel-
chen Karl II. 877 zu Kiersy abhielt, wird der Übergang der Graf-
schaft vom Vater auf den Sohn als Regel vorausgesetzt 69. Zur Aus-
bildung der rechtlichen Erblichkeit ist das Grafenamt erst in nach-
fränkischer Zeit durchgedrungen.

Die Macht der Grafen entwickelt sich während der fränkischen
Periode in merklich aufsteigender Linie. Es ist ein weiter Schritt
von dem grafio der Lex Salica, der es mit dem Leben büſst, wenn
er die verlangte Auspfändung unterläſst, von dem puer regis der Lex
Ribuaria, den die Huld des Königs zum Grafen erhob, von dem comes
der Zeiten Gregors von Tours, dessen Ungehorsam der König mit
Tod oder Verstümmelung bestraft, bis zu dem westfränkischen Grafen
der letzten Karolinger, der sich Dei gratia comes nennt, auf groſsen
Grundbesitz und zahlreiche freie und unfreie Vassallen eine wohl-
begründete Hausmacht stützt und wie ein angestammter Häuptling
des Gaues die von den Vorfahren besessene Amtsgewalt erwirbt,
deren Verleihung der König füglich nicht verweigern kann, weil er
sich die mächtige Sippe nicht verfeinden darf und die Stimmung des
Gauvolkes, sowie das Standesgefühl der Amtsaristokratie schonen
muſs. Offenbar ist die von den Karolingern durchgeführte Beseitigung
des Herzogtums schlieſslich der Grafengewalt zu statten gekommen,
als die einschneidende Wirksamkeit, welche die Missi Karls des Groſsen
ausgeübt hatten, unter Ludwig I. und seinen Nachfolgern erlahmte.

Um eine wirksame Verteidigung und Überwachung gefährdeter
Reichsgrenzen herzustellen, ergab sich nach Beseitigung des Herzogtums
die Notwendigkeit, hier eine gröſsere Macht in die Hand eines ein-
zelnen Grafen zu legen. Die zur Organisierung des Grenzschutzes
bestimmten Gebiete bildeten eine Mark in staatsrechtlichem Sinne
(marca, limes). Sie war ein den Feinden abgewonnenes, durch Burgen
geschütztes und mit Militärposten besetztes Vorland, in welchem die
ordentlichen Einrichtungen der fränkischen Verwaltung nicht durch-
geführt waren, und wurde daher nicht als ein eigentlicher Bestandteil,
sondern als ein Zubehör des Reiches angesehen. Die Mark war regel-
mäſsig dem Grafen eines benachbarten Grafschaftsgaues unterstellt.
Der Grund und Boden der Mark gilt in der folgenden Periode als
Eigentum des Königs, soweit dieser nicht zu Gunsten anderer dar-
über verfügt hat 70, ein Grundsatz, der schon in fränkischer Zeit be-

69 Pertz, LL I 537 ff. Capitula proposita c. 9. Adnuntiatio c. 3. Vgl.
Emile Bourgeois, Le Capitulaire de Kiersy-sur-Oise, 1885, S. 127.
70 Waitz, VG VII 88.
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[171/0189] § 81. Die Grafen. des verstorbenen Inhabers durch. In den Akten des Reichstages, wel- chen Karl II. 877 zu Kiersy abhielt, wird der Übergang der Graf- schaft vom Vater auf den Sohn als Regel vorausgesetzt 69. Zur Aus- bildung der rechtlichen Erblichkeit ist das Grafenamt erst in nach- fränkischer Zeit durchgedrungen. Die Macht der Grafen entwickelt sich während der fränkischen Periode in merklich aufsteigender Linie. Es ist ein weiter Schritt von dem grafio der Lex Salica, der es mit dem Leben büſst, wenn er die verlangte Auspfändung unterläſst, von dem puer regis der Lex Ribuaria, den die Huld des Königs zum Grafen erhob, von dem comes der Zeiten Gregors von Tours, dessen Ungehorsam der König mit Tod oder Verstümmelung bestraft, bis zu dem westfränkischen Grafen der letzten Karolinger, der sich Dei gratia comes nennt, auf groſsen Grundbesitz und zahlreiche freie und unfreie Vassallen eine wohl- begründete Hausmacht stützt und wie ein angestammter Häuptling des Gaues die von den Vorfahren besessene Amtsgewalt erwirbt, deren Verleihung der König füglich nicht verweigern kann, weil er sich die mächtige Sippe nicht verfeinden darf und die Stimmung des Gauvolkes, sowie das Standesgefühl der Amtsaristokratie schonen muſs. Offenbar ist die von den Karolingern durchgeführte Beseitigung des Herzogtums schlieſslich der Grafengewalt zu statten gekommen, als die einschneidende Wirksamkeit, welche die Missi Karls des Groſsen ausgeübt hatten, unter Ludwig I. und seinen Nachfolgern erlahmte. Um eine wirksame Verteidigung und Überwachung gefährdeter Reichsgrenzen herzustellen, ergab sich nach Beseitigung des Herzogtums die Notwendigkeit, hier eine gröſsere Macht in die Hand eines ein- zelnen Grafen zu legen. Die zur Organisierung des Grenzschutzes bestimmten Gebiete bildeten eine Mark in staatsrechtlichem Sinne (marca, limes). Sie war ein den Feinden abgewonnenes, durch Burgen geschütztes und mit Militärposten besetztes Vorland, in welchem die ordentlichen Einrichtungen der fränkischen Verwaltung nicht durch- geführt waren, und wurde daher nicht als ein eigentlicher Bestandteil, sondern als ein Zubehör des Reiches angesehen. Die Mark war regel- mäſsig dem Grafen eines benachbarten Grafschaftsgaues unterstellt. Der Grund und Boden der Mark gilt in der folgenden Periode als Eigentum des Königs, soweit dieser nicht zu Gunsten anderer dar- über verfügt hat 70, ein Grundsatz, der schon in fränkischer Zeit be- 69 Pertz, LL I 537 ff. Capitula proposita c. 9. Adnuntiatio c. 3. Vgl. Emile Bourgeois, Le Capitulaire de Kiersy-sur-Oise, 1885, S. 127. 70 Waitz, VG VII 88.

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/189>, abgerufen am 24.11.2024.