Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

Bild:
<< vorherige Seite

§ 94. Die Immunität.
nen Immunitätsbriefen sogar ausdrücklich vorbehalten wird36. Ausserdem
nennen die Kapitularien eine Anzahl bestimmter Fälle, in welchen die
Immunität dem amtlichen Einschreiten der öffentlichen Beamten aus-
nahmsweise nicht im Wege stehen soll37.

Die Immunität verwehrt dem öffentlichen Beamten, auf dem ge-
freiten Gebiete Gerichtstage abzuhalten, Friedensgelder zu erheben
und Bürgen zu nehmen. Er soll, so heisst es, das Gut nicht betreten
ad causas audiendas, ad freda exigenda, ad fideiussores tollendos38.
Sie verbietet ihm ferner die Geltendmachung öffentlicher Leistungen
(exactiones), in deren Aufzählung die Urkunden mehr oder minder
ausführlich sind39, wenn es nicht etwa schlechtweg heisst, dass es
nicht gestattet sei, ullas redhibitiones oder functiones publicas zu ver-
langen40.

Schliesslich wird den öffentlichen Beamten untersagt, gegen die
auf den gefreiten Gütern sesshaften Leute des Immunitätsherrn eine
amtliche Zwangsgewalt geltend zu machen (homines distringere). Das
Verbot der districtio schliesst jede unmittelbare Vorladung, die Zwangs-
vollstreckung und das richterliche Einlager aus.

Die Immunität befreit nicht von allen öffentlichen Leistungen.
Sie giebt nicht die Freiheit vom Brücken- und Wegebau41. Schon

36 Mühlbacher Nr. 95 v. J. 763: absque iussione nostra vel heredum
nostrorum .. non praesumat ingredere. Ebenso in der Formel Coll. Sangall. Sa-
lom. Nr. 3, die allerdings nicht als echtes Muster gelten darf (vgl. oben I 411).
Nach Cap. de villis c. 27 sind die königlichen Höfe von der Herbergepflicht frei,
nisi specialiter iussio nostra aut reginae fuerit.
37 Der öffentliche Beamte soll einschreiten non resistente emunitate, wenn
ein Verbrecher nicht ausgeliefert wird, wegen Verweigerung der nicht in der Im-
munität inbegriffenen Leistungen, wegen Justizverweigerung und Verzögerung; er
soll einschreiten gegen freie Leute, die ihr Gut, um sich öffentlichen Pflichten zu
entziehen, einer Kirche aufgetragen haben.
38 Der öffentliche Beamte kann Bürgen verlangen, wenn jemand sein Er-
scheinen vor Gericht oder die Zahlung verwirkter Friedensgelder und Bannbussen
sicherstellen soll. Er kann aber auch fideiussores in der oben S. 228, Anm. 11 an-
geführten Bedeutung zwangsweise ausheben.
39 Am häufigsten wird die Einquartierungslast genannt, mansiones vel para-
tas facere (siehe oben S. 231). Gelegentlich sind die tributa und inferendae,
paravereda und banni (seit karolingischer Zeit) erwähnt, ferner census, pontaticus,
rotaticus, telonea, die auf dem Immunitätsgebiete nicht erhoben werden dürfen.
Siehe die Beispiele bei Th. Sickel, Beiträge V 46 f.
40 Nach Fredegarii Cont. 41 verlangte Pippin von Waifar, dass die Güter
der fränkischen Kirchen in Aquitanien sub immunitatis nomine, sicut ab antea
fuerant, conservatas esse deberent et iudices hac exactores supra predictas res
ecclesiarum, quod a longo tempore factum non fuerat, mittere non deberet.
41 Die Ausnahme tritt am deutlichsten in Italien hervor, wo die Immunitäts-

§ 94. Die Immunität.
nen Immunitätsbriefen sogar ausdrücklich vorbehalten wird36. Auſserdem
nennen die Kapitularien eine Anzahl bestimmter Fälle, in welchen die
Immunität dem amtlichen Einschreiten der öffentlichen Beamten aus-
nahmsweise nicht im Wege stehen soll37.

Die Immunität verwehrt dem öffentlichen Beamten, auf dem ge-
freiten Gebiete Gerichtstage abzuhalten, Friedensgelder zu erheben
und Bürgen zu nehmen. Er soll, so heiſst es, das Gut nicht betreten
ad causas audiendas, ad freda exigenda, ad fideiussores tollendos38.
Sie verbietet ihm ferner die Geltendmachung öffentlicher Leistungen
(exactiones), in deren Aufzählung die Urkunden mehr oder minder
ausführlich sind39, wenn es nicht etwa schlechtweg heiſst, daſs es
nicht gestattet sei, ullas redhibitiones oder functiones publicas zu ver-
langen40.

Schlieſslich wird den öffentlichen Beamten untersagt, gegen die
auf den gefreiten Gütern seſshaften Leute des Immunitätsherrn eine
amtliche Zwangsgewalt geltend zu machen (homines distringere). Das
Verbot der districtio schlieſst jede unmittelbare Vorladung, die Zwangs-
vollstreckung und das richterliche Einlager aus.

Die Immunität befreit nicht von allen öffentlichen Leistungen.
Sie giebt nicht die Freiheit vom Brücken- und Wegebau41. Schon

36 Mühlbacher Nr. 95 v. J. 763: absque iussione nostra vel heredum
nostrorum .. non praesumat ingredere. Ebenso in der Formel Coll. Sangall. Sa-
lom. Nr. 3, die allerdings nicht als echtes Muster gelten darf (vgl. oben I 411).
Nach Cap. de villis c. 27 sind die königlichen Höfe von der Herbergepflicht frei,
nisi specialiter iussio nostra aut reginae fuerit.
37 Der öffentliche Beamte soll einschreiten non resistente emunitate, wenn
ein Verbrecher nicht ausgeliefert wird, wegen Verweigerung der nicht in der Im-
munität inbegriffenen Leistungen, wegen Justizverweigerung und Verzögerung; er
soll einschreiten gegen freie Leute, die ihr Gut, um sich öffentlichen Pflichten zu
entziehen, einer Kirche aufgetragen haben.
38 Der öffentliche Beamte kann Bürgen verlangen, wenn jemand sein Er-
scheinen vor Gericht oder die Zahlung verwirkter Friedensgelder und Bannbuſsen
sicherstellen soll. Er kann aber auch fideiussores in der oben S. 228, Anm. 11 an-
geführten Bedeutung zwangsweise ausheben.
39 Am häufigsten wird die Einquartierungslast genannt, mansiones vel para-
tas facere (siehe oben S. 231). Gelegentlich sind die tributa und inferendae,
paravereda und banni (seit karolingischer Zeit) erwähnt, ferner census, pontaticus,
rotaticus, telonea, die auf dem Immunitätsgebiete nicht erhoben werden dürfen.
Siehe die Beispiele bei Th. Sickel, Beiträge V 46 f.
40 Nach Fredegarii Cont. 41 verlangte Pippin von Waifar, daſs die Güter
der fränkischen Kirchen in Aquitanien sub immunitatis nomine, sicut ab antea
fuerant, conservatas esse deberent et iudices hac exactores supra predictas res
ecclesiarum, quod a longo tempore factum non fuerat, mittere non deberet.
41 Die Ausnahme tritt am deutlichsten in Italien hervor, wo die Immunitäts-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0312" n="294"/><fw place="top" type="header">§ 94. Die Immunität.</fw><lb/>
nen Immunitätsbriefen sogar ausdrücklich vorbehalten wird<note place="foot" n="36"><hi rendition="#g">Mühlbacher</hi> Nr. 95 v. J. 763: absque iussione nostra vel heredum<lb/>
nostrorum .. non praesumat ingredere. Ebenso in der Formel Coll. Sangall. Sa-<lb/>
lom. Nr. 3, die allerdings nicht als echtes Muster gelten darf (vgl. oben I 411).<lb/>
Nach Cap. de villis c. 27 sind die königlichen Höfe von der Herbergepflicht frei,<lb/>
nisi specialiter iussio nostra aut reginae fuerit.</note>. Au&#x017F;serdem<lb/>
nennen die Kapitularien eine Anzahl bestimmter Fälle, in welchen die<lb/>
Immunität dem amtlichen Einschreiten der öffentlichen Beamten aus-<lb/>
nahmsweise nicht im Wege stehen soll<note place="foot" n="37">Der öffentliche Beamte soll einschreiten non resistente emunitate, wenn<lb/>
ein Verbrecher nicht ausgeliefert wird, wegen Verweigerung der nicht in der Im-<lb/>
munität inbegriffenen Leistungen, wegen Justizverweigerung und Verzögerung; er<lb/>
soll einschreiten gegen freie Leute, die ihr Gut, um sich öffentlichen Pflichten zu<lb/>
entziehen, einer Kirche aufgetragen haben.</note>.</p><lb/>
            <p>Die Immunität verwehrt dem öffentlichen Beamten, auf dem ge-<lb/>
freiten Gebiete Gerichtstage abzuhalten, Friedensgelder zu erheben<lb/>
und Bürgen zu nehmen. Er soll, so hei&#x017F;st es, das Gut nicht betreten<lb/>
ad causas audiendas, ad freda exigenda, ad fideiussores tollendos<note place="foot" n="38">Der öffentliche Beamte kann Bürgen verlangen, wenn jemand sein Er-<lb/>
scheinen vor Gericht oder die Zahlung verwirkter Friedensgelder und Bannbu&#x017F;sen<lb/>
sicherstellen soll. Er kann aber auch fideiussores in der oben S. 228, Anm. 11 an-<lb/>
geführten Bedeutung zwangsweise ausheben.</note>.<lb/>
Sie verbietet ihm ferner die Geltendmachung öffentlicher Leistungen<lb/>
(exactiones), in deren Aufzählung die Urkunden mehr oder minder<lb/>
ausführlich sind<note place="foot" n="39">Am häufigsten wird die Einquartierungslast genannt, mansiones vel para-<lb/>
tas facere (siehe oben S. 231). Gelegentlich sind die tributa und inferendae,<lb/>
paravereda und banni (seit karolingischer Zeit) erwähnt, ferner census, pontaticus,<lb/>
rotaticus, telonea, die auf dem Immunitätsgebiete nicht erhoben werden dürfen.<lb/>
Siehe die Beispiele bei <hi rendition="#g">Th. Sickel</hi>, Beiträge V 46 f.</note>, wenn es nicht etwa schlechtweg hei&#x017F;st, da&#x017F;s es<lb/>
nicht gestattet sei, ullas redhibitiones oder functiones publicas zu ver-<lb/>
langen<note place="foot" n="40">Nach Fredegarii Cont. 41 verlangte Pippin von Waifar, da&#x017F;s die Güter<lb/>
der fränkischen Kirchen in Aquitanien sub immunitatis nomine, sicut ab antea<lb/>
fuerant, conservatas esse deberent et iudices hac exactores supra predictas res<lb/>
ecclesiarum, quod a longo tempore factum non fuerat, mittere non deberet.</note>.</p><lb/>
            <p>Schlie&#x017F;slich wird den öffentlichen Beamten untersagt, gegen die<lb/>
auf den gefreiten Gütern se&#x017F;shaften Leute des Immunitätsherrn eine<lb/>
amtliche Zwangsgewalt geltend zu machen (homines distringere). Das<lb/>
Verbot der districtio schlie&#x017F;st jede unmittelbare Vorladung, die Zwangs-<lb/>
vollstreckung und das richterliche Einlager aus.</p><lb/>
            <p>Die Immunität befreit nicht von allen öffentlichen Leistungen.<lb/>
Sie giebt nicht die Freiheit vom Brücken- und Wegebau<note xml:id="seg2pn_75_1" next="#seg2pn_75_2" place="foot" n="41">Die Ausnahme tritt am deutlichsten in Italien hervor, wo die Immunitäts-</note>. Schon<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[294/0312] § 94. Die Immunität. nen Immunitätsbriefen sogar ausdrücklich vorbehalten wird 36. Auſserdem nennen die Kapitularien eine Anzahl bestimmter Fälle, in welchen die Immunität dem amtlichen Einschreiten der öffentlichen Beamten aus- nahmsweise nicht im Wege stehen soll 37. Die Immunität verwehrt dem öffentlichen Beamten, auf dem ge- freiten Gebiete Gerichtstage abzuhalten, Friedensgelder zu erheben und Bürgen zu nehmen. Er soll, so heiſst es, das Gut nicht betreten ad causas audiendas, ad freda exigenda, ad fideiussores tollendos 38. Sie verbietet ihm ferner die Geltendmachung öffentlicher Leistungen (exactiones), in deren Aufzählung die Urkunden mehr oder minder ausführlich sind 39, wenn es nicht etwa schlechtweg heiſst, daſs es nicht gestattet sei, ullas redhibitiones oder functiones publicas zu ver- langen 40. Schlieſslich wird den öffentlichen Beamten untersagt, gegen die auf den gefreiten Gütern seſshaften Leute des Immunitätsherrn eine amtliche Zwangsgewalt geltend zu machen (homines distringere). Das Verbot der districtio schlieſst jede unmittelbare Vorladung, die Zwangs- vollstreckung und das richterliche Einlager aus. Die Immunität befreit nicht von allen öffentlichen Leistungen. Sie giebt nicht die Freiheit vom Brücken- und Wegebau 41. Schon 36 Mühlbacher Nr. 95 v. J. 763: absque iussione nostra vel heredum nostrorum .. non praesumat ingredere. Ebenso in der Formel Coll. Sangall. Sa- lom. Nr. 3, die allerdings nicht als echtes Muster gelten darf (vgl. oben I 411). Nach Cap. de villis c. 27 sind die königlichen Höfe von der Herbergepflicht frei, nisi specialiter iussio nostra aut reginae fuerit. 37 Der öffentliche Beamte soll einschreiten non resistente emunitate, wenn ein Verbrecher nicht ausgeliefert wird, wegen Verweigerung der nicht in der Im- munität inbegriffenen Leistungen, wegen Justizverweigerung und Verzögerung; er soll einschreiten gegen freie Leute, die ihr Gut, um sich öffentlichen Pflichten zu entziehen, einer Kirche aufgetragen haben. 38 Der öffentliche Beamte kann Bürgen verlangen, wenn jemand sein Er- scheinen vor Gericht oder die Zahlung verwirkter Friedensgelder und Bannbuſsen sicherstellen soll. Er kann aber auch fideiussores in der oben S. 228, Anm. 11 an- geführten Bedeutung zwangsweise ausheben. 39 Am häufigsten wird die Einquartierungslast genannt, mansiones vel para- tas facere (siehe oben S. 231). Gelegentlich sind die tributa und inferendae, paravereda und banni (seit karolingischer Zeit) erwähnt, ferner census, pontaticus, rotaticus, telonea, die auf dem Immunitätsgebiete nicht erhoben werden dürfen. Siehe die Beispiele bei Th. Sickel, Beiträge V 46 f. 40 Nach Fredegarii Cont. 41 verlangte Pippin von Waifar, daſs die Güter der fränkischen Kirchen in Aquitanien sub immunitatis nomine, sicut ab antea fuerant, conservatas esse deberent et iudices hac exactores supra predictas res ecclesiarum, quod a longo tempore factum non fuerat, mittere non deberet. 41 Die Ausnahme tritt am deutlichsten in Italien hervor, wo die Immunitäts-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/312
Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/312>, abgerufen am 22.11.2024.