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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 103. Die allgemeinen Grundsätze, insbesondere die Beweisrolle.

Die Beweisrolle fällt im Allgemeinen dem Beklagten zu. Diese
Regel erleidet in gewissen Fällen eine Ausnahme mit Rücksicht auf die
Lage der Wahrscheinlichkeit und bei gegnerischem Angebot stärkerer
Beweismittel. Abgesehen davon, hat der Beklagte das Recht und die
Pflicht, sich von dem in der Klage erhobenen Vorwurfe zu reinigen.
Einzelne Rechtsquellen, so die der Langobarden, der Burgunder, der
Angelsachsen, heben den Grundsatz, dass der Beklagte näher zum Be-
weise sei, ausdrücklich hervor 1. Lassen andere Volksrechte eine
entsprechende Formulierung vermissen, so ergiebt sich doch das ihrem Be-
weisrechte zu Grunde liegende Prinzip aus der typischen Fassung der
einzelnen Rechtssätze, wie sie der Lex Ribuaria, dem Pactus Alaman-
norum, dem sächsischen, dem friesischen und dem anglowarnischen
Volksrechte eigentümlich ist. So heisst es z. B. in Lex Rib. 7 von
dem, der einen freien Ribuarier getödtet hat: 200 solidos culpabilis
iudicetur; aut si negaverit, cum 12 iuret 2. Häufig lässt die Satzung
das 'si negaverit' als selbstverständliche Voraussetzung des Unschulds-
beweises hinweg, so dass der Rechtssatz nach dem Schema: si quis ...
fecerit, culpabilis iudicetur aut .. iuret, abgefasst ist 3. Diese an sich
unlogische und auffallende Ausdrucksweise ging aus dem Bestreben
hervor, die Satzung dem Urteile anzupassen, das als ein zwei-
züngiges die Rechtsfrage und die Beweisfrage gleichzeitig entschied,
nach Art der Formel iuret aut componat 4.

Von der Verteilung der Beweisrolle, wie sie die meisten deutschen
Volksrechte deutlich erkennen lassen und wie sie uns in zahlreichen

1 Rothari 364: si pro quacumque culpa homo pulsatus fuerit ab alio et ne-
gaverit, liceat eum se eduniare secundum legem et qualitatem causae. Lex Burg.
45: quotiens is, qui pulsatus fuerit, non deberi a se, quod requiritur, aut non
factum, quod obiicitur, sacramentorum obligatione negaverit, .. litigio eorum finem
oportebit inponi .. Aethelred II 9, § 3: fortham a bid andsaec sweidere thonne onsagu
(quia semper est negatio fortior quam affirmatio). Dasselbe Princip folgt aus Hlothar
u. Eadric c. 10, wo es heisst, dass der Beklagte binnen sieben Nächten nach dem
Erkenntnis dem Kläger sein Recht thun solle, geschehe es in Gut oder in Eid,
was jenem lieber ist.
2 Vgl. z. B. noch Lex Fris. I 1 ff.
3 Z. B. Lex Rib. 9. In dem zweiten Bestandteile der Lex Ribuaria, dem, der
systematisch der Lex Salica nachgebildet ist, findet sich jene Fassung der Rechts-
sätze nur sehr vereinzelt (z. B. in 47, 3). Der Pactus Alam. sagt solvat aut iuret.
Lex Sax., Fris. und Angl. et Werin. sind, wie oben ausgeführt wurde, unter dem
Einfluss der Lex Rib. entstanden.
4 Die Fassung der Lex Rib. und des Pactus Alam. findet sich gelegentlich
auch in der Lex Alam. und in der Lex Baiuw. (z. B. I 3). Fremd ist sie dem
Edictus Langobardorum, weil das langobardische Recht das zweizüngige Urteil ent-
behrt, fremd ist sie den Leges, die älter sind als die Lex Ribuaria.
§ 103. Die allgemeinen Grundsätze, insbesondere die Beweisrolle.

Die Beweisrolle fällt im Allgemeinen dem Beklagten zu. Diese
Regel erleidet in gewissen Fällen eine Ausnahme mit Rücksicht auf die
Lage der Wahrscheinlichkeit und bei gegnerischem Angebot stärkerer
Beweismittel. Abgesehen davon, hat der Beklagte das Recht und die
Pflicht, sich von dem in der Klage erhobenen Vorwurfe zu reinigen.
Einzelne Rechtsquellen, so die der Langobarden, der Burgunder, der
Angelsachsen, heben den Grundsatz, daſs der Beklagte näher zum Be-
weise sei, ausdrücklich hervor 1. Lassen andere Volksrechte eine
entsprechende Formulierung vermissen, so ergiebt sich doch das ihrem Be-
weisrechte zu Grunde liegende Prinzip aus der typischen Fassung der
einzelnen Rechtssätze, wie sie der Lex Ribuaria, dem Pactus Alaman-
norum, dem sächsischen, dem friesischen und dem anglowarnischen
Volksrechte eigentümlich ist. So heiſst es z. B. in Lex Rib. 7 von
dem, der einen freien Ribuarier getödtet hat: 200 solidos culpabilis
iudicetur; aut si negaverit, cum 12 iuret 2. Häufig läſst die Satzung
das ‘si negaverit’ als selbstverständliche Voraussetzung des Unschulds-
beweises hinweg, so daſs der Rechtssatz nach dem Schema: si quis …
fecerit, culpabilis iudicetur aut .. iuret, abgefaſst ist 3. Diese an sich
unlogische und auffallende Ausdrucksweise ging aus dem Bestreben
hervor, die Satzung dem Urteile anzupassen, das als ein zwei-
züngiges die Rechtsfrage und die Beweisfrage gleichzeitig entschied,
nach Art der Formel iuret aut componat 4.

Von der Verteilung der Beweisrolle, wie sie die meisten deutschen
Volksrechte deutlich erkennen lassen und wie sie uns in zahlreichen

1 Rothari 364: si pro quacumque culpa homo pulsatus fuerit ab alio et ne-
gaverit, liceat eum se eduniare secundum legem et qualitatem causae. Lex Burg.
45: quotiens is, qui pulsatus fuerit, non deberi a se, quod requiritur, aut non
factum, quod obiicitur, sacramentorum obligatione negaverit, .. litigio eorum finem
oportebit inponi .. Aethelred II 9, § 3: forþâm â biđ andsæc swîđere þonne onsagu
(quia semper est negatio fortior quam affirmatio). Dasselbe Princip folgt aus Hlothar
u. Eadric c. 10, wo es heiſst, daſs der Beklagte binnen sieben Nächten nach dem
Erkenntnis dem Kläger sein Recht thun solle, geschehe es in Gut oder in Eid,
was jenem lieber ist.
2 Vgl. z. B. noch Lex Fris. I 1 ff.
3 Z. B. Lex Rib. 9. In dem zweiten Bestandteile der Lex Ribuaria, dem, der
systematisch der Lex Salica nachgebildet ist, findet sich jene Fassung der Rechts-
sätze nur sehr vereinzelt (z. B. in 47, 3). Der Pactus Alam. sagt solvat aut iuret.
Lex Sax., Fris. und Angl. et Werin. sind, wie oben ausgeführt wurde, unter dem
Einfluſs der Lex Rib. entstanden.
4 Die Fassung der Lex Rib. und des Pactus Alam. findet sich gelegentlich
auch in der Lex Alam. und in der Lex Baiuw. (z. B. I 3). Fremd ist sie dem
Edictus Langobardorum, weil das langobardische Recht das zweizüngige Urteil ent-
behrt, fremd ist sie den Leges, die älter sind als die Lex Ribuaria.
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[370/0388] § 103. Die allgemeinen Grundsätze, insbesondere die Beweisrolle. Die Beweisrolle fällt im Allgemeinen dem Beklagten zu. Diese Regel erleidet in gewissen Fällen eine Ausnahme mit Rücksicht auf die Lage der Wahrscheinlichkeit und bei gegnerischem Angebot stärkerer Beweismittel. Abgesehen davon, hat der Beklagte das Recht und die Pflicht, sich von dem in der Klage erhobenen Vorwurfe zu reinigen. Einzelne Rechtsquellen, so die der Langobarden, der Burgunder, der Angelsachsen, heben den Grundsatz, daſs der Beklagte näher zum Be- weise sei, ausdrücklich hervor 1. Lassen andere Volksrechte eine entsprechende Formulierung vermissen, so ergiebt sich doch das ihrem Be- weisrechte zu Grunde liegende Prinzip aus der typischen Fassung der einzelnen Rechtssätze, wie sie der Lex Ribuaria, dem Pactus Alaman- norum, dem sächsischen, dem friesischen und dem anglowarnischen Volksrechte eigentümlich ist. So heiſst es z. B. in Lex Rib. 7 von dem, der einen freien Ribuarier getödtet hat: 200 solidos culpabilis iudicetur; aut si negaverit, cum 12 iuret 2. Häufig läſst die Satzung das ‘si negaverit’ als selbstverständliche Voraussetzung des Unschulds- beweises hinweg, so daſs der Rechtssatz nach dem Schema: si quis … fecerit, culpabilis iudicetur aut .. iuret, abgefaſst ist 3. Diese an sich unlogische und auffallende Ausdrucksweise ging aus dem Bestreben hervor, die Satzung dem Urteile anzupassen, das als ein zwei- züngiges die Rechtsfrage und die Beweisfrage gleichzeitig entschied, nach Art der Formel iuret aut componat 4. Von der Verteilung der Beweisrolle, wie sie die meisten deutschen Volksrechte deutlich erkennen lassen und wie sie uns in zahlreichen 1 Rothari 364: si pro quacumque culpa homo pulsatus fuerit ab alio et ne- gaverit, liceat eum se eduniare secundum legem et qualitatem causae. Lex Burg. 45: quotiens is, qui pulsatus fuerit, non deberi a se, quod requiritur, aut non factum, quod obiicitur, sacramentorum obligatione negaverit, .. litigio eorum finem oportebit inponi .. Aethelred II 9, § 3: forþâm â biđ andsæc swîđere þonne onsagu (quia semper est negatio fortior quam affirmatio). Dasselbe Princip folgt aus Hlothar u. Eadric c. 10, wo es heiſst, daſs der Beklagte binnen sieben Nächten nach dem Erkenntnis dem Kläger sein Recht thun solle, geschehe es in Gut oder in Eid, was jenem lieber ist. 2 Vgl. z. B. noch Lex Fris. I 1 ff. 3 Z. B. Lex Rib. 9. In dem zweiten Bestandteile der Lex Ribuaria, dem, der systematisch der Lex Salica nachgebildet ist, findet sich jene Fassung der Rechts- sätze nur sehr vereinzelt (z. B. in 47, 3). Der Pactus Alam. sagt solvat aut iuret. Lex Sax., Fris. und Angl. et Werin. sind, wie oben ausgeführt wurde, unter dem Einfluſs der Lex Rib. entstanden. 4 Die Fassung der Lex Rib. und des Pactus Alam. findet sich gelegentlich auch in der Lex Alam. und in der Lex Baiuw. (z. B. I 3). Fremd ist sie dem Edictus Langobardorum, weil das langobardische Recht das zweizüngige Urteil ent- behrt, fremd ist sie den Leges, die älter sind als die Lex Ribuaria.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 370. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/388>, abgerufen am 16.06.2024.