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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 106. Die Gottesurteile.
denen der Herr befahl, sich einem Ordal zu unterziehen. Ja, man
griff zum Ordal, ohne dass ein Rechtsstreit dazu den Anlass gab, um
sich oder die öffentliche Meinung von der Güte eines Rechtsanspruchs
zu überzeugen 21, die Wahrheit einer angezweifelten oder dem Zweifel
ausgesetzten Thatsache ausser Zweifel zu stellen 22, um die Aufrichtig-
keit einer Behauptung oder eines Versprechens zu bekräftigen.
Auf solch ausseramtliches Fortleben scheinbar verschwundener Or-
dalien lässt uns die Thatsache zurückschliessen, dass uns Gottes-
urteile, welchen die vergleichende Rechtsgeschichte hohes Altertum
beimisst, in unseren Rechtsquellen verhältnismässig spät begegnen; so
das Ordal des geweihten Bissens, so insbesondere das Bahrrecht, das
erst in einer Rechtsquelle des vierzehnten Jahrhunderts als ein vor
Gericht angewendetes Ordal erscheint 23. Bei den Westgoten sind
Kesselfang und Zweikampf trotz der Lex Reccessuinthiana in ausser-
gerichtlichem Gebrauche geblieben; denn ihr nachmaliges überraschendes
Auftreten lässt sich nicht durch Entlehnung von auswärts erklären.
Verschiedene Ordalien, über welche die Rechtsquellen sich ausschweigen,
insbesondere der Probebissen 24, scheinen als Sklavenproben in Privat-
gebrauch gewesen zu sein. Das Verfahren gegen Knechte war mei-
stens eine interne Angelegenheit des Herrn, nach manchen Rechten
dann, wenn nicht eine rechtsförmliche Klage eines Dritten vorlag, nach
anderen auch bei Klagen Dritter. Um sich zu vergewissern, ob der Knecht
schuldig sei, mochte ihn der Herr einem Ordal unterwerfen oder dem
verletzten Dritten anheimstellen, dass er die Probe vornehme. Nur
durch einen Zufall erfahren wir aus einem Gesetze Liutprands, dass
der Kesselfang bei den Langobarden ein Beweismittel war, welches

21 So in Annales Bertiniani z. J. 876 rec. Waitz S. 132. Siehe unten
S. 411, Anm. 61.
22 In der Vita S. Marci, MG SS IV 450, lässt sich ein Bischof die Echtheit
der überbrachten angeblichen Reliquien des heiligen Marcus durch Ordal be-
kräftigen: non ante accepit illud (corpus) episcopus, quam tribus confirmavit testi-
moniis, hoc est sub testatione iuramenti et iudicio ferventis aquae et calidi ferri.
23 Schon seit dem zwölften Jahrhundert in der schönen Litteratur; so bei
Chrestien von Troyes, auf den Grimm, RA S. 930, in einem handschriftlichen
Nachtrage verweist. Über noch älteres Vorkommen in Schottland Patetta a. O.
S. 197.
24 In einer der Scholien zu Horaz, die unter dem Namen Acron laufen (citiert
bei Patetta S. 140), findet sich folgender Passus: cum in servis suspicio furti
habetur, ducuntur ad sacerdotem, qui crustum panis carmine infectum (beschworen)
dat singulis. Quod cum haeserit (ori), manifestum furti reum adserit. Die Stelle
ist handschriftlich für das elfte Jahrhundert (Cod. Paris. 7975) beglaubigt, jeden-
falls unrömisch und geht über die fränkische Zeit, ja wohl über das achte Jahr-
hundert nicht hinauf.

§ 106. Die Gottesurteile.
denen der Herr befahl, sich einem Ordal zu unterziehen. Ja, man
griff zum Ordal, ohne daſs ein Rechtsstreit dazu den Anlaſs gab, um
sich oder die öffentliche Meinung von der Güte eines Rechtsanspruchs
zu überzeugen 21, die Wahrheit einer angezweifelten oder dem Zweifel
ausgesetzten Thatsache auſser Zweifel zu stellen 22, um die Aufrichtig-
keit einer Behauptung oder eines Versprechens zu bekräftigen.
Auf solch auſseramtliches Fortleben scheinbar verschwundener Or-
dalien läſst uns die Thatsache zurückschlieſsen, daſs uns Gottes-
urteile, welchen die vergleichende Rechtsgeschichte hohes Altertum
beimiſst, in unseren Rechtsquellen verhältnismäſsig spät begegnen; so
das Ordal des geweihten Bissens, so insbesondere das Bahrrecht, das
erst in einer Rechtsquelle des vierzehnten Jahrhunderts als ein vor
Gericht angewendetes Ordal erscheint 23. Bei den Westgoten sind
Kesselfang und Zweikampf trotz der Lex Reccessuinthiana in auſser-
gerichtlichem Gebrauche geblieben; denn ihr nachmaliges überraschendes
Auftreten läſst sich nicht durch Entlehnung von auswärts erklären.
Verschiedene Ordalien, über welche die Rechtsquellen sich ausschweigen,
insbesondere der Probebissen 24, scheinen als Sklavenproben in Privat-
gebrauch gewesen zu sein. Das Verfahren gegen Knechte war mei-
stens eine interne Angelegenheit des Herrn, nach manchen Rechten
dann, wenn nicht eine rechtsförmliche Klage eines Dritten vorlag, nach
anderen auch bei Klagen Dritter. Um sich zu vergewissern, ob der Knecht
schuldig sei, mochte ihn der Herr einem Ordal unterwerfen oder dem
verletzten Dritten anheimstellen, daſs er die Probe vornehme. Nur
durch einen Zufall erfahren wir aus einem Gesetze Liutprands, daſs
der Kesselfang bei den Langobarden ein Beweismittel war, welches

21 So in Annales Bertiniani z. J. 876 rec. Waitz S. 132. Siehe unten
S. 411, Anm. 61.
22 In der Vita S. Marci, MG SS IV 450, läſst sich ein Bischof die Echtheit
der überbrachten angeblichen Reliquien des heiligen Marcus durch Ordal be-
kräftigen: non ante accepit illud (corpus) episcopus, quam tribus confirmavit testi-
moniis, hoc est sub testatione iuramenti et iudicio ferventis aquae et calidi ferri.
23 Schon seit dem zwölften Jahrhundert in der schönen Litteratur; so bei
Chrestien von Troyes, auf den Grimm, RA S. 930, in einem handschriftlichen
Nachtrage verweist. Über noch älteres Vorkommen in Schottland Patetta a. O.
S. 197.
24 In einer der Scholien zu Horaz, die unter dem Namen Acron laufen (citiert
bei Patetta S. 140), findet sich folgender Passus: cum in servis suspicio furti
habetur, ducuntur ad sacerdotem, qui crustum panis carmine infectum (beschworen)
dat singulis. Quod cum haeserit (ori), manifestum furti reum adserit. Die Stelle
ist handschriftlich für das elfte Jahrhundert (Cod. Paris. 7975) beglaubigt, jeden-
falls unrömisch und geht über die fränkische Zeit, ja wohl über das achte Jahr-
hundert nicht hinauf.
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[405/0423] § 106. Die Gottesurteile. denen der Herr befahl, sich einem Ordal zu unterziehen. Ja, man griff zum Ordal, ohne daſs ein Rechtsstreit dazu den Anlaſs gab, um sich oder die öffentliche Meinung von der Güte eines Rechtsanspruchs zu überzeugen 21, die Wahrheit einer angezweifelten oder dem Zweifel ausgesetzten Thatsache auſser Zweifel zu stellen 22, um die Aufrichtig- keit einer Behauptung oder eines Versprechens zu bekräftigen. Auf solch auſseramtliches Fortleben scheinbar verschwundener Or- dalien läſst uns die Thatsache zurückschlieſsen, daſs uns Gottes- urteile, welchen die vergleichende Rechtsgeschichte hohes Altertum beimiſst, in unseren Rechtsquellen verhältnismäſsig spät begegnen; so das Ordal des geweihten Bissens, so insbesondere das Bahrrecht, das erst in einer Rechtsquelle des vierzehnten Jahrhunderts als ein vor Gericht angewendetes Ordal erscheint 23. Bei den Westgoten sind Kesselfang und Zweikampf trotz der Lex Reccessuinthiana in auſser- gerichtlichem Gebrauche geblieben; denn ihr nachmaliges überraschendes Auftreten läſst sich nicht durch Entlehnung von auswärts erklären. Verschiedene Ordalien, über welche die Rechtsquellen sich ausschweigen, insbesondere der Probebissen 24, scheinen als Sklavenproben in Privat- gebrauch gewesen zu sein. Das Verfahren gegen Knechte war mei- stens eine interne Angelegenheit des Herrn, nach manchen Rechten dann, wenn nicht eine rechtsförmliche Klage eines Dritten vorlag, nach anderen auch bei Klagen Dritter. Um sich zu vergewissern, ob der Knecht schuldig sei, mochte ihn der Herr einem Ordal unterwerfen oder dem verletzten Dritten anheimstellen, daſs er die Probe vornehme. Nur durch einen Zufall erfahren wir aus einem Gesetze Liutprands, daſs der Kesselfang bei den Langobarden ein Beweismittel war, welches 21 So in Annales Bertiniani z. J. 876 rec. Waitz S. 132. Siehe unten S. 411, Anm. 61. 22 In der Vita S. Marci, MG SS IV 450, läſst sich ein Bischof die Echtheit der überbrachten angeblichen Reliquien des heiligen Marcus durch Ordal be- kräftigen: non ante accepit illud (corpus) episcopus, quam tribus confirmavit testi- moniis, hoc est sub testatione iuramenti et iudicio ferventis aquae et calidi ferri. 23 Schon seit dem zwölften Jahrhundert in der schönen Litteratur; so bei Chrestien von Troyes, auf den Grimm, RA S. 930, in einem handschriftlichen Nachtrage verweist. Über noch älteres Vorkommen in Schottland Patetta a. O. S. 197. 24 In einer der Scholien zu Horaz, die unter dem Namen Acron laufen (citiert bei Patetta S. 140), findet sich folgender Passus: cum in servis suspicio furti habetur, ducuntur ad sacerdotem, qui crustum panis carmine infectum (beschworen) dat singulis. Quod cum haeserit (ori), manifestum furti reum adserit. Die Stelle ist handschriftlich für das elfte Jahrhundert (Cod. Paris. 7975) beglaubigt, jeden- falls unrömisch und geht über die fränkische Zeit, ja wohl über das achte Jahr- hundert nicht hinauf.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 405. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/423>, abgerufen am 22.11.2024.